FC Bayern - Ex-Guardiola-Assistent Domenec Torrent im Interview: "Pep und ich haben viele Tränen vergossen"

Kerry Hau
28. April 202123:18
Pep Guardiola und Domenec Torrent arbeiteten elf Jahre lang zusammen.imago images
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Elf Jahre lang arbeitete Domenec Torrent mit Pep Guardiola beim FC Barcelona, FC Bayern und Manchester City. Im Interview mit SPOX und Goal spricht der 58-Jährige über gemeinsamen Erlebnisse mit dem Star-Trainer und dessen oft missverstandene Idee von Fußball.

Torrent äußert sich auch zu Guardiolas regelmäßigem Scheitern in der K.o.-Phase der Königsklasse. Außerdem verrät er, wieso er Julian Nagelsmann für den geeigneten Bayern-Trainer hält, weshalb er und seine Frau eines Tages nach München zurückkehren möchten und warum er nach nur drei Monaten beim brasilianischen Top-Klub Flamengo entlassen wurde.

Herr Torrent, Sie haben elf Jahre lang als Co-Trainer von Pep Guardiola gearbeitet und mit ihm 24 Trophäen gewonnen - sieben davon beim FC Bayern. Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre gemeinsame Zeit in München?

Domenec Torrent: Wenn ich an unsere Zeit in München zurückdenke, empfinde ich nichts als Freude und Dankbarkeit. Es waren drei fantastische Jahre bei einem grandiosen Klub in einer wunderschönen Stadt. Pep und ich reden häufiger über unsere gemeinsamen Erlebnisse beim FC Bayern. Die vielen Titel, die wir gewonnen haben. Die Bierduschen danach. Die Partys in der Kabine. Die freien Tage an der Isar oder den vielen Seen im Umkreis der Stadt mit unseren Familien. Und natürlich das Oktoberfest. Meine Frau und ich haben uns schon gesagt, dass wir eines Tages wieder in München leben wollen. Vielleicht, wenn wir in Rente sind. Wir haben uns in diese Stadt verliebt.

Was vermissen Sie besonders an München?

Torrent: Es sind ja oft die kleinen Dinge im Leben, die einen glücklich machen. Der Weg zur Arbeit zum Beispiel. Bei gutem Wetter bin ich von Grünwald, wo ich wie die meisten Spieler und Mitarbeiter gelebt habe, immer mit dem Fahrrad zur Säbener Straße gefahren. Das hat so um die 25 Minuten gedauert. Eine herrliche Strecke, direkt an der Isar entlang. Arjen Robben, der bei mir um die Ecke gewohnt hat, ist sie oft mit mir zusammen gefahren. Da hat der Tag schon gut angefangen. Das sind so Momente, die man schon vermisst.

Bei allen Erfolgen, die Sie und Guardiola mit dem FC Bayern gefeiert haben: In der Champions League sind Sie nie über das Halbfinale hinausgekommen. Warum?

Torrent: An der Champions League zeigt sich, wie ungerecht der Fußball manchmal sein kann. In diesem Wettbewerb triumphiert nicht immer die Mannschaft, die am meisten Arbeit investiert oder den besten Fußball spielt, sondern die, die in den richtigen Momenten zur Stelle ist. Eine Verletzung, ein blödes Gegentor, ein verschossener Elfmeter oder sogar eine unglückliche Schiedsrichterentscheidung kann dich killen. Das ist das Lästige an K.o.-Spielen. Oft genügt schon eine schlechte Viertelstunde, um auszuscheiden.

Domenec Torrent (l.) stand Pep Guardiola elf Jahre lang mit Rat und Tat zur Seite.imago

Torrent über die CL-Bilanz mit dem FC Bayern: "Sehr bitter"

So wie 2015 in Barcelona, als über 70 Minuten die Null stand, ehe Lionel Messi und Co. drei Tore erzielten.

