Fußball-Euphorie in Georgien: Mehr als nur Kvaradona

Khvicha Kvaratskhelia führte die SSC Neapel in der vergangenen Saison zum ersten Meistertitel seit Diego Armando Maradona.
© getty

Die georgische U21-Nationalmannschaft hat sich vor Rekordkulissen sensationell für das Viertelfinale der Heim-EM qualifiziert - aber nicht nur deshalb herrscht im kleinen Land am Kaukasus Fußball-Euphorie.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

Was ist denn nun beeindruckender? Die Auftritte der georgischen U21, die sich bei der Heim-EM in einer Todesgruppe mit Portugal, den Niederlanden und Belgien ungeschlagen als Gruppensieger für das Viertelfinale qualifiziert hat? Oder doch die ihrer Fans, die bereits im zweiten Gruppenspiel einen Allzeit-Zuschauerrekord für ein U21-EM-Spiel aufgestellt haben und diesen in der entscheidenden dritten Partie noch einmal überboten haben?

43.004 Fans sahen Georgiens 1:1 gegen die Niederlande im Boris-Paichadze-Stadion von Tiflis. Zuriko Davitashvili brachte die Gastgeber nach einem sensationellen Sololauf mit 1:0 in Führung. Letztlich reichte der Endstand von 1:1 fürs Weiterkommen, die Niederlande und Belgien mussten - genau wie mittlerweile auch Deutschland - die Heimreise antreten.

Georgiens Viertelfinale gegen Israel am Samstag um 18 Uhr sollte eigentlich im nicht einmal halb so großen Mikheil-Meskhi-Stadion ausgetragen werden. Doch aufgrund des "außergewöhnlich hohen Interesse an Tickets" wurde die Partie kurzerhand ebenfalls ins Boris-Paichadze-Stadion verlegt, wie die UEFA eilig mitteilte. Aller Voraussicht nach wird in Tiflis der Zuschauerrekord für ein U21-EM-Spiel zum dritten Mal hintereinander gebrochen.

U21-EM in Georgien und Rumänien: Die Viertelfinals

DatumUhrzeitTeam 1Team 2Ort
Samstag, 1. Juli18 UhrGeorgienIsraelBoris-Paichadze Stadion, Tiflis
Samstag, 1. Juli21 UhrSpanienSchweizGiulesti-Stadion, Bukarest
Sonntag, 2. Juli18 UhrEnglandPortugalShengelia-Arena, Kutaisi
Sonntag, 2. Juli21 UhrFrankreichUkraineCluj Arena, Cluj-Napoca
43.004 Fans sahen Georgiens 1:1 gegen die Niederlande im Boris-Paichadze-Stadion von Tiflis: Zuschauerrekord für ein U21-EM-Spiel.
© twitter / @GeorgiaGff

Georgien bei der U21-EM: "Riesending für unser Land"

"Die Auftritte unserer U21 haben das ganze Land in Aufruhr versetzt. Niemand hat erwartet, dass die Mannschaft so gut abschneiden würde. Die Unterstützung für die Jungs ist nicht von dieser Welt. Das ist ein Riesending für unser Land", sagt Luka Lagvilava im Gespräch mit SPOX und GOAL. Der Blogger befasst sich intensiv mit dem georgischen Fußball und betreibt den Twitter-Account Georgian Footy.

Für Georgien haben diese Tage eine historische Dimension: Es ist schließlich das wichtigste Fußball-Turnier, an dem eine Mannschaft aus dem kleinen Land am Kaukasus mit seinen nur 3,7 Millionen Einwohnern jemals teilgenommen hat. Aus eigener Kraft qualifizierte sich die U21 noch nie für eine EM, auch die A-Nationalmannschaft war bisher bei keinem großen Turnier dabei.

Generell befindent sich der georgische Fußball aktuell in einem beeindruckenden Aufwind. Mit Khvicha Kvaratskhelia verfügt Georgien erstmals seit der Unabhängigkeit 1991 über einen echten Superstar, auch (aber nicht nur) dank ihm ist die A-Nationalmannschaft erfolgreich wie lange nicht mehr. Eine Qualifikation für die EM 2024 in Deutschland erscheint möglich. "Die U21 setzt diesen Trend fort", sagt Lagvilava. "Vielleicht können wir uns zu einer Macht in Europa entwickeln."

