Johan Vonlanthen wurde einst als Schweizer Jahrhunderttalent gehandelt. Bereits mit 17 Jahren wechselte er zur PSV Eindhoven und avancierte bei der Europameisterschaft 2004 zum jüngsten EM-Torschützen aller Zeiten. Im Anschluss begannen jedoch "die Probleme", wie er selbst sagt. Im exklusiven Interview mit SPOX und Goal blickt der mittlerweile 34-Jährige ausführlich auf seine bewegte Karriere zurück.
Vonlanthen spricht über seine Kindheit in Kolumbien, Ängste vor dem Umzug in die Schweiz, ein skurriles Probetraining bei Real Madrid und seinen frühen Transfer in die Niederlande. Außerdem schwärmt er von seinen ehemaligen Trainern Guus Hiddink und Lothar Matthäus sowie von Arjen Robbens PlayStation- und Fußball-Künsten. Außerdem erklärt er, warum er in der Schweiz medial als Problemprofi abgestempelt wurde und welche Rolle seine Religion dabei spielte.
Johan, ist die Information, dass Sie Ihre Karriere 2018 beendet haben, noch aktuell?
Johan Vonlanthen: Ja, das ist richtig (lacht). 2018 habe ich meine Karriere offiziell beendet.
Im Alter von 32 Jahren. Warum zogen Sie diesen verhältnismäßig frühen Schlussstrich?
Vonlanthen: Ich habe mir bei Servette Genf im Jahr 2015 einen Achillessehnenriss zugezogen und habe mich enorm schwergetan, zurückzukommen. Als ich wieder einigermaßen fit war, hat Kevin Cooper mich zum FC Wil geholt. Nach einer gewissen Zeit ging es mit dem Klub allerdings bergab, die Investoren zogen sich zurück, aus sportlicher Sicht war schnell klar, dass wir den Aufstieg in die erste Liga verpassen würden. Es war nicht mein Wunsch, noch ein weiteres Jahr in der Challenge League (zweite Schweizer Liga, Anm. d. Red.) zu spielen. Allerdings muss ich auch sagen, dass meine Leistungen nicht mehr gereicht haben, um auf höchstem Niveau zu spielen. Ich war also nicht unbedingt in der Position, großartige Ansprüche zu stellen. Ich war nicht mehr so schnell wie früher, die Motivation nahm zudem immer mehr ab. Also habe ich mich entschlossen, aufzuhören.
Während Ihrer Laufbahn gab es immer wieder Gerüchte um ein vorzeitiges Karriereende. Zum ersten Mal wurde medial im Jahr 2009 mit dem Ende Ihrer Laufbahn kokettiert, 2012 und 2015 tauchten erneut derartige Meldungen auf. Wie kam es zu diesem Wirbel in regelmäßigen Abständen?
Vonlanthen: Es gab immer wieder private Angelegenheiten, die mich zu zwischenzeitlichen Pausen gezwungen haben. Das haben vor allem die Schweizer Medien aufgegriffen und teilweise einfach mal spekuliert, dass ich meine Karriere beenden könnte. Ich habe diesen Wunsch allerdings nie geäußert.
Haben Sie die entsprechenden Berichte nicht dementiert?
Vonlanthen: Ich wollte in den Medien nicht über meine Beweggründe sprechen, weil sie eben privater Natur waren. Ich habe damals eine Pause gebraucht und mir eine Auszeit genommen, die mich besonders als Mensch weitergebracht hat. Auf der anderen Seite hat meine Karriere als Fußballer darunter gelitten.
imago images / GeisserJohan Vonlanthen über seine Ängste beim Umzug in die Schweiz
Lassen Sie uns zum Beginn Ihrer Karriere kommen. Sie sind in Kolumbien geboren und aufgewachsen. Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Zeit in Südamerika?
Vonlanthen: Ich hatte eine sehr schöne Kindheit. Ich habe eine gute Schule besucht und viel Zeit auf dem Fußballplatz in einem Dorf namens El Parque, in der Nähe von Santa Marta, verbracht. Ich habe schon sehr früh den Wunsch gehegt, eines Tages Fußballprofi zu werden. 1991 hat meine Mutter Roger Vonlanthen, einen Mann aus der Schweiz, kennengelernt und ist mit ihm nach Europa gezogen. Meine Geschwister und ich sind ihr sieben Jahre später gefolgt.
Und in der Zwischenzeit?
