Es gibt da diesen Witz, den Cem Yilmaz in seinen Vorführungen immer wieder bringt. Der bekannteste Standup-Comedian der Türkei erzählt von Temel aus Trabzon, der von seinem Freund Dursun nach Amerika eingeladen wird, um dort zu leben. "Ja, aber was soll ich da arbeiten?", fragt Temel. Dursun sagt: "Es reicht schon, wenn du das Geld sammelst, das auf den Straßen herumliegt." Temel fliegt also nach New York, steigt aus dem Flieger und sieht einen 100-Dollar-Schein auf dem Boden. Temel ist genervt und schimpft: "Man kann doch nicht am ersten Tag zum Arbeiten anfangen."
"Ihr denkt, das ist ein Witz?!", fragt Yilmaz die Zuschauer: "Nein, den Typen gibt es wirklich. Ich habe mit ihm einen Çay getrunken!" Temel-Witze haben in der Türkei eine Tradition wie die Ostfriesen-Witze in Deutschland. Die Lacher sind fast immer garantiert, aber - wie Yilmaz - bedient man damit natürlich bestimmte Stereotypen. Der Trabzoner wird in der Saga gemeinhin als sehr eigen beschrieben. Emotional, einfach gestrickt, herzlich, aber auch rau.
Natürlich sind das alles kaum haltbare Klischees, aber in manchen Situationen liefern sie zumindest einen Anhaltspunkt über die Umstände am Schwarzen Meer, wo Trabzon liegt. Eine große Portion Emotionalität, wie sie beschrieben wird, kann man den Menschen vor Ort aber tatsächlich nicht absprechen. Eine Emotionalität, die dem Fußballklub Trabzonspor zwar oft und immer wieder im Weg stand, aber eigentlich eine tragende Säule dieser Institution ist. Denn Trabzonspor ist kein normaler Fußballklub, sondern ein Statement.
1967 gegründet, hat der Klub nicht nur Fans in der eigenen Region, sondern im ganzen Land. Der Klub versteht sich als Gegenpol zu den mächtigen Istanbuler Größen Besiktas, Fenerbahce und Galatasaray, spielt diese Rolle unfassbar gerne und hat deswegen viele Fans im ganzen Land.
Hamsik löst bei Trabzon einen Hype aus
Marek Hamsik, 34, wird diese Konstellation nicht fremd vorkommen. Zwölf Jahre spielte er für die SSC Neapel. Der Klub aus dem Süden Italiens ist seit jeher das Wahrzeichen einer Auflehnung der Kleinen gegen die Mächtigen aus Mailand, Rom und Turin. Als Diego Maradona den Klub 1984 höchstpersönlich zur Meisterschaft führte, war das "der größte Arschtritt der Geschichte", wie es Italien-Kenner Oliver Birkner mal treffend beschrieb.
Ebendiese Tritte gab es auch von Trabzonspor zwischen 1975 - 1984 immer wieder, doch danach konnten weder Neapel noch Trabzon eine Meisterschaft einfahren und die Sehnsucht wird immer größer. Jede Saison beginnt seither mit der Hoffnung, dass es nun endlich so weit sein könnte. "Ich sehe tatsächlich Ähnlichkeiten", sagt Hamsik. "Ich weiß, was die Menschen hier sehen wollen und ich will es auch."
Als Trabzonspor den Slowaken im Juli vorstellte, war der Hype in Trabzon selbst groß. Kinder (und auch ein paar mutige Erwachsene) ließen sich den Irokesen-Schnitt ihres neuen Helden verpassen und der Empfang für Hamsik am Flughafen fiel natürlich emotional aus. Zwar gab es Kritik, dass man einem 34 Jahre alten Ex-Star, der zuletzt in China und Schweden kickte, keinen Titelkampf anvertrauen kann. Nach zwölf von 40 Spieltagen lässt sich aber sagen, dass die Verpflichtung von Hamsik bisher ein Volltreffer ist.
Trabzonspor Tabellenführer der Süper Lig
Trabzonspor ist Tabellenführer der Süper Lig, hat neun Punkte Vorsprung auf Galatasaray, jeweils zehn Zähler auf Besiktas und Fenerbahce und gilt nach einem Viertel der Saison als größter Titelkandidat. Es ist nicht nur die Tatsache, dass Trabzonspor bisher noch ungeschlagen ist, sondern auch die Art und Weise, wie Trabzon von Sieg zu Sieg eilt. Trainer Abdullah Avcis Truppe spielt ansehnlich und erfolgreich zugleich.
