Fast wären sie schon vor dem Treffer aneinandergeraten. Als Hakan Calhanoglu in der 81. Minute seinen Freistoß in den französischen Strafraum schickt, hat sich Merih Demiral einen Platz am Ende des Pulks gesucht. Der Ball kommt scharf an den zweiten Pfosten, Demiral ist schneller als Bayern Münchens Benjamin Pavard und will den Ball direkt nehmen, doch dann zieht er zurück. Vor ihm kommt Ayhan herangeflogen, hat die deutlich bessere Position und erzielt mit einem platzierten Kopfball ins kurze Eck den 1:1-Ausgleich.
Demiral ist also aus gutem Grund der erste Teamkollege, der mit Ayhan über den enorm großen Schritt in Richtung EM-Qualifikation jubeln möchte. Nur: Jubeln, das will er auf eine ganz bestimmte Weise. Ayhan hat auf dem Weg in die Fankurve noch nicht einmal die Arme ausgebreitet, da führt Demiral bereits die rechte Hand an die Schläfe, zu jenem Militärgruß, der in diesen Tagen so heftig diskutiert wird. Ein zweites und drittes Mal salutiert er, bevor er den Düsseldorfer überhaupt eingeholt hat, und kaum steht er neben ihm, salutiert er ein viertes Mal.
Bevor es zur rauf und runtergespielten Szene zwischen den beiden kommt, haben sich die übrigen türkischen Spieler auf sie gestürzt und eine Jubeltraube gebildet. Doch kaum ist die einigermaßen aufgelöst, beginnt Demiral, eindringlich auf seinen Abwehrkollegen einzureden und lässt sich dabei auch vom hinzugekommenen Calhanoglu nicht beruhigen. Die TV-Bilder zeigen, wie sich Ayhan schließlich losmacht, Demiral wendet sich anderen Spielern zu.
Ging es im Disput um den militärischen Gruß in Richtung Heimat - und in Richtung der Truppen, die derzeit in Nordsyrien gegen die Kurdenmiliz YPG im Einsatz sind? Das will die Nachrichtenagentur AP erfahren haben, bestätigt hat es keiner der Beteiligten. Dieses Foto legt den Schluss aber zumindest nahe: Ein trotz seines Tores überraschend niedergeschlagen dreinschauender Ayhan geht aus der Kurve in Richtung Mittelkreis, hinter ihm Demiral mit einigen anderen Mitspielern - und dem Salut in die Kurve. Nach dem Spiel kommt der Gruß erneut, wieder ist Ayhan, übrigens genau wie der zweite Fortuna-Profi Kenan Karaman und Calhanoglu, nicht vertreten.
Merih Demiral: Türkisches Abwehrtalent auf Europareise
Wer ist dieser Merih Demiral, der mit der Geste gen Heimat so schnell und eifrig "bei der Hand war", trotz der internationalen Kritik und trotz einer möglichen Bestrafung durch die UEFA, die politische Botschaften auf dem grünen Rasen nicht dulden will?
Zweifellos eines der größten Talente, welches der türkische Fußball derzeit vorzuweisen hat. Erst 21 Jahre alt, ist der 1,92 Meter große Innenverteidiger bereits eine feste Stütze im Team von Nationaltrainer Senol Günes: Seit seinem Debüt im November 2018 hat Demiral neun von zehn möglichen Partien über die volle Distanz absolviert, darunter alle Pflichtspiele.
Seine Entwicklung in den letzten gut zwölf Monaten war so enorm, dass sie sogar Serie-A-Gigant Juventus auf den Plan rief: Im Juli griff Juve zu, 18 Millionen Euro kostete Demiral.
Dabei kann man nicht unbedingt von einem geraden Weg sprechen. Das in der Nähe Istanbuls geborene Defensivtalent kickt zunächst in den Jugendmannschaften Fenerbahces, bevor es mit 18 Jahren den Schritt ins Ausland wagt. "In diesem Alter war das keine leichte Entscheidung", sagt Demiral im Rückblick.
Sein Ziel ist zunächst Portugal. Ein halbes Jahr Alcanense, danach wird er an Sporting Lissabons B-Team abgegeben. Eineinhalb Jahre bleibt er bei Sporting, macht dort insgesamt 30 Pflichtspiele. Sein Durchbruch ist das allerdings nicht. Der gelingt ihm erst, als er im Sommer 2018 wieder in die Süper Lig zurückkehrt, und zwar nach Alanyaspor. 20 Spiele macht er in dem Badeort an der Mittelmeerküste, fast alle über 90 Minuten, und plötzlich schaut man in Europa ganz genau hin.