Ersatz-Nationalmannschaft: Erst Dinamo, dann Freiburg

Eine Macht in Europa war der georgische Fußball zwar noch nie. Dafür aber immerhin in der Sowjetunion, der Georgien zwischen 1921 und 1991 angehörte. In den unterschiedlichen Teilrepubliken firmierten damals stets die großen Hauptstadt-Klubs als Ersatz-Nationalmannschaften. Der georgische Vertreter Dinamo Tiflis gewann zweimal die sowjetische Meisterschaft, 1981 im Finale gegen den FC Carl Zeiss Jena sogar den Europapokal der Pokalsieger. Bekannt war Georgien für geniale Techniker und flinke Dribbler, die Kaukasus-Brasilianer.

Nach der Unabhängigkeit verlor Dinamo massiv an Strahlkraft. Zwar ist der Hauptstadtklub mit 19 Titeln souveräner Rekordmeister des eigenständigen Landes. Anders als früher duelliert sich Dinamo aber nicht mehr allwöchentlich mit den großen Rivalen aus Moskau oder Kiew, sondern nur mit besseren Dorf-Truppen. Ein Problem, das viele Klubs aus den zerfallenen Riesenreichen Sowjetunion und Jugoslawien teilen.

Anstelle von Dinamo entwickelte sich um die Jahrtausendewende unterdessen - warum auch immer - der SC Freiburg zu einer Art Ersatz-Nationalmannschaft. Unter Trainer Volker Finke spielten phasenweise fünf Georgier gleichzeitig im Breisgau. Den größten Eindruck hinterließen Levan Kobiashvili und Aleksander Iashvili. Mittlerweile leitet das Duo den nationalen Verband. Während die Nationalmannschaften unter ihrer Führung glänzen, siecht der georgische Klub-Fußball weiterhin vor sich hin.

Khvicha Kvaratskhelia führte die SSC Neapel in der vergangenen Saison zum ersten Meistertitel seit Diego Armando Maradona.
© getty

Dinamo Tiflis: Talente-Entwicklung steht im Vordergrund

Bei vielen Spielen der nationalen Erovnuli Liga müssen Fans zwar keinen Eintritt zahlen, sich die Plätze dafür aber mit Tieren teilen. Es ist keine Seltenheit, dass Kühe am Spielfeldrand stehen oder Hühner und Hunde über die spärlich besetzten Ränge und schlecht gepflegten Rasenflächen laufen. Sogar beim U21-EM-Spiel zwischen Georgien und Portugal im Nationalstadion von Tiflis schaffte es ein Hund auf den Platz.

In der UEFA-Fünfjahreswertung rangiert Georgien aktuell auf Platz 46 von 55, zwischen Malta und Estland. Seit der Unabhängigkeit qualifizierte sich nur ein einziges Mal ein georgischer Klub für die Gruppenphase eines europäischen Wettbewerbs, Dinamo in der Saison 2004/05 für den UEFA Cup. Auf internationaler Bühne chancenlos, konzentriert sich der Rekordmeister stattdessen auf die Entwicklung von Talenten.

Bei der Länderspielphase im März entstammten 54 Prozent der nominierten Spieler in Georgiens Kader der Dinamo-Akademie, mit Abstand der höchste Wert aller UEFA-Nationen. Natürlich wurde auch der berühmteste Georgier unserer Zeit in Tiflis ausgebildet: der unaussprechliche Khvicha Kvaratskhelia, besser bekannt als Kvaradona.

Khvicha Kvaratskhelia: Gesicht einer goldenen Generation

In der vergangenen Saison führte der 22-jährige Linksaußen die SSC Neapel zum ersten Meistertitel seit Diego Armando Maradona. Dank ihm ist die wunderschöne georgische Flagge mit ihren fünf roten Kreuzen in Neapel omnipräsent. In Kvaratskhelias Heimat dient Touristen unterdessen ein einfaches "Kvaradona" als Codewort, um mit Einheimischen ins Gespräch zu kommen.