Vonlanthen: Wir haben bei meinen Großeltern gewohnt. Unsere Mutter kam aber regelmäßig nach Kolumbien, um uns zu besuchen. Sie blieb zumeist einen Monat, ehe sie wieder in die Schweiz zurückkehrte. Der längste Zeitraum, in dem ich meine Mutter nicht gesehen habe, belief sich auf zwei Jahre.
Warum sind Sie Ihrer Mutter erst sieben Jahre später gefolgt?
Vonlanthen: Es war von vornherein klar, dass meine Geschwister und ich eines Tages ebenfalls in die Schweiz ziehen würden. Meine Mutter wollte uns aber nicht sofort mitnehmen, weil sie erst einmal ausloten wollte, wie das Leben dort ist. Als Kind habe ich das nicht verstanden, aber rückblickend muss ich sagen, dass sie und mein Stiefvater genau richtig vorgegangen sind.
Als Elfjähriger aus seiner gewohnten Umgebung herausgezogen zu werden und in ein völlig fremdes Land zu ziehen, ist vermutlich nicht einfach. Was waren Ihre größten Ängste, als Sie in die Schweiz kamen?
Vonlanthen: Es war wirklich nicht einfach, das stimmt. Meine größte Angst war, dass ich nie wieder Fußball spielen kann. Natürlich habe ich mir auch Gedanken gemacht, ob ich neue Freunde finde und ob ich die Schule schaffe. Ich konnte kein Deutsch und wusste überhaupt nicht, wie ich mit der Schweizer Mentalität zurechtkommen würde. Als ich im Flieger saß, habe ich mir vor allem eine Frage gestellt: "Was kommt auf mich zu?"
Wie war Ihr erster Eindruck von der neuen Heimat?
Vonlanthen: Ich habe mir die Schweiz ganz anders vorgestellt. Meine Mutter hat uns zwar Fotos gezeigt, weshalb ich das Land immer mit Schnee in Verbindung gebracht habe (lacht). Aber ich wusste zum Beispiel nicht, ob dort überhaupt Fußball gespielt wird. Der einzige Schweizer Spieler, den ich kannte, war Stephane Chapuisat. Er war damals das Aushängeschild und dementsprechend auch in Kolumbien populär.
Johan Vonlanthen: "Fußball bringt die Menschen zusammen"
Sie haben die Sprachbarriere und die Mentalitätsunterschiede bereits angesprochen. Wie verlief Ihre Integration?
Vonlanthen: Die ersten Tage waren wirklich schwierig. Ich war erst eine Woche im Land, bevor ich eingeschult wurde. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich an meinem ersten Schultag sehr nervös war. Ich wurde aufgrund der Sprachbarriere zwei Jahrgänge zurückgestuft und kam in die vierte Klasse. Neben der Schule besuchten meine Geschwister und ich jeden Tag einen zweistündigen Deutsch-Intensivkurs bei einer tollen Lehrerin, die lustigerweise ebenfalls Vonlanthen hieß. Die Angst, vielleicht keine neuen Freunde zu finden, stellte sich recht schnell als unbegründet heraus. Auf dem Pausenhof haben mich die anderen Kindern dazu animiert, mit ihnen Fußball zu spielen. Einige sprachen sogar Spanisch, was die Integration noch einmal erleichtert hat.
Also hat der Fußball einen großen Teil zu Ihrer Integration beigetragen?
Vonlanthen: Definitiv! Der Fußball bringt die Menschen zusammen.
Wann haben Sie erkannt, dass Sie besser mit dem Ball umgehen können als Ihre neuen Freunde?
Vonlanthen: In unserem Wohnort Flamatt habe ich beim ansässigen Fußballverein gekickt und immer sehr viele Tore geschossen. Da habe ich gemerkt, dass ich offenbar ziemlich gut bin (lacht) und plötzlich wurden die Young Boys auf mich aufmerksam. Ich bin nach Bern gewechselt und kurz darauf in die Schweizer U-Nationalmannschaft berufen worden. Es ging wirklich sehr, sehr schnell. Ich habe mich stets selbst unter Druck gesetzt, mir gesagt, dass ich es unbedingt packen muss. Auch mit Blick auf meine Familie in Kolumbien, die ich als Fußballprofi finanziell unterstützen wollte. Ich bin für meine Karriere ein wirklich hohes Risiko eingegangen und habe quasi alles auf eine Karte gesetzt.
Wie schwierig gestaltete sich der Spagat zwischen Schule und Fußball, als sie in Bern spielten?
Vonlanthen: Das war überhaupt kein Problem. Flamatt liegt im Kanton Freiburg und ist nicht weit von Bern entfernt. Die Fahrtdauer mit dem Zug beträgt ungefähr 20 Minuten, also war ich in der Lage den Spagat zu schaffen. Ich denke sehr gerne an diese Zeit zurück.
