Welche Klubs schauen Sie sich an, wenn Sie nach Inspiration suchen?
Carnell: Natürlich schaut man vor allem die Klubs, die eine ähnliche Philosophie haben. Ich schaue mir jedes Spiel von Leipzig an, jedes Spiel von Southampton, jedes Spiel von Salzburg, jedes Spiel von Leeds. Ich will sehen, welche Tendenzen es dort gibt. Ich werde mit Sicherheit auch eine Europa-Reise machen in diesem Jahr und den direkten Austausch suchen. Es ist kein Geheimnis, dass mich Jesse Marsch sehr geprägt und inspiriert hat. Wir sind sehr gute Freunde geworden. Er hat eine unglaubliche Fähigkeit, Spieler zu begeistern und an Bord zu holen. Er verkörpert diese amerikanische Art des Managements, davon habe ich viel lernen können.
Was war der Reiz für Sie, die Aufgabe als Cheftrainer bei St. Louis City anzunehmen?
Carnell: Es gab mehrere Faktoren. Ich habe im vergangenen Jahr meinen Vater verloren. An so einem Punkt denkst du viel über das Leben nach. Ich habe mir gesagt: Du bist jetzt Mitte 40, wenn du den Schritt zum Cheftrainer machen möchtest und dich dort austesten möchtest, wann willst du es denn machen, wenn nicht jetzt? Es war einfach der logische nächste Schritt in meiner persönlichen Entwicklung. Zudem kam, dass mich die Erfahrung als Interimstrainer heiß auf mehr gemacht hat. Dann kamen die Gespräche mit Lutz Pfannenstiel, wo schnell klar war, dass wir auf einer Wellenlänge sind. Menschlich, aber auch fußballerisch. Er hat mir einen Weg aufgezeigt, bei dem ich unbedingt dabei sein wollte.
Was man nicht unterschätzen darf: St. Louis ist eine überragende Sportstadt.
Carnell: Nicht nur Sportstadt, auch eine Fußballstadt. Die Stadt ist total fußballbegeistert, viele Spieler kommen aus St. Louis, obwohl es nie einen Profiklub gab. Es ist auch eine Arbeiterstadt, so ein bisschen wie im Ruhrpott von der Mentalität her. Hier entsteht wirklich was und jeder zieht am gleichen Strang. Wir bekommen ein ganz neues Trainingsgelände, wir habe schon eine zweite Mannschaft installiert, wir haben hier eine einmalige Chance, etwas Großartiges aufzubauen und fliegen zu lassen. Eine Fußballkultur und Identität zu kreieren. Davon ein Teil sein zu dürfen, ist etwas Besonderes, das ist kein normaler Job. Bei all meinen wichtigen Stationen als Spieler oder Trainer war ich vier oder fünf Jahre, ich mag es, Projekte nicht nur zu starten, sondern sie auch zu Ende zu bringen. Deshalb mache ich mir auch keinerlei Gedanken, was in zwei oder drei Jahren vielleicht für mich noch kommen könnte. Für mich zählt nur St. Louis. Ich bin total fokussiert darauf, dass wir auf Anhieb performen. Was nicht leicht wird als Expansion-Team, historisch gesehen tut man sich da schwer. Aber wir wollen von Anfang an da sein. Vor allem für unsere Fans. Man kann die Fankultur bei uns mit St. Pauli vergleichen. Wir haben die Saint Louligans, das sind unsere Ultras. Das sind wirklich fußballverrückte Jungs und Mädels, die geben unglaublich Gas.
Der Kader nimmt ja schon Gestalt an, unter anderem steht mit Roman Bürki ein prominenter Neuzugang für das Tor fest.
Carnell: (zeigt seine geheime Taktiktafel in die Kamera) Hier stehen die Namen drauf. (lacht) Gefühlt werden uns pro Tag 50 Spieler präsentiert, ich habe bestimmt 20 Zoom-Calls pro Tag. Wir nehmen uns extrem viel Zeit für die Auswahl der Spieler. Der ganze Prozess ist unglaublich spannend. Normalerweise kommst du als Trainer zu einem Klub und hast ja dort einen Kader, an dem du zwar arbeiten kannst, aber der größtenteils steht. Hier sind wir von Null gestartet, mit einem ganz weißen Blatt. Es ist eine coole Erfahrung für mich, da von Anfang an dabei sein zu können und "meine" Mannschaft zusammenzustellen.
Ganz interessant: St. Louis City ist das erste MLS-Team, das mehrheitlich von Frauen geführt wird. Die Besitzergruppe besteht aus sieben Damen. Wie ist die Zusammenarbeit?
Carnell: Es ist großartig, muss ich ganz ehrlich sagen. Man kennt das ja aus dem Fußball oder dem Sport generell, dass die Eigentümer etwas unnahbar sind. Hier muss ich nur zwei Türen weitergehen und kann mich jederzeit austauschen. Es sind überhaupt keine zwei Welten. Sie sind total bodenständig, identifizieren sich total mit unserem Weg und sie sind immer offen für neue Ideen. Und ich kann von Ihnen viel lernen, was die Business-Seite angeht. Dazu kommt, dass ich zwei Töchter habe, 17 und 13 Jahre alt. Es ist einfach großartig und inspirierend, auch für sie zu sehen, was Frauen erreichen können. Auch im Fußball. Wir bräuchten viel mehr Frauen in der Spitze des Fußballs.