Kvaratskhelia ist das bärtige Gesicht einer goldenen Fußballer-Generation, die noch weit mehr talentierte Spieler umfasst als nur ihn: Keeper Giorgi Mamardashvili beispielsweise, aktuell beim FC Valencia unter Vertrag, aber schon von berühmten Premier-League-Klubs umgarnt. Mittelstürmer Georges Mikautadze, der den FC Metz als Torschützenkönig zum direkten Wiederaufstieg in die Ligue 1 geschossen hat. Oder Rechtsaußen Zuriko Davitashvili von Girondins Bordeaux, Traumtorschütze gegen die Niederlande.

Alle vier sind 22 Jahre alt und somit theoretisch für die U21 spielberechtigt. Davitashvili und Mamardashvili ließen es sich trotz A-Länderspiel-Erfahrung tatsächlich nicht nehmen, an der Heim-EM teilzunehmen - obwohl sie in der Länderspielphase direkt davor noch für die A-Nationalmannschaft angetreten sind.

Georgien darf auf die EM-Qualifikation hoffen

Erstmals auf sich aufmerksam machte die neue Generation in der Nations League 2022: Ungeschlagen gewann Georgien seine Gruppe mit Nordmazedonien, Bulgarien und Gibraltar und qualifizierte sich somit für das Finalturnier, bei dem kommenden März die letzten Plätze für die EM 2024 in Deutschland ausgespielt werden. In der regulären EM-Qualifikation rangiert Georgien in seiner Gruppe aktuell auf Platz zwei hinter Schottland und vor Spanien (das noch ein Spiel in der Hinterhand hat).

Angeleitet wird die Mannschaft von einem alten Bekannten, der sich allein schon wegen seines Vornamens für den Posten als georgischer Nationaltrainer qualifiziert: Willy Sagnol. Die aus Zeiten beim FC Bayern München bekannten "Wiiilllyyy"-Rufe lassen sich in Georgien nicht nur auf den Trainer, sondern auch auf fast alle Spieler anwenden.

Nach Stationen beim französischen Verband und Bordeaux sowie einigen Wochen als Co- und Interimstrainer beim FC Bayern, boten ihm seine ehemaligen Bundesliga-Kollegen Kobiashvili und Iashvili 2021 den Posten als georgischer Nationaltrainer an. "Ich habe in Deutschland oft gegen sie gespielt. Ich spüre großes Vertrauen", sagte Sagnol nach seinem Amtsantritt.

Dieses Vertrauen war zunächst auch nötig, denn der Start verlief ernüchternd. Von den ersten neun Länderspielen unter Sagnol verlor Georgien sieben - von den darauffolgenden 16 aber nur noch zwei. "Ich habe eine Gruppe an Spielern, die an einem guten Tag jeden schlagen kann", sagt Sagnol.

Luka Parkadze: Bald beim FC Bayern München, hier bei einem U17-Länderspiel mit Georgien gegen Deutschland im März 2022.
© getty

FC Bayern München: Parkadze statt Kvaratskhelia

Trotz der jüngsten Erfolge wird der 46-jährige Franzose in der georgischen Öffentlichkeit durchaus kritisch gesehen. "Ich bin kein Fan von Sagnol", sagt etwa Blogger Lagvilava. "Er hat eine gute Stimmung in der Mannschaft geschaffen. Aber um noch erfolgreicher zu sein, brauchen wir einen besseren Trainer. Er kann sich glücklich schätzen, Kvaratskhelia in der Mannschaft zu haben."

Zum Erfolgslauf in der Nations League steuerte der Napoli-Star in sechs Spielen acht Scorerpunkte bei. Unterstützt von seinen 22er-Kollegen und weiteren nachrückenden U21-Helden steht Georgien womöglich vor einer glorreichen Fußball-Epoche - zumal aus der Dinamo-Akademie beständig weitere Talente sprudeln.

Passend zum Hype sicherte sich kürzlich sogar der FC Bayern seinen ersten Georgier. Nachdem die Münchner eine Verpflichtung von Kvaratskhelia leichtsinnig verschlafen haben, verpflichteten sie seinen möglichen Erben Luka Parkadze. Der 18-jährige Mittelfeldspieler wechselt im Sommer von Dinamo an den FC Bayern Campus.

Artikel und Videos zum Thema