Woran erinnern Sie sich besonders gerne, wenn Sie an Ihre Zeit in Bern zurückdenken?
Vonlanthen: Ich durfte im Alter von 14 Jahren das erste Mal bei der ersten Mannschaft mittrainieren, das war eine großartige Erfahrung. Mit 15 spielte ich bereits in der U17 und war regelmäßig Teil des Profi-Trainingskaders. Ein Jahr später hieß es plötzlich: Johan, Du gehörst jetzt dazu.
Ihr Profi-Debüt in der ersten Liga feierten Sie als 16-Jähriger, nur fünf Jahre, nachdem Sie aus Kolumbien in die Schweiz gekommen waren. Was ging in Ihnen vor?
Vonlanthen: Wenn ich mir die 16-jährigen Fußballer heute anschaue, kann ich kaum glauben, wie das geklappt hat und wie schnell alles ging. Damals habe ich mir gar nicht so viele Gedanken gemacht. Ich war einfach nur glücklich, dass ich meinen Plan, Profi-Fußballer zu werden, in die Tat umgesetzt hatte. Vielleicht hätte ich damals mehr Geduld mitbringen müssen.
Inwiefern?
Vonlanthen: Es wäre rückblickend besser gewesen, wenn ich vor meinem Schritt ins Ausland bei Young Boys mehr Erfahrung gesammelt hätte.
Stattdessen wechselten Sie früh zur PSV Eindhoven. Wie kam der Wechsel zustande?
Vonlanthen: Ich habe als 16-Jähriger in der U21-Nationalmannschaft gespielt. Mein Berater kam auf mich zu und sagte mir, dass etliche Klubs ein Auge auf mich geworfen hätten. Neben der PSV waren auch Real Madrid und Inter Mailand interessiert. Er fragte mich, wohin ich wechseln möchte. Ich sagte ihm nur: "Schauen wir mal, welcher Verein mich wirklich spüren lässt, dass er mich verpflichten möchte." Dann hat Real mich zum Probetraining eingeladen. Bevor ich nach Eindhoven gewechselt bin, war ich zehn Tage in Madrid und habe bei der U17 und U19 mittrainiert.
Aber?
Vonlanthen: Ich habe in diesen Trainingseinheiten kaum einen Ball berührt. Niemand hat mich angespielt, keiner wollte mir den Ball geben (lacht). Die einzigen Bälle, die ich bekommen habe, erkämpfte ich mir selbst im Zweikampf oder sie landeten per Zufall bei mir. Die Mitspieler haben sich wahrscheinlich gedacht: "Wer ist der denn?" Vor allem für die Jungs in der U19 war es wahrscheinlich komisch, dass so ein junger Kerl mittrainiert. In der Freizeit hat sich auch niemand um mich gekümmert. Niemand hat zu mir gesagt: "Komm, wir gehen etwas trinken, ich nehme dich mit." Da war überhaupt keine Kameradschaft vorhanden.
Wie ging es weiter?
Vonlanthen: Nach besagten zehn Tagen bin ich in die Schweiz zurückgekehrt und mein Berater sagte mir, dass die PSV Eindhoven mich gerne zum Vorspielen einladen würde. Ich habe sofort eingewilligt und in den Niederlanden bei einem A-Jugendturnier mitgespielt. Ich wurde zum besten Spieler gewählt. Im Anschluss habe ich ein sehr gutes Gespräch mit Guus Hiddink geführt, der damals Trainer der ersten Mannschaft bei PSV war. Er hat mir klargemacht, dass er mich gerne im Profiteam haben möchte. Außerdem waren die Jungs ganz anders als die in Madrid. Viele haben mich eingeladen und mir wirklich ein gutes Gefühl gegeben.
Johan Vonlanthen über seine Probleme in Eindhoven
Welche Erfahrungen haben Sie mit Hiddink gemacht?
Vonlanthen: Guus ist menschlich unglaublich. Ich habe ausschließlich positive Erfahrungen mit ihm gemacht. Er hat sich immer Zeit für seine Spieler genommen und häufig auch über private Dinge gesprochen. Wenn er mich in sein Büro bestellt hat, fragte er immer, ob ich mich wohlfühle und wie es meiner Familie gehe. Mit Blick auf den Fußball sagte er nur: "Hab Spaß und mach Dein Ding!" Ich wusste, dass er mich mag. Trotzdem erfuhr meine Karriere bei PSV einen Knick.
