Vom Höhepunkt in Brasilien zur Chancenlosigkeit in der EM-Qualifikation: Der Absturz von Bosniens Nationalmannschaft

Von Oliver Maywurm
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Bosnien und Herzegowina kratzte mit einer goldenen Generation an der Weltspitze. Doch es folgte ein Absturz, der nun einen neuen Tiefpunkt erreichte.

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Die Nacht vom 15. auf den 16. Oktober 2013 bleibt für den bosnischen Fußball für immer unvergessen. Zehntausende Menschen feierten in den Straßen der Hauptstadt Sarajevo, und ihre Stars, die um 1.30 Uhr in der Heimat gelandet waren, feierten auf einem offenen Bus, der sie vom Flughafen ins Zentrum gebracht hatte, mit.

Einige Stunden zuvor hatte Vedad Ibisevic, seinerzeit beim VfB Stuttgart angestellt, im letzten WM-Qualifikationsspiel in Litauen das goldene Tor erzielt. Die Fans mussten noch einmal zittern, in der 68. Minute war dann aber Ibisevic zur Stelle und traf zum 1:0-Sieg. Zu dem Sieg, der 21 Jahre nach der Unabhängigkeit von Bosnien-Herzegowina die erste Teilnahme des rund drei Millionen Einwohner zählenden Landes an einem großen Turnier sicherstellte.

Punktgleich mit Griechenland gewann Bosnien die Qualifikationsgruppe G, weil man ein deutlich besseres Torverhältnis aufweisen konnte. 30 Tore waren Ibisevic, Edin Dzeko, Miralem Pjanic und Co. in den zehn Quali-Spielen gelungen. Safet Susic, schon als Spieler eine Legende und seinerzeit der Erfolgstrainer jener Mannschaft, frohlockte: "Wir müssen offensiven Fußball spielen. Es wäre unfair den Fans, dem Spiel und uns selbst gegenüber, wenn wir solch enormes Talent zurückhalten würden."

Der bosnische Fußball hatte im Herbst 2013 seinen Höhepunkt erreicht, die Vorfreude auf die WM in Brasilien ein halbes Jahr später war riesig.

Heute, rund zehn Jahre danach, ist von der Euphorie längst nichts mehr übrig. Den Sprung zu einem weiteren großen Turnier schaffte Bosnien seither nicht mehr, in seiner Qualifikationsgruppe für die EM 2024 wurde man abgeschlagen Vorletzter. 13 Punkte lag man dabei hinter der zweitplatzierten Slowakei, zwei der lediglich drei Siege in zehn Spielen gelangen gegen Liechtenstein.

SPOX wirft einen Blick zurück, skizziert den Aufschwung und den darauf folgenden Abstieg des bosnischen Fußballs in den vergangenen Jahren.

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Bosniens Fußball in der Krise: Als der Aufschwung so richtig begann

Nach seiner Unabhängigkeit im Jahr 1992 nahm Bosnien-Herzegowina für die WM 1998 erstmals an einer Qualifikation für ein großes Turnier teil.

In jenen Jahren war man zunächst ohne wirkliche Perspektive auf eine Endrunden-Teilnahme, das änderte sich erstmals in der Quali zur EM 2004. Eine Mannschaft um Sergej Barbarez, Hasan Salihamidzic und Elvir Bolic überraschte unter anderem mit einem 2:0-Sieg in Dänemark. Im Rückspiel gegen die Dänen am letzten Spieltag hätte letztlich ein Sieg gereicht, um sich direkt für die EM zu qualifizieren - doch es kam nur zu einem 1:1, weswegen Bosnien denkbar knapp hinter Dänemark, Rumänien und Norwegen Vierter wurde.