Torrent: Das war so ein Abend, an dem alles Schlechte für uns zusammenkam. Unser erstes Problem: Wir mussten ohne Ribery, Robben und Alaba antreten. Das wäre für Barca so gewesen, als hätten ihnen Messi, Neymar und Pique gefehlt. Aber wir haben es gut gemacht - bis zur 77. Minute, als der beste Spieler aller Zeiten ein Wahnsinnstor erzielt hat. Danach hätten wir uns sagen können: "Okay, wir stellen uns hinten rein, den 0:1-Rückstand können wir zu Hause aufholen." Doch das liegt nicht in der Natur des FC Bayern. Der FC Bayern hasst es, zu verlieren. Also hat die Mannschaft alles nach vorne geworfen und versucht, den Ausgleich zu erzielen.

Der Plan ging nach hinten los. Noch einmal Messi und Neymar sorgten für klare Verhältnisse.

Torrent: Es war sehr bitter. Wir hatten auch in anderen K.o.-Spielen nicht das letzte Spielglück auf unserer Seite. Das Halbfinale ein Jahr später gegen Atletico zum Beispiel war eines der besten Bayernspiele unter Pep. Aber Thomas Müller, unser bester Elfmeterschütze, hat einen Elfmeter verschossen. Kein Vorwurf an Thomas, er ist auch nur ein Mensch. Aber es sind nun einmal diese Kleinigkeiten, die in der Champions League entscheiden.

Hadern Sie und Guardiola noch immer damit?

Torrent: Nein, das ist Vergangenheit, wir können es nicht mehr ändern. Aber damals war es sehr schmerzhaft, ja. Wir haben viele Tränen vergossen. Es hat uns sehr leid getan für die Mannschaft, für die Fans und vor allem für Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge. Wir hätten gerade ihnen nur zu gerne diesen Titel beschert.

Torrent über Guardiola: "Kein Genie sollte unbelohnt bleiben"

Warum gerade Hoeneß und Rummenigge?

Torrent: Uli und Kalle haben Pep, mich und unser gesamtes Trainerteam vom ersten bis zum letzten Tag unterstützt. Sie waren oft an der Säbener Straße, um mit uns über Gott und die Welt zu quatschen. Das hat gut getan - und über die Jahre hat sich eine enge Freundschaft entwickelt. Bei ihnen hatten wir stets das Gefühl: Was auch passiert, sie sind für uns da. Sogar nach unserem Abschied. Meine Tochter zum Beispiel ist in München geblieben, um zu studieren. Kalle war der Erste, der zu mir gekommen ist und gesagt hat: "Dome, wenn etwas ist, wenn sie etwas braucht: Ihr habt meine Nummer. Wir können immer helfen." Eine noble Geste, die zeigt, wie herzlich diese Menschen sind und was für eine große Familie der FC Bayern ist. So etwas gibt es bei keinem anderen Klub von diesem Format. Und deshalb habe ich mich umso mehr über den Champions-League-Sieg des FC Bayern in der vergangenen Saison gefreut.

Trotz der 2:8-Demontage Ihres anderen Herzensklubs Barca?

Torrent: Ich bin Mitglied bei Barca und würde lügen, wenn ich sagen würde, dass mich das nicht getroffen hat. Nicht die Niederlage an sich, denn gegen den FC Bayern kann man verlieren, sondern ihre Deutlichkeit. Ich war nach dem Spiel schockiert. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Aber natürlich habe ich dem FC Bayern danach weiter die Daumen gedrückt. Der Triumph in Lissabon war so verdient und überfällig. Jetzt wünsche ich Pep von ganzem Herzen, dass er es wieder schafft.

In der vergangenen Saison schied Manchester City im Viertelfinale gegen Olympique Lyon aus. Guardiola wurde danach stark für seine Taktik kritisiert. Es hieß, er sei zu verkopft.

Torrent: Es war Pech. Raheem Sterling hat aus wenigen Metern das leere Tor nicht getroffen. Soll daran jetzt etwa der Trainer schuld sein? Nein. Auch Pep macht Fehler. Dennoch ist er ein Genie. Und es liegt in der Natur der Menschen, dass sie Genies gerne scheitern sehen. So war es auch bei Musikern wie Mozart. Die Leute haben sich daran ergötzt, ihn zu kritisieren, wenn er einen Fehler gemacht hat, weil er so selten Fehler gemacht hat. Ähnlich ist es mit Pep. Aber ich kenne ihn gut und weiß, dass er mit der Kritik umgehen kann. Und selbst wenn ihm dieser dritte Champions-League-Titel verwehrt bleiben sollte: Er wird in 20 Jahren, wenn er mit seiner Familie zu Hause sitzt und bei einem Wein auf seine Karriere zurückblickt, glücklich und zufrieden sein. Trotzdem hoffe ich, dass er diesen Titel gewinnt. Er hat ihn verdient. Kein Genie sollte unbelohnt bleiben.