Was waren die Gründe?
Vonlanthen: Ich war 17 Jahre alt und ganz alleine in Eindhoven, ohne meine Familie. Ich habe sie sehr vermisst. Meine Eltern blieben in der Schweiz, weil meine Geschwister dort zur Schule gingen und ihren Lebensmittelpunkt hatten. Ich konnte nicht verlangen, dass alle nur meinetwegen in die Niederlande ziehen. Am Anfang war ich noch optimistisch, dass ich es alleine packen könnte, aber nach und nach reifte die gegenteilige Erkenntnis. Obwohl meine Mannschaftskollegen sich um mich gekümmert haben, ist es gerade in diesem Alter wichtig, die Familie in der Nähe zu haben. Arjen Robben, der etwas älter als ich war, hatte zum Beispiel immer seine Familie um sich herum und wurde bestmöglich unterstützt. Als ich realisiert habe, dass es in meinem Fall anders war, kamen die Probleme.
Welche Probleme waren das konkret?
Vonlanthen: Ich war kein Spieler, der häufig auf Partys ging oder andere Dinge im Kopf hatte. Aber ich habe beispielsweise mehrmals verschlafen und kam zu spät ins Training. Guus Hiddink hat zweimal ein Auge zugedrückt, aber das dritte Mal war dann zu viel. Man verliert an Glaubwürdigkeit, auch die anderen Jungs bekommen den Eindruck, dass man nicht ganz bei der Sache ist. Meine Chancen auf Spielzeit schwanden merklich. Selbst nach der Europameisterschaft 2004 hat sich nicht viel an meiner Situation geändert.
Arjen Robben? "Bei Pro Evolution war er nicht zu schlagen"
Während Ihre junge Karriere den ersten Knick erfuhr, ging Robbens Stern bei der PSV auf. Welche Erlebnisse verbinden Sie mit ihm?
Vonlanthen: Arjens Wohnung war gleich um die Ecke, höchstens hundert Meter entfernt von meiner. Ich war sehr oft bei ihm und habe seine Freundin und seine Eltern kennengelernt. Sein Leben war - im Gegensatz zu meinem - sehr gut organisiert, es wurde hinsichtlich Arjens Zukunft nichts dem Zufall überlassen. Wir haben trotzdem häufig die Zeit gefunden, um PlayStation zu spielen. Bei Pro Evolution Soccer war er nicht zu schlagen. So wie er auf dem Fußballplatz gespielt hat, zockte er auch auf der PlayStation. Es war der absolute Wahnsinn, was der Junge an der Konsole draufhatte (lacht).
Auf dem virtuellen Rasen war Robben also eine Macht. Wie haben Sie ihn auf dem realen Platz wahrgenommen?
Vonlanthen: Wenn du den Ball im Training an der Außenlinie bekommen hast, hieß es von draußen immer "actie", also, dass man eine Aktion starten sollte. Arjen war es völlig egal, ob er den Ball auf den Flügeln oder in der Mitte bekommen hat - er hat überall "actie" gemacht. Er hat sich die Kugel geschnappt, einen Alleingang gestartet und den Abschluss gesucht. Viele Mitspieler haben sich aufgeregt, dass er immer wieder ins Dribbling ging. Er hat dann gesagt: "Ok, ist gut. Beim nächsten Mal spiele ich ab." Wenige Sekunden später setzte er zum nächsten Alleingang an (lacht). Er hatte schon damals überragende Qualitäten.
Was hat ihn besonders ausgezeichnet?
Vonlanthen: Ich habe ihn kennengelernt, als er 18 Jahre alt war. Ich habe bewundert, wie fokussiert und mental stabil er trotz seines Alters schon war. Er wusste ganz genau, was er kann. Normalerweise haben junge Spieler mit Leistungsschwankungen zu kämpfen, das ist völlig normal. Bei Arjen konnte ich solche Schwankungen nie ausmachen, er hat einfach keine Fehler gemacht. Stattdessen war er in fast allen Spielen, die ich mit ihm gemeinsam erlebt habe, der entscheidende Mann.
imago images / VI ImagesJohan Vonlanthen: "... das hat mich hart getroffen"
Warum sind Ihre beiden Karrieren so unterschiedlich verlaufen?
Vonlanthen: Sein gefestigtes Umfeld habe ich bereits angesprochen. Ich bin der Meinung, dass das unheimlich wichtig ist. Ich habe das Alleinsein im Ausland komplett unterschätzt. Darüber hinaus war er im Kopf weiter als ich damals.