Merih Demiral: Stationen seiner Karriere
Zeitraum | Verein |
2013 - 2016 | Fenerbahce (Jugend) |
Juli 2016 - Januar 2017 | Alcanenense |
Januar 2017 - August 2018 | Sporting B |
August 2018 - Januar 2019 | Alanyaspor |
Januar 2019 - Juni 2019 | US Sassuolo |
seit Juli 2019 | Juventus |
Keine fünf Monate nach seinem ersten Spiel für Alanyaspor leiht US Sassuolo den 20-Jährigen aus - und der frohlockt: Sein Traum von der Serie A wird wahr. Was er damals aber wohl noch nicht wusste: Auch die Alte Dame ist längst an ihm dran und soll sich bereits zu diesem Zeitpunkt ein Vorkaufsrecht gesichert haben. Was nach erneut guten Leistungen in Italien dazu führt, dass Sassuolo Demiral für rund sieben Millionen Euro kauft - und wenige Tage später mit sattem Gewinn an Juve weiterverkauft.
Dort ist Demiral der erste türkische Spieler im Klub überhaupt und vor allem eine Investition in die Zukunft, zunächst steht eine Ausleihe im Raum. Als sich Giorgio Chiellini jedoch schwer verletzt, darf er bleiben - an der Seite seines Idols. "Juventus hat schon immer die besten Abwehrspieler auf der Welt gehabt", sagte Demiral bei seiner Vorstellung. Es sei eine Ehre, in so jungen Jahren für Juve zu spielen.
Merih Demiral als Pro-Erdogan-Symbol? So einfach ist das nicht
Allzu viel hat Demiral für Juve bislang noch nicht gespielt - 90 Minuten in der Serie A, um genau zu sein. Nicht nur in Deutschland, auch in Italien könnte er vielen Fans erst nach der "Militärgruß-Affäre" wirklich ein Begriff werden. Doch taugt er dafür, als Gesicht des Konfliktes herzuhalten? Oder, genauer: Um eines der zwei Gesichter des türkischen Januskopfes zu sein? Auf der einen Seite die Ayhans und Karamans dieser Welt, gefangen zwischen zwei Welten in einer Lose-Lose-Situation, auf der anderen Seite die Pro-Erdogan-Enthusiasten?
Wie Türkei-Experte und Ex-SPOX-Redakteur Fatih Demireli betont: Ein reines Schwarz-Weiß-Denken ist extrem schwierig. So spielt das Militär im türkischen Alltag eine ganz andere Rolle als in Deutschland: "Ich glaube auch nicht, dass Merih Demiral die Intention verfolgt, seine Mitmenschen politisch zu motivieren. Er hat sein gesamtes Profileben bis auf wenige Monate im Ausland verbracht."
Fest steht nur, dass Demiral beim Salut besonders enthusiastisch agierte, und dass auch er vor dem Spiel einen Pro-Militär-Post in den sozialen Medien absetzte. Was das im Einzelnen zu bedeuten hat, weiß nur er. "Die Nationalspieler handeln mit ihrem Salut nicht ideologisch", zitiert der Tagesspiegel einen Experten aus Istanbul, der namenlos bleiben will. "Es ist für sie als Patrioten normal, die Armee zu unterstützen." Daran könne auch keine Bestrafung durch die UEFA etwas ändern.
Die Diskussion dürfte Demiral zu seinem neuen Heimatklub verfolgen, auch wenn Juve bereits ankündigte, dieses Thema "nicht kommentieren" zu wollen. Kritische Stimmen in den Zeitungen gibt es bereits, dazu forderte der italienische Sportminister Vincenzo Spadafora angesichts des Syrien-Feldzuges, Istanbul das Champions-League-Finale 2020 abzuerkennen.
Zumindest ein paar Führungsspieler werden sich den Jungspund wohl zur Brust nehmen. "Politik und Sport müssen getrennt bleiben", betonte Italiens Kapitän Leonardo Bonucci, in Turin Teamkollege Demirals. Und dann gibt es ja auch noch Emre Can. "Emre hilft mir sowohl auf als auch neben dem Platz sehr, damit es mir gut geht", lobte Demiral zuletzt die "Fürsorge" des deutschen Nationalspielers. Was die Tücken derartiger Botschaften angeht, darüber dürfte Can auch einiges zu sagen haben.