Warum haben sich 2018 die Wege von Guardiola und Ihnen getrennt?

Torrent: Es war ein riesiges Privileg, mit und für Pep zu arbeiten. In elf Jahren haben wir alles gewonnen, was es im Vereinsfußball zu gewinnen gibt. Dann hat sich für mich die Chance ergeben, in New York zu arbeiten. Ich wollte sie mir nicht entgehen lassen. Und Pep hat mich auch darin bestärkt, diesen Schritt zu machen.

Hat sich der Schritt in die USA für Sie ausgezahlt?

Torrent: Ohne jeden Zweifel. Ich habe sehr viel über den Fußball in den USA gelernt. Und in einer Metropole wie New York zu leben, war für meine Frau und ich schon immer ein Traum.

Wie fällt Ihre sportliche Bewertung aus?

Torrent: Ebenfalls positiv. Wir haben mit 64 Punkten in der MLS und der Qualifikation für die CONCACAF-Champions-League die beste Saison der Geschichte des FC New York City hingelegt. Die Entwicklung der Mannschaft war absolut zufriedenstellend. Für mich war nach einem Jahr aber relativ schnell klar, eine neue Liga kennenlernen zu wollen.

Sie sind nach Brasilien gegangen. Nach drei Monaten hat Sie Flamengo aber schon wieder entlassen. Warum?

Torrent: In Brasilien laufen die Dinge anders als in Europa. Man hat dort keine Geduld mit Trainern. Wenn Sie sich die Statistiken ansehen, stellen Sie fest, dass die Klubs in Brasilien alle drei bis vier Monate den Trainer wechseln. Das gehört dort leider zur Normalität. Und mit sportlichen Gründen hat das in der Regel eher wenig zu tun.

Auch in Ihrem Fall?

Torrent: Ja. Wir waren zum Zeitpunkt meiner Entlassung in der Liga nur einen Punkt hinter dem Tabellenführer, standen im Viertelfinale des nationalen Pokals und führten unsere Gruppe in der Copa Libertadores an - und das alles in einer Phase, in denen uns etliche Spieler wegen Corona nicht zur Verfügung standen. Einmal hatten wir 19 positive Fälle. 19! In Europa wäre das Spiel abgesagt worden. Wir mussten trotzdem spielen - von unseren elf Spielern auf dem Platz waren nur drei Profis.

Domenec Torrent war zuletzt in Brasilien als Trainer tätig.getty

Torrent: "Die einen wollten Dome, die anderen Klopp"

Hatten die Verantwortlichen dafür kein Verständnis?

Torrent: Flamengo ist mit 40 Millionen Anhängern der größte und wichtigste Klub in Südamerika. Verlierst du ein Spiel, ist alles eine Katastrophe. Die Verantwortlichen hatten unterschiedliche Vorstellungen. Die einen wollten Dome als Trainer, die anderen Jürgen Klopp oder sonst wen. So läuft das in Brasilien eben. Mein Trainerteam und ich wussten das nicht, als wir dorthin kamen. Uns war aber schon nach ein paar Wochen klar: Wenn wir ein, zwei Spiele verlieren, sind wir weg.

Bereuen Sie den Wechsel nach Brasilien?

Torrent: Nein, Flamengo ist ein wunderbarer Klub mit wunderbaren Fans. Und auch die Mannschaft ist mir ans Herz gewachsen.

Seit Ihrer Entlassung ist fast ein halbes Jahr vergangen. Haben Sie sich eine kleine Auszeit vom Fußball genommen?

Torrent: Warum sollte ich? Ich liebe Fußball. Und in Corona-Zeiten schaue und analysiere ich sowieso noch mehr Spiele als sonst. Zwei bis drei am Tag.

