Dele Alli reiht sich womöglich ein in die Galerie früh verglühter Top-Talente. Der Ex-Nationalspieler Englands hatte sich im Sommer zum Wechsel in die Türkei entschieden. Aber auch dort reicht es momentan nicht mehr für die Startelf. Alli ist auf Abwegen, aber hat durch den Fußball trotzdem nach oben gefunden.
Beşiktaş-Trainer Şenol Güneş sagte kürzlich über einen seiner Spieler, dass dieser aktuell in einer Verfassung ist, mit der er es verdient habe zu spielen. Diese Aussage tätigte Güneş nicht über einen abgehalfterten Ersatztorwart, sondern über Dele Alli, den eigentlichen Königstransfer des Istanbuler Clubs im vergangenen Sommer. Der 26-Jährige befindet sich momentan als Leihspieler von Everton bei Besiktas und kann sich dem Anschein nach bereits nach einem neuen Arbeitgeber umsehen.
Es ist das nächste Kapitel in der tragischen Geschichte des einstigen Top-Talents. Als er 2015 von den MK Dons zu Tottenham wechselte und sich rasch im ambitionierten Team aus Nordlondon etablierte, fand der Hype kein Halten mehr. Alli wurde sogar mit Ronaldinho verglichen. Dieser Hype war nicht die Schuld des Mittelfeldspielers, aber trug natürlich dazu bei, dass er hochdotierte Angebote - unter anderem von Real Madrid - unterbreitet bekam.
Für eine Weile wirkte es so, als könnte Alli zumindest in Ansätzen den Erwartungen gerecht werden. Er wurde als Anfang-Zwanzigjähriger zum integralen Bestandteil der Spurs und des englischen Nationalteams - und das zumeist auf der wichtigen Zehnerposition hinter Harry Kane. Er spielte als Stammspieler die EM 2016 sowie die WM 2018 für England und erreichte das Champions-League-Finale 2019.
Statt eines Wechsels etwa nach Madrid band sich Alli an Tottenham für weitere Jahre. Doch dann kam der große Knacks unter der Ägide von José Mourinho. Der Portugiese trainierte von 2019 bis 2021 Tottenham und setzte mit der Zeit nur noch sporadisch auf das vormals so gefeierte Offensivtalent.
imago imagesDele Alli: Kein natürlicher Zehner
Mourinho warf Alli seinerzeit mangelnden Einsatz und auch zu große Leistungsschwankungen vor. Diese Kritik wurde teils in den ohnehin oftmals erbarmungslosen britischen Medien gespiegelt. Auch nach der Demission Mourinhos im April 2021 kam Alli nicht mehr wirklich in Tritt und verließ im Januar 2022 Tottenham gen Everton, ein halbes Jahr später erfolgte die Leihe zu Besiktas.
Alli wäre bei weitem nicht der erste, der mit Mitte 20 eine Odyssee durch die Fußballligen unternimmt und von einem Club zum nächsten tingelt. Sein Name sowie seine damit verbundene Social-Media-Präsenz sind weiterhin attraktiv für Clubs, denen sportliche Leistungen nicht so wichtig erscheinen. Und darüber hinaus wird es auch Trainer und Sportdirektoren geben, die davon überzeugt sind, dass Alli doch noch seinen zweiten Karrierefrühling durchlebt.
Auf die Frage nach dem Warum gibt es so oft keine simple Antwort. Sicherlich war Alli nie ein augenscheinlicher Kämpfertyp, was ihm Mourinho gerade in Zeiten des Misserfolgs vorwarf. Etwas analytischer betrachtet fällt die Rollenzuschreibung als Fallstrick für Alli auf.
Er wurde vornehmlich als Zehner, teilweise auch als offensiver Halbspieler eingesetzt. Für die Rolle des Passgebers aus der Spielfeldmitte fehlten ihm zuweilen für einen Spielmacher essenzielle Attribute: Timing für Abspiele, Passgewichtung bei Zuspielen in die Schnittstellen, ein Gespür für positionelle Rochaden. Im Kontext eines Tottenham-Teams, das vorn nicht immer die notwendigen Synergien zwischen den Offensivstars zu erzeugen wusste, erst recht nicht unter Mourinho, geriet Alli allmählich unter die Räder.
gettyDele Alli: Ein Sieger im Leben
Nun lässt sich entweder spöttisch oder mitleidig auf einen Spieler schauen, dem zu Beginn seiner Karriere der Titel des Weltfußballers vorausgesagt wurde. Alli selbst wird auch nicht zufrieden sein mit seiner aktuellen Situation in Istanbul. Aber ein an sich vielsagender Instagram-Post vom 23. Dezember gibt vielleicht einen guten Einblick ins Seelenleben von Alli. Zu sehen ist Alli mit einem Ball in seinen Armen vor der Brust und der Caption: "Du hast mein Leben gerettet. Deshalb werde ich dich immer lieben."
Was gerne vergessen wird, sind die Umstände, unter denen Alli groß geworden ist. Sein nigerianischer Vater verließ eine Woche nach Deles Geburt Großbritannien. Mehrfach wechselte er als Kind seinen Wohnort, wurde innerhalb der Familie herumgereicht, litt unter dem Alkoholismus der eigenen Mutter und wuchs schließlich bei Alan und Sally Hickford, den Eltern eines anderen Jugendspielers von MK Dons, auf. Dass er sich irgendwann dazu entschied, den Namen "Alli" nicht mehr auf seinem Trikot zu tragen, hatte mit seiner eigenen Entwurzelung zu tun.
In der Online-Fußball-Gemeinschaft Englands - etwa auf Kanälen wie "True Geordie" - wird seit geraumer Zeit darüber debattiert, dass Spieler im Kontext ihrer Sozialisation bewertet werden müssen. Sicherlich mag sich Alli einerseits darüber ärgern, dass er aktuell nicht sein ganzes Potenzial ausschöpft. Andererseits ist er Multimillionär und hat für sich wie auch für seine Partnerin und seinem ihm nahestehenden Bruder ausgesorgt, sofern er nicht komplett verschwenderisch mit seinem Geld umgeht.
Er kam aus hochproblematischen Verhältnissen und hat es im Gegensatz zu einigen Jugendfreunden ökonomisch nach ganz oben geschafft. Alli sieht sich selbst als Gewinner und nicht als "Failure", nur weil er nicht schon unzählige Pokale und Auszeichnungen eingeheimst hat.