Louis van Gaal vereinte krasse Gegensätze und polarisierte - sowohl menschlich als auch fußballerisch. Eine Sammlung von Eindrücken.
Eines der spektakulärsten Tore der Champions-League-Geschichte hätte es wohl nie gegeben, hätte Louis van Gaal nicht 2009 beim FC Bayern angeheuert. Denn zumindest indirekt war der Niederländer maßgeblich für diesen Treffer verantwortlich.
"Wenn Louis van Gaal und Mark van Bommel nicht hier gewesen wären, weiß ich nicht, ob ich hierhergekommen wäre. Es war wichtig, dass sie hier waren. Hört sich vielleicht auch so an, als wäre Bayern für mich sonst nicht in Frage gekommen, aber so ist das manchmal im Fußball", sagte Arjen Robben 2018 dem Bayern-Blog MIASANROT. Kurz nach seinem Landsmann war er von Real Madrid nach München gekommen - und an jenem 7. April 2010, vor fast exakt zehn Jahren, traf Robben im Viertelfinalrückspiel der Champions League bei Manchester United nach Ecke von Franck Ribery per überragendem Volleyschuss von der Strafraumgrenze.
Irgendwie passt es herrlich ins Bild der Gegensätze, die van Gaal als Trainer stets ausmachten, dass es zwar das Tor zur 2:3-Niederlage aus Bayern-Sicht war, man ob der Auswärtstorregel aber dennoch ins Halbfinale einzog und jubeln durfte. Oder dass es eine geniale Kombination zwischen Ribery und Robben war: Dem Franzosen, mit dem van Gaal nie wirklich klar kam, und dem Niederländer, der unter anderem wegen van Gaal überhaupt erst zum FCB gewechselt war.
Mata über van Gaal: "Das erwartet man nicht"
Van Gaal hatte aus den Bayern, die in den acht Jahren zuvor immer spätestens im Viertelfinale der Königsklasse gescheitert waren und 2007/08 sogar nur im UEFA Cup spielten, wieder eine internationale Top-Mannschaft gemacht, die 2010 dann sogar bis ins Finale kam. Er, der mal ausgelassen auf dem Rathaus-Balkon den Marienplatz zum Toben brachte und sich als "Feierbiest" inszenierte, der gleichzeitig aber selbst seine Töchter dazu anhielt, ihn zu siezen.
Van Gaal, der seine Trainerkarriere 2019 endgültig beendet hatte, pendelt zwischen den Extremen. Manchester Uniteds Mittelfeldspieler Juan Mata sagte kürzlich etwa im klubeigenen United-Podcast über den heute 68-Jährigen: "Er war angsteinflößend", um im nächsten Atemzug zu betonen: "Ein netter Mann, sehr authentisch und sensibel. Das erwartet man nicht. Er wird auch emotional und hat manchmal geweint, wenn er über wichtige Dinge gesprochen hat."
Barca-Legende Xavi, dem van Gaal in seiner ersten Amtszeit bei den Katalanen zwischen 1997 und 2000 zum Debüt verhalf, brachte die Gegensätze im Naturell des stolzen Louis bei ESPN FC so zum Ausdruck: "Nachdem ich zwei Tage lang unter ihm trainiert hatte, habe ich mir gedacht: 'Wer ist denn dieser Idiot?'" Der Welt- und Europameister fügte aber an: "Schon nach einer Woche dachte ich: 'Er ist in Ordnung. Er ist eine gute Person, ein sehr guter Trainer'."
Ibra über van Gaal: "Dieser Mann ist ein Diktator"
Disziplin stand für van Gaal immer über allem. Und: Kein einzelner, wirklich niemand, egal, wie er hieß, war wichtiger als die Mannschaft. Individuell herausragende Spieler wie Ribery, die Spiele gerne alleine entscheiden, Spieler, die natürlich auch immer gewinnen wollen, dabei aber eben unbedingt auch selbst glänzen möchten, kamen mit dieser Vorgabe häufig überhaupt nicht klar.
So sagte Ribery 2015 im Interview mit SPOX und Goal: "Auf dem Platz machte er wirklich gute Sachen. Nur der Trainer Louis van Gaal war ein schlechter Mensch. Unsere Beziehung war total zerrüttet. Beim Amtsantritt wusste niemand, was passieren würde. Er meinte, Namen seien scheißegal, Stars nicht notwendig und alle müssten sich neu beweisen." Vertrauen habe er von van Gaal zu selten gespürt, monierte der Franzose. Zlatan Ibrahimovic spielte derweil zwar nie direkt unter van Gaal, attackierte diesen aber mal eindeutig: "Dieser Mann ist ein Diktator, der nicht den geringsten Sinn für Humor hat", fauchte der Schwede.