Welche Ligen und Mannschaften verfolgen Sie am liebsten?

Torrent: Ich interessiere mich für alle europäischen Top-Ligen. Bei meinen Ex-Klubs schaue ich natürlich genau hin. Ich verpasse fast kein Spiel von Barca, Bayern und City. Aber einen Favoriten habe ich nicht. Ich schaue mir auch gerne Spiele von Mannschaften an, die etwas unter dem Radar laufen, aber den Fußball spielen, den ich liebe. Mannschaften, die nicht nur spielen, um zu gewinnen, sondern um eindrucksvoll zu gewinnen. Mannschaften, die den Ball haben wollen.

Torrent: "Das ist vor allem Peps Vermächtnis"

Können Sie ein Beispiel nennen?

Torrent: Bayer Leverkusen hat mir unter der Leitung von Peter Bosz sehr gefallen. Schade, dass er entlassen wurde.

Die Folge eines krassen Leistungseinbruchs in der Rückrunde.

Torrent: Ja, im Fußball zählen letzten Endes die Ergebnisse. Aber Mannschaften, die nur auf Ergebnisse spielen, schaue ich mir gar nicht mehr an. Das ist nicht attraktiv für den Zuschauer, der Zuschauer will unterhalten werden. Deshalb ist mir das "Wie" so wichtig. Und deshalb mag ich Bosz' Philosophie. Sauber hinten rauszuspielen und hoch zu verteidigen - das ist auch das, was ich in New York oder bei Flamengo habe spielen lassen. Und das, was Pep seit Beginn seiner Trainerkarriere spielen lässt.

Dank Johan Cruyff.

Torrent: Genau. Cruyff hat uns inspiriert. Aber ohne Pep wäre seine Philosophie nicht so in Mode gekommen. Vor 15 Jahren war es nicht normal, einen mitspielenden Torhüter zu haben. Heute wollen alle einen mitspielenden Torhüter. Das habe ich nicht nur in Europa, sondern auch in den USA und Brasilien gemerkt: Kaum eine Mannschaft will mehr den Ball hinten rausbolzen, sondern das Feld mit technisch starkem Kombinationsspiel überbrücken. Das ist vor allem Peps Vermächtnis, er hat diese Entwicklung maßgeblich vorangetrieben. Leider wird seine Idee von Fußball oft missverstanden.

Inwiefern?

Torrent: Viele denken, es ist damit getan, wenn ich den Ball vom Torwart zum Innenverteidiger, vom Innenverteidiger zum Außenverteidiger und vom Außenverteidiger zurück zum Torwart spiele. So einfach ist es nicht. Es geht nicht um Ballbesitz allein, denn es ist weder schön noch Erfolg versprechend, den Ball ohne Raumgewinn im ersten Drittel zirkulieren zu lassen. Die Kunst ist, das Mittelfeld zu dominieren und den Ball durch die Zwischenräume ins letzte Drittel zu bringen. Dafür brauche ich ein gutes Positionsspiel. Ob ich 4-4-2, 4-3-3 oder 3-4-3 spielen lasse, ist nicht entscheidend. Das System spielt keine Rolle, weil es sich mit gutem Positionsspiel - gerade im Mittelfeld und Angriff - sowieso immer wieder während eines Spiels verändert. Was zählt, ist der Plan. Und die Bereitschaft meiner Spieler, diesen umzusetzen.

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Torrent: "Ein gutes Positionsspiel ist die Basis"

Trotzdem steht Guardiolas Fußball auch dafür, den Gegner mit möglichsten vielen Pässen müde zu spielen. Das Tiki-Taka.