Robben wechselte 2004 für 18 Millionen Euro zum FC Chelsea, ein halbes Jahr später wurden Sie nach Brescia ausgeliehen. Wie lief es in Italien?
Vonlanthen: Die Tatsache, dass PSV mich ausleihen wollte, hat mich wirklich hart getroffen. Ich musste reagieren und erst einmal gucken, welche Klubs überhaupt infrage kommen könnten. Dann hieß es, dass Brescia mich gerne verpflichten möchte. Brescias Trainer Giovanni de Biasi hatte mich persönlich angerufen, das hat mir gefallen. Außerdem hat mich die Serie A gereizt.
Viele Spiele absolvierten Sie allerdings nicht für Brescia.
Vonlanthen: Zwei Wochen später wurde de Biasi entlassen und ein neuer Trainer, Alberto Cavasin, übernahm. Die Situation hatte sich damit komplett verändert, weil Cavasin mich nicht kannte. Das hat überhaupt nicht hingehauen und ich musste mir eingestehen, dass die Entscheidung, nach Brescia zu gehen, nicht die schlauste war.
Sie waren jung und wurden trotz Ihrer Probleme in Eindhoven als großes Talent gehandelt. Kaum zu glauben, dass Brescia die einzige Option war.
Vonlanthen: Mein Berater sagte mir damals, dass nur Brescia sich um mich bemüht hatte. Erst später habe ich erfahren, dass auch Vereine aus Deutschland Interesse signalisierten. Das tut natürlich weh. Hätte ich das früher gewusst, wäre ich wahrscheinlich nach Deutschland gewechselt.
Bereuen Sie Ihren Wechsel nach Italien?
Vonlanthen: Nicht unbedingt. Ich bin nicht davon ausgegangen, dass der Trainer, der mich geholt hat, schon nach zwei Wochen gehen muss. Unter seinem Nachfolger habe ich es auf lediglich neun Einsätze gebracht. Ich habe dort teilweise Dinge erlebt, die ich nicht nachvollziehen konnte.
Zum Beispiel?
Vonlanthen: Ich kann mich vor allem noch an ein Spiel erinnern, in dem ich eigentlich von Anfang an spielen sollte. Fünf Minuten vor Anpfiff kam ein Mitspieler zu mir und sagte: "Johan, du spielst heute nicht, für Dich startet ein anderer." Ich habe ihn gefragt: "Warum, was ist denn passiert? Ich habe mich doch mit der Mannschaft warmgemacht und stand in der Kabine auf der Tafel noch in der ersten Elf." Tatsächlich hatte sich der Coach umentschieden, ohne mich zu informieren. Ich weiß bis heute nicht, warum ich nicht spielen durfte. Vielleicht war es auch besser so, wir lagen nämlich nach 20 Minuten hinten (lacht). Aber spätestens nach dieser Aktion war für mich klar, dass ich nach Holland zurückkehre.
Sie haben einmal gesagt, dass niemand Sie auf die Brutalität des Fußball-Geschäfts vorbereitet habe. Wie hat sich diese Brutalität geäußert?
Vonlanthen: Meine Eltern konnten mich vor gewissen Leuten nicht schützen, weil sie keine Erfahrung im Fußballbusiness hatten und nicht wussten, wie das Geschäft läuft. Viele haben damals nur die Chance gesehen, Kohle mit mir zu machen. Das war brutal. Heutzutage ist es vielleicht noch schlimmer, die Berater verdienen sehr viel Geld mit jungen Talenten. Andererseits ist es positiv, dass mittlerweile auch die Eltern ihren Kindern als Berater zur Seite stehen dürfen. Früher, zu meiner Zeit, war das nur offiziellen FIFA-Agenten erlaubt.
imago images / UlmerVonlanthen über seinen historischen Treffer bei der EM 2004
Sie haben bei der EM 2004 keinen Geringeren als Wayne Rooney als jüngsten EM-Torschützen aller Zeiten abgelöst. Welche Emotionen hat der Treffer bei Ihnen ausgelöst?
Vonlanthen: Das war unbeschreiblich, ein toller Moment und sicherlich mein Karrierehöhepunkt. Ich wurde als junger Spieler einfach in diese Europameisterschaft geworfen und habe dann gegen Fabian Barthez getroffen. In diesem Augenblick sind ganz viele Erinnerungen vor meinem geistigen Auge aufgetaucht. Ich habe an meine Kindheit in Kolumbien gedacht, daran, wie alles angefangen hat.