Wenn man van Gaal besser kenne, so erklärt es Juan Mata, sei jener aber keineswegs nur ein Diktator, sondern auch und vor allem ein "warmer und authentischer" Typ. Man müsse sich nur an seine ungewöhnlichen Verhaltensweisen gewöhnen, sagt der Spanier und packt eine Anekdote über das erste persönliche Gespräch mit van Gaal aus: "Als ich ankam, saß er da mit Ryan Giggs (Co-Trainer; Anm.d.Red.) und einer Flasche Rioja und drei Weingläsern. Er fragte: 'Willst du einen Drink?' Ich sagte: 'Nein, alles gut.' Also hatte nur er einen Drink und forderte mich auf: 'Erzähl mir, wer du bist.'" Mata antwortete: "Mein Name ist Juan, ich bin 26 und spiele Fußball. 'Nein, Nein. Sag mir, wer du als Mann bist. Hast du eine Familie? Was ist für dich im Leben wichtig?'"
Rivaldo: "Mit van Gaal war das nicht möglich"
Rivaldo dürfte van Gaal anders wahrgenommen haben als Mata. Den Brasilianer, 1999 Weltfußballer des Jahres, versetzte der spätere Bayern-Coach bei Barca von dessen Lieblingsposition auf der Zehn auf den linken Flügel. Rivaldo sah das nicht ein, weigerte sich irgendwann, links zu spielen - und es kam zum Streit, der in der zeitweisen Ausbootung Rivaldos mündete. Sie rauften sich zwar wieder zusammen, als van Gaal dann 2002 zu seiner zweiten Amtszeit erneut im Camp Nou aufschlug, ergriff Rivaldo aber die Flucht: "Ich wollte nicht unter ihm spielen, und wir haben eine Übereinkunft gefunden, meinen Vertrag aufzulösen, damit ich zu Milan wechseln konnte", sagte er bei SPOX und Goal. "Ich hatte eigentlich vor, beim FC Barcelona zu bleiben, aber mit van Gaal war das nicht möglich."
Doch es gab eben auch die Spieler, die van Gaal sehr wohl überzeugte und erreichte. Robben zum Beispiel. Oder Thomas Müller, dem der Holländer bei den Bayern zum Durchbruch verhalf. "Es ist kein Geheimnis, dass Louis van Gaal und ich eine etwas speziellere Trainer-Spieler-Beziehung hatten", sagte Müller 2014 der Sport Bild. Vor kurzem erst verriet der 30-Jährige, dass er im selben Jahr, kurz nach dem WM-Titel, beinahe zu van Gaal nach Manchester gewechselt wäre. Lediglich am Veto der Bayern scheiterte ein Transfer.
Neben Müller haben bekanntlich noch etliche andere spätere Superstars unter van Gaal ihre ersten Schritte gemacht. Bei United ließ er zum Beispiel Marcus Rashford debütieren. Barca-Legende Xavi feierte seine Premiere bei den Blaugrana unter van Gaal, in dessen zweiter Periode in Barcelona verhalf er einem gewissen Andres Iniesta zu ersten Schritten bei den Profis. "Mein wichtigster Trainer", sagte Iniesta 2018 der Mundo Deportivo über van Gaal.
Außergewöhnlich war auch die Goldene Generation, die van Gaal bei Ajax, seiner allerersten Station, formte: Patrick Kluivert, Clarence Seedorf, Marc Overmars, Edgar Davids, Edwin van der Sar - reihenweise Legenden machte van Gaal groß. Und schon damals bewies er, dass in dem Disziplin-Fanatiker auch ganz viel Herz steckt für das, was er tut. Und dass er ein unglaublich gutes Auge für Talent hat.
"Bei Ajax hatten wir kaum Geld, wir waren pleite. Also musste ich mich nach Jugendspielern umschauen", sagte van Gaal mal dem Daily Telegraph. Die lediglich umgerechnet 4.000 Euro, die man 1993 als Ablöse für Flügelspieler Finidi George, essenzieller Teil des Champions-League-Sieger-Teams von 1995, an den nigerianischen Klub Sharks FC zahlen musste, legte er aus eigener Tasche auf den Tisch. Ein Jahr zuvor hatte van Gaal No-Name Jari Litmanen aus Finnland nach Amsterdam geholt. Kostenpunkt: Lächerliche 14.000 Euro.