Der nachhaltige Aufschwung begann dann in der Qualifikation zur WM 2010. Zum Auftakt gab es beim frischgebackenen Europameister Spanien eine knappe 0:1-Niederlage. Der damals 18-jährige Miralem Pjanic, gerade zu Olympique Lyon gewechselt, machte sein zweites Länderspiel. Vorne stürmte ein 22-jähriger Edin Dzeko, der sich in Wolfsburg anschickte, den VfL zur Meisterschaft zu schießen. Zvjezdan Misimovic zog dahinter die Fäden, Ibisevic kam als Joker und dessen damaliger Hoffenheim-Kollege Sejad Salihovic sorgte mit seinen Freistößen und Flanken für Gefahr. Die goldene Generation kündigte sich an - und erreichte beinahe schon Großes.

Bosnien scheiterte zweimal erst in den Playoffs an Portugal

Hinter den übermächtigen Spaniern sicherte sich Bosnien vor der Türkei und Belgien Platz zwei in seiner Qualifikationsgruppe und durfte in die Playoffs. Dort war dann Portugal eine kleine Nummer zu groß, der Traum von der ersten WM-Teilnahme platzte nach zwei 0:1-Niederlagen.

In der darauf folgenden Qualifikation zur EM 2012 lief es dann noch etwas besser. Beinahe hätte Bosnien in seiner Gruppe sogar Platz eins erreicht und das direkte Ticket zur Endrunde gelöst: Im entscheidenden Duell in Frankreich am letzten Spieltag führten die seit Dezember 2009 von Safet Susic trainierten Bosnier dank eines Dzeko-Tores lange mit 1:0 - lediglich ein Elfmeter-Treffer von Samir Nasri eine Viertelstunde vor Schluss sorgte dafür, dass letztlich doch die Franzosen Erster wurden und Bosnien in die Playoffs musste.

Dort ging es erneut gegen Portugal. Und nach einem 0:0 im Hinspiel jubelten durch ein 6:2 im Rückspiel erneut Cristiano Ronaldo und Co.

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Bosnien und der Abschwung seit 2014: Höhepunkt vor Brasilien

Hatte Bosnien mit Spanien und Frankreich in den Qualifikationen zuvor noch jeweils ein absolutes Schwergewicht in seiner Gruppe gehabt, fehlte jenes in der Qualifikation zur WM 2014 in Brasilien. Vielmehr war von vorne herein klar, dass sich Pjanic und Co. wahrscheinlich mit Griechenland und der Slowakei um den ersten Platz streiten würden.

Die Mannschaft von Trainer Susic war in den Jahren zuvor immer weiter zusammengewachsen, hatte mit Asmir Begovic - damals bei Stoke City im Kasten - nun auch einen Top-Keeper.

Und während die Slowaken keine Konkurrenz waren, wurde das Rückspiel gegen Griechenland im März 2013 zum vielleicht wichtigsten Spiel: 3:1 für Bosnien hieß es am Ende und die Tore entstanden durch drei der Aushängeschilder jener goldenen Generation. Dreimal legte Misimovic auf, zweimal verwertete Dzeko und einmal war Ibisevic zur Stelle.

Knapp sieben Monate später wurde der Traum vom ersten großen Turnier nach dem 1:0 in Litauen dann tatsächlich Realität. "Für manche Spieler war das heute das letzte Spiel - so, wie sie sich im Flugzeug aufgeführt haben, verdienen es die meisten nicht mehr, in unserer Nationalmannschaft zu spielen", scherzte Coach Susic nach der Ankunft in Sarajevo über die Feierlichkeiten. Die Euphorie in Land und Mannschaft war riesig.

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Bosnien bei der WM 2014: Der Traum endete zu schnell

Das erste WM-Spiel in der Geschichte des Landes und dann gleich gegen Lionel Messi. Zum Auftakt der Weltmeisterschaft 2014 unterlag Bosnien dem späteren Vize-Weltmeister Argentinien knapp mit 1:2 - eine Niederlage, die eingeplant war.

Doch da man auch das zweite Gruppenspiel gegen Nigeria mit 0:1 verlor, endete der WM-Traum deutlich zu schnell. Das Ausscheiden war nun bereits besiegelt - und Trainer Susic musste sich Kritik anhören.