Mit ebenjenem Tor entwickelte sich vor allem in der Schweiz ein regelrechter Hype um Ihre Person. Resultierten daraus auch negative Aspekte?
Vonlanthen: Ich glaube nicht. Ich wusste, wozu ich imstande war und war mir meiner Qualitäten durchaus bewusst. Der einzige negative Aspekt war die fehlende Geduld. Ich habe mir nach diesem Tor selbst zu viel Druck gemacht. Auch meinem Berater konnte es im Anschluss nicht schnell genug gehen. Guus Hiddink hat versucht, mich einzubremsen. Er hat mir gesagt: "Deine Zeit wird kommen." Er wollte mir die nötige Disziplin einschärfen und vermitteln, dass ich geduldig sein muss. Ich habe aber nicht verstanden, warum ich nicht häufiger eingesetzt wurde. Heute würde ich mein früheres Ich an den Ohren packen und sagen: "Junge, bleib cool! Du bist 18 Jahre alt und spielst bei PSV. Gib Gas und warte auf deine Chance."
Im Vorfeld der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland wurde berichtet, dass Sie Ihren Platz im Kader nicht räumen wollten, obwohl Sie verletzt waren. Angeblich haben Sie ärztliche Atteste eingereicht, die Ihre Spielfähigkeit bescheinigen sollten. Wie hoch ist der Wahrheitsgehalt dieser Meldungen?
Vonlanthen: Ich hatte vor allem bei der Schweizer Boulevardzeitung Blick immer ein gewisses Problemprofi-Image. Ständig wurde tendenziös berichtet.
Johan Vonlanthen über sein Image als Problemprofi
Was war der Anlass, Sie als Problemprofi zu deklarieren?
Vonlanthen: Alles begann mit einem sehr großen Fehler, den ich sehr bereue: Wir hatten mit der U21-Nationalmannschaft ein Quali-Spiel gegen Tschechien und mein Trainer erklärte mir, dass ich nicht in der Startelf stehen würde. Obwohl unser Stürmer unter der Woche verletzt war und lediglich einmal mittrainieren konnte, wurde ich auf die Bank gesetzt und er durfte spielen. Weil ich in dieser Situation von meinen Teamkollegen keine Unterstützung erfahren habe, war ich extrem enttäuscht und habe mich auf die Tribüne gesetzt. Eine dumme Aktion, die dazu geführt hat, dass mir plötzlich ein gewisser Ruf anhaftete.
Und wie verhielt es sich nun bei der WM 2006?
Vonlanthen: Ich hatte einen Muskelfaserriss. Die Schweizer Ärzte haben einen Monat vor Turnierstart gesagt, dass ich es nicht schaffen werde. Ich bin auf unseren Trainer Köbi Kuhn zugegangen und habe ihn gefragt: "Gibst du mir die Zeit, um fit zu werden, Coach?" Er hat eingewilligt, aber letztlich musste er mir erklären, dass es nicht reicht. Für mich rückte damals Hakan Yakin in den Kader. Ich war natürlich enttäuscht, weil ich alles gegeben hatte und unbedingt dabei sein wollte. Im Nachhinein muss ich zugeben, dass die Entscheidung des Trainers richtig war.
Gab es aufgrund dessen Komplikationen innerhalb des Teams?
Vonlanthen: Nein, die Jungs haben gemerkt, dass ich alles versucht habe. Einige sprachen mir Mut zu und animierten mich dazu, es weiter zu probieren, andere waren der Meinung, dass ich mein WM-Aus akzeptieren müsse. Ich habe mich schwergetan, mir einzugestehen, dass es nicht reicht und dass ein Muskelfaserriss nicht binnen vier Wochen komplett ausgestanden sein kann. Aber Streitigkeiten gab es nicht.
Vonlanthen: "Matthäus wollte mich unbedingt haben"
Trotz der negativen Presseberichte setzte Lothar Matthäus sich als Co-Trainer von Red Bull Salzburg dafür ein, Sie in die Mozartstadt zu holen. Wie war die Arbeit mit ihm?
Vonlanthen: Er war derjenige, der mich unbedingt haben wollte. Er hat sich für mich eingesetzt und mich ständig angerufen, um mich von einem Wechsel zu überzeugen. Dafür bin ich ihm dankbar. Mein erstes Jahr mit ihm war super. Wir sind mit ihm und Cheftrainer Giovanni Trapattoni Meister geworden, ich habe sehr gut gespielt und wurde sogar zum besten Mittelfeldspieler in Österreich gewählt. Lothar sagte zu mir: "Junge, Du musst im Training der Erste auf dem Platz sein, gib Gas!" Er hat mir Disziplin und Pünktlichkeit eingetrichtert.