Das hat auch viel mit Hamsik zu tun: Der Slowake ist der erhoffte Taktgeber, der Tempo und Ausrichtung bestimmt und seine große Klasse regelmäßig gewinnbringend einfließen lässt. Ugur Meleke, einer der renommiertesten Sportjournalisten des Landes, hat bei Hamsik einen ganz besonderen Vergleich parat.
"Ich finde, dass es keine Übertreibung ist, wenn ich sage, dass Marek Hamsik der Michael Jordan Trabzonspors ist. Hamsik ist in jeder Aktion seiner Mannschaft involviert, er hat bei jedem Angriff den Ball am Fuß. Er bestimmt, wohin sich das Spiel bewegt. Er ist der Kopf und wenn es eng wird, wechselt er seine Position und bleibt gefährlich."
Natürlich ist der Jordan-Vergleich nicht ganz ohne, es ist durchaus richtig, dass sich die Trabzoner derzeit in der Obhut ihres Anführers wohlfühlen und bei seinem ganz persönlichen "The Last Dance" gerne mitmachen.
Dauerläufer Hamsik macht Trabzon Hoffnung
Beeindruckend ist, dass Hamsik nicht nur durch phänomenale Pässe - wie zuletzt beim 2:1 im Gastspiel gegen Meister Besiktas - glänzt, sondern auch, weil er körperlich auf höchstem Niveau agiert. In Istanbul lief er 12,687 Kilometer - der Bestwert unter allen Spielern. Hamsik hat dafür eine Erklärung parat: "Es reicht nicht, dass man jeden Tag eine Stunde gut trainiert. Man muss aufpassen, was man isst und trinkt, wann man ins Bett geht. Ich habe ein gewisses Alter und richte mein Leben entsprechend danach aus."
In Trabzon kommt diese Professionalität gut an. In der Sehnsucht nach dem Titel hat der Klub in der Historie unzählige Neuversuche gestartet und ist viele Male krachend gescheitert, weil oft die Chemie zwischen Neuzugängen und Umfeld nicht stimmte. Sie stimmt nun bei Hamsik, der aber auch andere Neuzugänge wie Gervinho und Co. positiv beeinflusst.
Die Ähnlichkeit zum emotionalen Gebilde in Neapel, in der dem Fußball alles untergeordnet wird, spielt für Hamsik sicher eine Rolle. Aber er weiß aus eigener Erfahrung, dass es auch in die andere Richtung gehen kann, wenn es mal nicht läuft und dementsprechend baut der Routinier auch vor: "Ich freue mich über die Unterstützung und es ist schön, dass wir ganz oben stehen. Aber die eigentliche Schwierigkeit ist, oben zu bleiben. Es werden Phasen kommen, in denen wir verlieren. Dann müssen die Fans weiter an unserer Seite bleiben."
Gelingt dies, könnte man in Trabzon am Ende tatsächlich eine ewige Sehnsucht stillen. Temel würde sich auf jeden Fall freuen.
Süper Lig: Die obere Tabellenhälfte
Platz | Team | Spiele | S | U | N | Tore | Diff. | Punkte |
1 | Trabzonspor | 12 | 9 | 3 | 0 | 24:11 | 13 | 30 |
2 | Hatayspor Antakya | 12 | 7 | 2 | 3 | 20:9 | 11 | 23 |
3 | Konyaspor | 12 | 6 | 5 | 1 | 18:10 | 8 | 23 |
4 | Galatasaray SK | 12 | 6 | 3 | 3 | 18:15 | 3 | 21 |
5 | Alanyaspor | 12 | 6 | 3 | 3 | 18:19 | -1 | 21 |
6 | Besiktas JK (M, P) | 12 | 6 | 2 | 4 | 21:15 | 6 | 20 |
7 | Fenerbahce SK | 12 | 6 | 2 | 4 | 17:15 | 2 | 20 |
8 | Fatih Karagümrük | 12 | 5 | 4 | 3 | 18:15 | 3 | 19 |
9 | Basaksehir FK | 12 | 6 | 0 | 6 | 18:15 | 3 | 18 |