Torrent: Auch das halte ich für ein Missverständnis. Wenn Sie einen Spieler des FC Bayern fragen, was wir in den drei gemeinsamen Jahren am häufigsten trainiert haben, wird die Antwort "Gegenpressing-Momente" lauten. Pep geht es darum, den Ball zu haben. Hat er ihn nicht, will er, dass der Ball schnell erobert wird und die Mannschaft ohne große Umwege zum gegnerischen Tor und zum Abschluss gelangt. Er sagt seinen Spielern nicht, dass sie erst einmal hintenrum spielen sollen. Nur, wenn der Gegner zu gut gestaffelt steht, ist es aus seiner Sicht besser, geduldig zu bleiben und den Gegner mit kontrolliertem Passspiel müde zu machen. Ich teile diese Sicht. Lieber lasse ich den Ball im Mittelfeld flach von der einen bis zur anderen Seite laufen, anstatt ihn hoch nach vorne zu spielen, weil ich mir dann sicher sein kann, dass ich weiter im Besitz des Balles bleibe und ihn nicht zurückerobern muss. Bei hohen Bällen stehen die Chancen eigentlich immer 50 zu 50, dass ich den Ball verliere. Warum also dieses Risiko eingehen und nicht geduldig bleiben, bis eine Lücke da ist und ich dann in die Tiefe kommen kann?

Trainer, die eine andere Philosophie verfolgen, würden Ihnen jetzt sicher entgegnen: Man überbrückt mit hohen Bällen schneller das Spielfeld und hat die Chance, über gewonnene zweite Bälle rasch in die Nähe des gegnerischen Strafraums zu gelangen.

Torrent: Ich komme schon oft genug in Strafraumnähe, wenn ich Spieler habe, die sich gut bewegen - vor allem in den Zwischenräumen. Auch Pep hat seinen Spielern immer klar gemacht: "Wenn sich eine Lücke auftut, spielt in diese Lücke. Ansonsten lasst euch Zeit." Grundsätzlich muss ich natürlich immer das Ziel verfolgen, die Linien zu durchbrechen, sonst ist meine Aussicht auf Erfolg gering. Ein gutes Positionsspiel ist die Basis. Dann brauche ich - in der Regel - auch keine hohen Bälle.

Es hängt auch immer von den Spielern ab, die einem zur Verfügung stehen.

Torrent: Genau. Bei Bayern konnten wir ab und zu auch mal einen höheren Ball spielen, weil wir vorne Robert Lewandowski hatten. Bei Barca hatten wir Leo Messi, den spielst du nicht hoch an. Jede Mannschaft hat nun einmal unterschiedliche Spielertypen. Unser Bayern war auch anders als unser Barca, weil wir physisch stärkere Spieler hatten, die das Spielfeld noch etwas schneller überbrückt haben als Spieler wie Xavi, Iniesta oder Busquets. Es war ein Genuss, mit solchen Mannschaften zu arbeiten.

Welcher Mannschaftsteil ist aus Ihrer Sicht der wichtigste im Fußball?

Torrent: Eine gute Frage. Entscheidend sind die Offensivspieler, denn sie müssen die letzte Linie durchbrechen und maßgeblich für Eins-gegen-Eins-Situationen und Tore verantwortlich. Das Mittelfeld aber schafft die Balance und den Rhythmus, es kann das Spiel beruhigen und ankurbeln und bestimmt damit letztlich den Spielstil der Mannschaft. Ich kann zum Beispiel verstehen, wenn ein Joshua Kimmich sagt, dass er lieber im Mittelfeld als auf der rechten Abwehrseite spielt. Er hat in dieser Zone mehr Ballkontakte und damit auch mehr Einfluss auf das Spiel. Als wir Philipp Lahm beim FC Bayern ins Mittelfeld gestellt haben, hat Philipp uns erst gesagt, dass er das nicht möchte. Nach ein, zwei Spielen hat es ihm Spaß gemacht.

Da Sie Kimmich erwähnen: Hätten Sie als ehemaliger Weggefährte von ihm mit so einer positiven Entwicklung gerechnet?

Torrent: Ja, das war vom ersten Tag an absehbar. Ich weiß noch, wie Bayerns damaliger sportlicher Leiter Michael Reschke auf Pep und mich zugekommen ist, um uns Joshua zu zeigen. Damals war er noch der Kapitän der deutschen U21 und hat im Mittelfeld gespielt. Wir wollten ihn sofort haben, weil wir direkt erkennen konnten, wie intelligent sein Pass- und Positionsspiel waren. Heute weiß jeder, dass Joshua alles spielen kann. Auf der Sechs, auf der Acht, als Außen- und selbst als Innenverteidiger. Er ist einer der polyvalentesten und intelligentesten Spieler, die ich je gesehen habe - und deshalb für mich auch einer der besten der Welt.