In Deutschland wird Lothar Matthäus als Trainer bisweilen etwas belächelt. Was halten Sie den Kritikern entgegen?
Vonlanthen: Ich kann nur sagen, dass er mir sehr wertvolle Tipps gegeben hat, sein Coaching war top. Er hat einen wichtigen Teil dazu beigetragen, dass wir erfolgreich waren. Nach einem Auswärtsspiel in der Champions-League-Qualifikation gegen den FC Zürich hat er mich zur Seite genommen und sagte: "Du bist einer der jüngsten Spieler, Du musst mehr rennen, mehr machen als die anderen Jungs - nur dann wirst Du Dich durchsetzen." Ich hatte zwar ein Tor erzielt und wir gewannen das Spiel, aber die Leistung war wirklich überschaubar. Das hat er sofort erkannt und klar kommuniziert. Nach seiner Ansprache war ich wieder auf dem Boden der Tatsachen angekommen.
Warum ging es für ihn in Salzburg nicht weiter?
Vonlanthen: Ich glaube, dass er und Trapattoni sich nach einer gewissen Zeit nicht mehr auf einen gemeinsamen Weg verständigen konnten, deshalb trennten sich die Wege.
Wie war Ihr Verhältnis zu Trapattoni?
Vonlanthen: Insgesamt sehr gut! Aber ich habe in meiner zweiten Saison für Salzburg mit einem Leistenbruch gespielt. Ich wollte mich zunächst nicht operieren lassen. Weil aber die EM 2008 im Sommer anstand, habe ich mich im Winter letztlich doch für eine OP entschieden, um in der Rückrunde wieder anzugreifen und mich für die Nationalmannschaft zu empfehlen. Trapattoni war damit nicht einverstanden. Plötzlich habe ich nicht mehr so häufig gespielt. Zur EM wurde ich aber trotzdem mitgenommen (lacht).
Nach Ihrer Rückkehr in die Schweiz 2009, als Sie beim FC Zürich anheuerten, begann sich die Presse offensichtlich für Ihre Zugehörigkeit bei den Siebenten Tags Adventisten zu interessieren. Was war der Hintergrund?
Vonlanthen: Ich möchte vorab sagen, dass ich ein gläubiger Mensch bin, aber was daraus gemacht wurde, war unsäglich. Ich habe in Salzburg einer kleinen Adventisten-Zeitschrift ein Interview gegeben, in dem ich meine Gedanken über die Bibel und Gott geteilt habe. Da fing das Ganze an. Man hat sich nicht darum gekümmert, was ich als Mensch durchmache, sondern darüber berichtet, dass ich einer Sekte angehöre. Es hat niemanden interessiert, was genau los war.
Was hatte es mit der Geschichte auf sich, dass Sie samstags Ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen wollten, weil die Adventisten den Sabbat halten?
Vonlanthen: Weil die Adventisten Sabbat halten, wurde geschrieben, dass ich fortan ein Problem habe. Für mich war Fußball aber sehr wichtig. Einige Leute aus der Glaubensgemeinschaft haben Druck ausgeübt, dass ich eine Entscheidung treffen müsse, aber ich wollte selbst über meine privaten Angelegenheiten bestimmen und meine Ruhe haben. Das war eine schwierige Zeit für mich, aber das Thema ist nun abgehakt und ich möchte das nicht weiter vertiefen. Das Wichtigste ist, dass ich glücklich mit meiner Frau bin und zwei wundervolle Kinder habe.
Nach zwei Jahren beim FC Zürich kehrten Sie nach Kolumbien zurück und blieben zwei Jahre dort. Was war Ihr Antrieb?
Vonlanthen: Die Berichte lösten unter anderem das Bestreben aus, mit meiner damals schwangeren Frau zurück nach Kolumbien zu gehen. Ich wollte, dass mein Kind in einem guten Umfeld auf die Welt kommt. Außerdem hatte ich immer den Wunsch, einmal in meinem Geburtsland zu spielen und bin zu Itagüi Ditaires gewechselt. Vornehmlich habe ich aber in Kolumbien viel Zeit mit meiner Familie verbracht.
Johan Vonlanthen über die Erwartungen der Schweizer Presse
Für Itagüi spielten Sie lediglich fünfmal. Warum?