Auch Spieler wie George und Litmanen machte van Gaal zu Stars. Letzterer ist besonders begeistert von seinem Ex-Coach, folgte van Gaal später auch noch zu Barca, obwohl er auch Angebote von Bayern, Milan oder Liverpool vorliegen hatte. "Finnland formte mich als Fußballer, aber van Gaal gab mir die letzten 15 oder 20 Prozent. Er war fordernd, aber immer ehrlich. Er sah alles", sagt Litmanen, der sogar bekräftigt: "Pep Guardiola ist gut, Jose Mourinho auch. Aber van Gaal ist der beste Trainer der Welt. In 25 Jahren wird jeder so denken."
Litmanen: "Van Gaal ist der beste Trainer der Welt"
Er schaffte es, van Gaal zu verstehen, sich auf ihn einzulassen. "Unzählige Male sagte van Gaal etwas, mit dem ich zunächst nicht übereinstimmte. Aber als ich es dann in der Praxis sah, hatte er eigentlich immer recht", erklärt Litmanen. Worte, die zeigen, dass auch Individualisten mit van Gaal klar kommen konnten.
Nicht zuletzt beweist das auch das Beispiel Luis Figo. Den Portugiesen, ein Einzelkönner vor dem Herrn und Superdribbler, hob er gegenüber dem Guardian sogar als den Spieler hervor, mit dem ihm die Zusammenarbeit am meisten Spaß machte. "Er ist ein Gewinnertyp. Er war immer voll da, ob im Training oder im Spiel. Diese Spielertypen mag ich am liebsten, weil sie dir gegenüber offen sind, auf dem Platz aber trotzdem Führungspersönlichkeiten sind", sagte van Gaal über seinen Ex-Schützling bei Barca und nutzte ihn auch einmal zur Veranschaulichung seiner Probleme mit Ribery: "Für mich war Figo ein Star - Ribery nicht", sagte er France Football.
Rein fußballerisch betrachtet war van Gaal immer ein Systemtrainer, dem aber gleichzeitig auch das schöne Spiel am Herzen lag. Er wollte Effektivität und Attraktivität bestmöglich vereinen, schoss dabei manchmal vielleicht über das Ziel hinaus. Zudem lag auch im Sportlichen stets Zündstoff, was die Arbeit mit Künstlern anging: Denn die Methoden, mit denen er jenen sein komplexes Konzept vermitteln wollte, fanden viele derer - zumal van Gaal als Spieler selbst nie eine ganz große Nummer gewesen war - unpassend.
Van Gaal und die besonderen Spieler
"Er wird es nie zugeben, aber van Gaals Fußball ist der Fußball von Cruyff und Wenger. Lediglich die Methoden unterscheiden sich", schreibt Oranje-Legende Dennis Bergkamp, der zu Beginn seiner Laufbahn bei Ajax unter van Gaal kickte, in seiner Autobiografie. Cruyff habe "nicht so viel analysiert. Es ging mehr um Instinkt und Technik", während van Gaal eher Didaktiker sei: "Louis gibt seinen Spielern Anweisungen, die sie ausführen müssen, damit das System funktioniert. Und das System ist heilig."
Wenger indes liege irgendwo dazwischen - auch was den Umgang mit Unterschiedsspielern angeht. Bei Cruyff hatten jene stets alle Freiheiten, bei Wenger war zwar sichergestellt, "dass die Starspieler sich dem Team verschreiben. Aber gleichzeitig gibt er ihnen den Raum, den sie brauchen, um großartig zu sein." Van Gaal habe genau das nie gekonnt, bemängelt Bergkamp. Unterordnen sei die oberste Maxime gewesen: "Aber was, wenn du zehn durchschnittliche Maler hast und einen Rembrandt? Sagst du Rembrandt dann, dass er seine Fantasie nicht braucht, dass er nicht für mehr steht als die anderen? Oder gibst du ihm das Gefühl, dass er etwas Besonderes ist und lässt es ihn ausleben, damit er sein Bestes abrufen kann?"
Bergkamps Ausführungen leuchten so wunderbar ein und liefern eine Erklärung dafür, warum van Gaal gerade mit besonderen Spielern seine Probleme hatte. Und doch gibt es eben die Gegenbeispiele, die von Figo, von Iniesta oder Litmanen. Waren die nicht auch besondere Spieler? Oder Robben! Davon, dass jener Robben, ja durchaus ein Individualist, eines der spektakulärsten Tore der Champions-League-Geschichte wohl nie zelebriert hätte, gäbe es van Gaal nicht. Dessen Wirken als Trainer ist eben nicht so leicht auf einen Nenner zu bringen.