Reschke verriet zuletzt, Kimmich über viele Monate visuell gescoutet zu haben. Welche Form des Scoutings bevorzugen Sie?

Torrent: Ich würde das visuelle Scouting immer dem datenbasierten Scouting vorziehen. Statistiken wie die Laufleistung, die Pass- und die Zweikampfquote oder die Anzahl an Balleroberungen können helfen, keine Frage. Es gibt aber etwas, das sich nicht mit Daten belegen lässt und das nennt sich Talent. Schauen wir uns doch Leo Messi an. Kaum ein Spieler in der spanischen Liga läuft so wenig wie er. Aber kein anderer Spieler kann so sehr den Unterschied machen wie er. Leo weiß nämlich, wann und wie er zu laufen hat. Das kann mir keine Statistik, keine noch so tolle Technologie verraten. Deshalb ist es immer besser, einen Spieler persönlich zu scouten, um herauszufinden: Wie ist seine Ballbehandlung? Wie ist sein Positionsspiel? Wie verhält er sich unter Raum-, Zeit- und Gegnerdruck? Würde man einen Toni Kroos nur anhand von Daten bewerten, man würde von einem durchschnittlichen Spieler sprechen. Er ist weder der schnellste noch der stärkste Spieler, er spult auch nicht die meisten Kilometer ab und gewinnt sicherlich nicht die meisten Bälle. Aber er hat eine Gabe, die nur wenige Spieler haben: Er kann den Spielrhythmus einer Mannschaft bestimmen. Mit seiner Pressingresistenz, seinen klugen Pässen in die Zwischenräume und seinen punktgenauen Seitenverlagerungen wäre er in meiner Mannschaft unverzichtbar - denn er macht einfach keine Fehler.

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Torrent über Nagelsmann: "Macht einen sehr reifen Eindruck"

In wirtschaftlich immer schwierigen Zeiten wird Talentscouting für Klubs wie den FC Bayern umso wichtiger. In welchen Ländern würden Sie sich bevorzugt nach jungen Spielern umsehen?

Torrent: An Kimmich zeigt sich ja, dass der FC Bayern Deutschland nicht verlassen muss, um Spieler von hoher Qualität zu entdecken. Es gehört mittlerweile aber auch dazu, sich im Ausland umzusehen. Da ich in den USA war, kann ich die MLS nur wärmstens empfehlen. Die Strategie der Liga hat sich gewandelt. Die MLS ist keine Liga mehr, in die nur ältere Spieler kommen, um sich einen entspannten Karriereabend zu machen. Es gibt zahlreiche interessante Talente, die eine hervorragende Ausbildung genossen haben und schon mit Anfang 20 Stammkräfte bei den wichtigsten Klubs sind. Alphonso Davies ist das beste Beispiel. Da hat die Scoutingabteilung des FC Bayern herausragende Arbeit gemacht. Das Potenzial der MLS ist riesig. Ich bin mir auch sicher, dass die USA bei ihrer Heim-WM 2026 überraschen werden. Sie haben so viele gute junge Spieler. Man denke nur an Giovanni Reyna von Borussia Dortmund oder Tyler Adams von RB Leipzig.

Der Trainer von RB Leipzig, Julian Nagelsmann, heuert zur neuen Saison beim FC Bayern an. Trauen Sie ihm zu, die Arbeit von Hansi Flick fortzuführen?

