Eigentlich hätten sie es alle wissen können. Jene Leute, die jetzt vom "bisher größten Schock" des Afrika-Cup 2019 sprechen. Die Journalisten des kenianischen Senders NTV zum Beispiel, die angesichts des Viertelfinaleinzugs von Madagaskar derartige Dimensionen bemühten. Sie hätten es zumindest ahnen können.
"Freunde, unterschätzt mir Madagaskar nicht", hatte nämlich ein gewisser Nicolas Dupuis schon kurz vor Beginn des Kontinentalturniers in einem Gespräch mit France Football vor der Nummer 108 der FIFA-Weltrangliste gewarnt. Dupuis ist seit 2017 Trainer der madagassischen Nationalmannschaft. Ein Trainer ohne große fußballerische Referenzen im Lebenslauf.
Selbst hat der Franzose nie höher als in der vierten Liga gespielt und auch als Trainer war die französische Amateurliga das höchste der Gefühle. Dort ist er immer noch als Trainer tätig, beim Viertligisten FC Fleury - er muss das machen, weil das Geld, das er vom madagassischen Fußballverband erhält, nicht zum Leben reicht.
Doch Dupuis wusste schon damals ganz genau, warum er sich vor der ersten Teilnahme Madagaskars an einem großen Turnier seit der Gründung der Fußball-Nationalmannschaft 1947 so optimistisch gab. "Ich habe ein Team von Guten und ich habe keinen Star, das ist der Vorteil", sagte er. So richtig ernst genommen hatte Madagaskar aber trotzdem niemand. Warum auch?
Madakaskar: "Keine Mittel, keine Prämien, nichts"
Zwar ist Fußball im viertgrößten Inselstaat der Welt bei weitem kein unpopulärer Sport, eine eigene Profiliga gibt es dort jedoch nicht. "Von Nachwuchsleistungszentren, digitalen Analysetools, Scouting oder Trainingssteuerung ist man Lichtjahre entfernt", sagt auch der frühere madagassische Nationalspieler Tony Mamodaly, ein gebürtiger Deutscher, der WAZ. Die Armut ist allgegenwärtig, Gelder gibt es keine - auch nicht für den Fußball. "Wir haben keine Mittel, keine Prämien, nichts", sagt Kapitän Faneva Andriatsima.
Zwar zahlte die FIFA im Förderprogramm "Forward" von 2013 bis 2016 umgerechnet 1,8 Millionen Euro an den Landesverband FMF. Doch hätte Präsident Andry Rajoelina nicht umgerechnet 170.000 Euro für die Unterkunft in Ägypten gestiftet, hätte die Nationalmannschaft aus Geldnot womöglich gar nicht zum Afrika-Cup reisen können.
Die Entscheidung, die Gelder bereitzustellen, dürfte Rajoelina nicht bereut haben. "Barea" - so wird die madagassische Nationalmannschaft genannt, weil das Konterfei der gleichnamigen Rindvieh-Spezies das Siegel Madagaskars ziert - gelang in Ägypten ein nicht für möglich gehaltener Triumphzug.
Mit geringsten Mitteln, unbekannten und teils unaussprechlichen Spielern wie Andrianantenaina und Andriamahitsinoro schlug Madagaskar Burundi (1:0), Topfavorit Nigeria (2:0) und schaltete im Achtelfinale die Demokratische Republik Kongo (6:4 n.E.) aus. Das kleine Rindvieh aus dem indischen Ozean macht Mist - zum Leidwesen des afrikanischen Fußball-Establishments.
Verbandsauflösung und FIFA-Bann: Madagaskar erleidet "Todesstoß"
"Es ist einfach dieser unbedingte Wille, das madagassische Volk stolz zu machen. Sie brauchen das", sagt Dupuis, wenn es um die Gründe für diesen überraschenden Erfolg in Ägypten geht. Stolz, Disziplin, Ehrgeiz, Teamspirit. Begriffe, die noch vor elf Jahren wenig mit dem madagassischen Fußballverband zu tun hatten.
Teilnahmen an Qualifikationsrunden wurden zurückgezogen, manchmal trat Madagaskar gar nicht erst an. Die Strukturprobleme mündeten sogar in die kurzzeitige Auflösung des Fußballverbandes durch den damaligen Sportminister Patrick Ramiaramanana. Der Grund: Wegen der Absage eines Spiels der afrikanischen Champions League zwischen Ajesaia und Costa Do Sol (Mosambik) verwüsteten hunderte Fans das Stade Municipal de Mahamasina in der Hauptstadt Antananarivo.
Weil Ramiaramanana alle Warnungen seitens der FIFA in den Wind schlug, die Auflösung unverzüglich zurückzunehmen, schloss der Weltverband den kleinen Inselstaat aus. Die abgesetzten Vorstandsmitglieder des madagassischen Verbandes sprachen von einem "Todesstoß für den madagassischen Fußball". Auch wegen dieses dunklen Kapitels der jüngeren Vergangenheit betont Jean-François Debon, technischer Leiter beim Verband, dass der jetzige Erfolg nicht über Nacht gekommen sei.
Madagaskar beim Afrika-Cup: "Das lässt sich nur schwer aufhalten"
Die Mannschaft sei "Stück für Stück geformt und zusammengeschweißt" worden, sagt Debon. Und trifft damit den Nagel auf den Kopf. "Barea" besteht aus vielen französischen Legionären wie beispielsweise Jeremy Morel von Olympique Lyon. Der 35-jährige, in Frankreich geborene Innenverteidiger debütierte erst im vergangenen Jahr für Madagaskar.
Und obwohl Morel, der über 360 Ligue-1-Spiele und 24 Champions-League-Partien auf dem Buckel hat, im Verlauf des Turniers kaum zum Einsatz kam, ist er einer der Schlüsselfaktoren im Team. Ein Team, das auch durch viele Einbürgerungen an Qualität gewonnen hat. Bis 1960 war Madagaskar noch französische Kolonie, daher haben viele in Frankreich aktive Profis madagassische Wurzeln.
Ein paar Spieler verdienen in Saudi Arabien ihr Geld, einige in der ersten belgischen Liga, Romain Metanire hat es nach langen Jahren beim FC Metz und Stade Reims sogar in die MLS zu Minnesota United verschlagen. Eine Ansammlung von Amateuren ist Madagaskar daher nicht, aber das Team hat eben auch keine Überflieger, dafür aber ein Ablaufdatum. Die Mannschaft ist im Schnitt 29,2 Jahre alt und der Afrika-Cup in diesem Jahr wohl ihr Höhepunkt.
Dafür gesorgt hat ein Trainer, der die Mannschaft begeistern kann. Die Spieler würden Dupuis geradezu an den Lippen hängen, sagt Debon. Es herrsche ein "perfektes Maß" an Solidarität: "Wenn in einem Team alles funktioniert, lässt es sich nur schwer wieder aufhalten."
Der nächste Gegner, der das versuchen wird, ist Tunesien - ein Schwergewicht des afrikanischen Fußballs. Und selbst wenn das Märchen von Madagaskar beim Afrika-Cup an diesem Donnerstag endet, steht für Trainer Dupuis fest: "Wir haben unseren ganz eigenen Afrika-Cup längst gewonnen."
Afrika-Cup 2019: Spielplan von Madagaskar
Runde | Gegner | Ergebnis |
Gruppenphase | Guinea | 2:2 |
Gruppenphase | Burundi | 1:0 |
Gruppenphase | Nigeria | 2:0 |
Achtelfinale | DR Kongo | 6:4 n.E. |