Vonlanthen: Ich hatte Knieprobleme, nachdem in Zürich ein Knorpelschaden festgestellt worden war. Kurz nach der Champions League habe ich mich in der Winterpause einer Operation unterzogen, aber die Schmerzen blieben. Ich habe in der Rückrunde gespürt, dass ich mein Knie kaum noch beugen konnte. Auch aus diesem Grund endete meine Zeit beim FCZ. Obwohl der Verein mir trotzdem eine Vertragsverlängerung anbot, wusste ich, dass ich nicht mehr hundert Prozent geben konnte. Deshalb unterschrieb ich nicht. Aber dieser Thematik widmeten sich die Medien nicht, sondern fokussierten sich ausschließlich auf die Glaubensgeschichte. Was ich außerdem traurig fand, war, dass mein Berater plötzlich nicht mehr so präsent war wie zuvor. Die Leute, die zu meinem engeren Umfeld zählten, waren von einem auf den anderen Tag weg und ich habe gemerkt, dass ich ihnen offenbar nicht mehr so wichtig bin.
Dass Sie nicht unbedingt als Liebling der Schweizer Presse galten, haben Sie bereits ausführlich geschildert. Wie war das Medienecho, als Sie 2013 bei den Grasshoppers auftauchten?
Vonlanthen: Die Erwartungen waren wieder auf hundert Prozent, so wie zu Beginn meiner Karriere, als mir der Stempel "Jahrhunderttalent" aufgedrückt wurde. Ich selbst habe übrigens nie etwas in diese Richtung gesagt.
Konnten Sie die Erwartungen erfüllen?
Vonlanthen: In der Zwischenzeit wurde mir eine Membran eingesetzt und das Knie schwoll nach dem Training nicht mehr an. Das war für mich ein Zeichen, dass ich wieder zurückkommen kann. Ich konnte ohne Schmerzen sprinten, Krafttraining machen und Fußball spielen. Mein erstes Spiel gegen St. Gallen lief aber katastrophal, ich war überhaupt nicht richtig auf dem Platz. Weil ich mich viel zu sehr auf das konzentriert habe, was die Leute von der Tribüne mir zuriefen.
Und zwar?
Vonlanthen: "Vonlanthen, was willst Du hier? Geh zurück in Deine Kirche!" Nach der Partie war es sehr schwierig, zurück in die Startelf zu kommen, weil meine Konkurrenten einen super Job gemacht hatten und ihre Chance nutzten. Es gab überhaupt keinen Grund, mich wieder einzusetzen. Danach haben wir uns entschlossen, einen Schritt zurückzugehen. Ich bin in die zweite Liga zum FC Schaffhausen gewechselt, um mehr Spielpraxis zu bekommen. Das Team war sehr ambitioniert und wollte aufsteigen. Es lief auch wirklich gut, weil ich mit Maurizio Jacobacci einen tollen Trainer hatte. Ich hätte sicherlich neun oder zehn Tore machen müssen, stattdessen vergab ich viele gute Chancen. Als Offensivmann wirst du an Toren und Vorlagen gemessen.
Die Karrierestatistiken von Johan Vonlanthen im Überblick
Teams | Spiele | Tore | Vorlagen | Titel |
11 | 393 | 74 | 42 | 3 (niederländischer Meister, 2x österreichischer Meister) |
Dann versuchten Sie Ihr Glück in Genf.
Vonlanthen: Genau, bei Servette traf ich das Tor endlich wieder (lacht). Wir waren lange Tabellenführer, bis es zu dem Achillessehnenriss kam. Übrigens: alle schwerwiegenden Verletzungen, die eine Operation nach sich zogen, traten auf der linken Seite auf - der Leistenbruch, der Knorpelschaden und der Achillessehnenriss. Ich wäre wahrscheinlich trotzdem in Genf geblieben, aber der Verein ging pleite und stieg in die dritte Liga ab. Und dann kam meine letzte Station, Wil.
Sie haben eine bewegte Karriere hinter sich und arbeiten mittlerweile als Spielerberater. Was geben Sie Ihren Klienten mit auf den Weg?
Vonlanthen: Ich achte bei den talentierten Spielern sehr auf das Umfeld, versuche zu erkennen, ob die Eltern es gut mit ihren Kindern meinen. Es geht darum, dass die Spieler auf dem Boden bleiben, immer an sich arbeiten. Sie müssen wissen, dass mit dem Job als Fußballprofi ein hohes Risiko einhergeht, es kann immer etwas passieren. Schwere Verletzungen können im schlimmsten Fall das Aus bedeuten. Aus diesem Grund vermittle ich den Spielern, dass sie vorsorgliche Maßnahmen treffen sollten. Ich spreche da aus Erfahrung.