Torrent: Zunächst einmal finde ich es sehr schade, dass Hansi Flick den FC Bayern verlässt. Was er in kürzester Zeit aus dieser Mannschaft gemacht und mit ihr erreicht hat, verdient höchste Anerkennung. Was Julian Nagelsmann angeht, bin ich überzeugt, dass er eine große Zukunft vor sich hat und schon mit 33 Jahren befähigt ist, den FC Bayern zu trainieren. Ihm muss nur klar sein, dass er sich einem solchen Klub nicht erlauben kann, zwei oder drei Spiele zu verlieren, sonst gerät er nämlich direkt in die Kritik. Ich kenne ihn nicht gut genug, um zu beurteilen, ob er diesem Druck gewachsen ist. Aber was seine spielerischen und taktischen Ideen betrifft, ist er eine sehr gute Wahl. Er lässt direkten Fußball spielen, setzt auf schnelle Umschaltmomente und gutes Gegenpressing. Das gefällt mir. Zumal er nicht nur in der Bundesliga, sondern auch in der Champions League diesem Stil treu bleibt, was von großem Mut und großer Überzeugung von sich selbst zeugt. Er macht auf mich einen sehr reifen Eindruck.

Torrent über Xabi Alonso: "Hat alles, was man braucht"

Karl-Heinz Rummenigge hat vor geraumer Zeit auch Ihren alten Schützling Xabi Alonso als möglichen Bayern-Trainer für die Zukunft ins Spiel gebracht.

Torrent: Das wundert mich nicht. Mit seiner Vita, seinen Kenntnissen und seiner Persönlichkeit hat Xabi alles, was man braucht, um erfolgreich als Trainer zu arbeiten. Er war schon damals eine Art Spielertrainer, hat mit Pep und mir im Training ständig über taktische Themen gesprochen und Dinge hinterfragt. Seine Arbeitsauffassung war vorbildlich. Er wollte sich immer verbessern - auf, aber auch neben dem Platz. Wenn ich morgens um 8 Uhr an die Säbener Straße kam, war Xabi schon dort, um Deutschkurse zu nehmen. Er ist ein sehr geradliniger und ambitionierter Mensch, der genau weiß, was er will und wann er es will. Ich bin mir sicher, dass er schon jetzt problemlos den FC Bayern trainieren könnte, finde es aber gut, dass er von Schritt zu Schritt denkt und klein anfängt. Er hat die zweite Mannschaft von Real Sociedad innerhalb weniger Monate zu einem Topteam in der dritten Liga geformt. Seinen Namen werden wir in den nächsten Jahren noch häufiger im Spitzenfußball hören.

Ihren auch?

Torrent: Hoffentlich. Es ist mein Ziel, weiterhin als Cheftrainer zu arbeiten. Zuletzt habe ich schon ein paar Angebote abgelehnt. Ich will mir damit Zeit lassen und die richtige Entscheidung treffen.

Wo würden Sie gerne arbeiten?

Torrent: Nach den Erfahrungen in den USA und Brasilien am liebsten wieder in Europa. Ich habe zwei Ziele vor Augen: die Bundesliga und die Premier League. Ich weiß, wie schwierig das ist, weil Klubs aus Deutschland oder England meist Trainer wollen, die ihnen bekannt sind und auch perfektes Deutsch beziehungsweise Englisch sprechen. Aber ich kenne und liebe beide Ligen. Ich würde jedes Angebot ablehnen, um in Deutschland oder England zu arbeiten. Es wäre mich auch kein Problem, in eine 2. Liga zu gehen.

Sprechen Sie noch Deutsch?

Torrent: Ja, ein bisschen. Über die Jahre habe ich viele Wörter vergessen. In Manchester, New York oder Rio kommst du mit Deutsch eben nicht weit. Aber das ist reine Übungssache. Vergangenes Jahr zum Beispiel habe ich mein Deutsch aufgefrischt. Aktuell bin ich dabei, mein Französisch aufzufrischen. Und nächstes Jahr ist wieder Deutsch dran. Ich liebe Fremdsprachen. Ab und zu sitze ich auf dem Fahrrad und denke plötzlich deutsch. Das kommt wohl davon, wenn man so viel herumgekommen ist wie ich.

Domenec Torrent: Seine Stationen als Trainer

StationFunktionZeitraum
CF PalafrugellTrainer1994 - 2000
Palamos CFTrainer2003 - 2004
FC GironaTrainer2005 - 2006
FC Barcelona BCo-Trainer2007 - 2008
FC BarcelonaCo-Trainer2008 - 2012
FC BayernCo-Trainer2013 - 2016
Manchester CityCo-Trainer2016 - 2018
New York City FCTrainer2018 - 2019
FlamengoTrainer2020