Zum Beispiel dafür, dass er gegen Argentinien und Nigeria nicht auf das 4-4-2 mit der Doppelspitze Dzeko/Ibisevic setzte, die in der Qualifikation so spektakulär funktioniert hatte. Stattdessen ließ Susic im 4-2-3-1 mit Dzeko als einzigem Mittelstürmer spielen. Ibisevic kam dabei jeweils nur von der Bank, hatte gegen Argentinien als Joker kurz vor Schluss zum 1:2 getroffen.

Bosnien bei der WM 2014: "Die beste Mannschaft hat sich nicht für das Achtelfinale qualifiziert"

Dass Susic im abschließenden Gruppenspiel gegen Iran dann wieder Dzeko und Ibisevic gemeinsam von Beginn an ran ließ und letztlich ein 3:1-Sieg dabei heraussprang, machte das Ganze nur umso bitterer. "Bei allem Respekt vor Argentinien und Nigeria: Die beste Mannschaft der Gruppe hat sich nicht für das Achtelfinale qualifiziert", lobte Irans damaliger Trainer Carlos Queiroz die Bosnier nach der Partie.

Inzwischen weiß man längst, dass der erste und bis heute einzige Sieg bei einem großen Turnier der absolute Höhepunkt des bosnischen Fußballs war. Und dass die Hoffnung darauf, nun nachhaltig im Konzert der Großen mitspielen zu können, vergeblich war.

Dabei gab es für diese Hoffnung durchaus Gründe. Pjanic war 2014 mit 24 noch ein aufstrebender Spieler, Dzeko kam gerade erst ins beste Fußballer-Alter. Keeper Begovic versprach noch über viele weitere Jahre Top-Niveau, mit Muhamed Besic, Izet Hajrovic, Sead Kolasinac oder Edin Visca gab es zudem einige Spieler Anfang oder Mitte 20, die viel Potenzial mitbrachten.

Doch sie schöpften jenes Potenzial letztlich nicht ganz so stark aus wie die Generation zuvor. Und aus jener Generation zuvor hatten mit Misimovic, Salihovic, Ibisevic oder Spahic einige Stars ihren Zenit rund um die WM 2014 bereits überschritten.

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Bosniens Fußball in der Krise: Das vergebliche Hoffen auf Nachhaltigkeit

Bosniens Nationalmannschaft musste nach der Hochzeit ihres Schaffens, nach den Jahren von 2011 bis 2014, mit einem Problem umgehen, dem sich viele kleinere Länder immer wieder stellen müssen: Sie verfügen nicht über die Fülle an hochveranlagten Nachwuchskräften wie größere Fußballnationen und haben es deutlich schwerer, ein hohes Niveau beständig zu halten.

Bosnien hatte an der Weltspitze gekratzt. Doch nach dem Ausscheiden bei der WM 2014 begann der schleichende Abstieg ins Mittelmaß - oder aktuell vielleicht sogar bis noch weit darunter.

Trotz der Kritik an einigen Personal- und Taktikentscheidungen bei der Endrunde erhielt Trainer Susic nach dem Abenteuer in Brasilien einen neuen Vertrag. Doch im ersten Pflichtspiel nach dem Turnier, einem EM-Qualifikationsspiel zuhause gegen Zypern, setzte es eine unerwartete 1:2-Niederlage.

Es folgten Unentschieden gegen Wales und Belgien, ehe Bosnien im November 2014 dann Israel mit 0:3 unterlag. "Ich spüre keine Verantwortung für diese Niederlage", wies Susic nach der Partie jegliche Schuld von sich. Dennoch musste er tags darauf gehen, da die Qualifikation für das nächste große Turnier bereits nach vier Spielen in weite Ferne gerückt war.

Unter Susic-Nachfolger Mehmed Bazdarevic lief es dann wieder besser, aus den weiteren sechs Quali-Partien gab es fünf Siege und Bosnien erreichte zumindest noch die Playoffs. Dort zogen Pjanic, Dzeko und Co. allerdings gegen Irland den Kürzeren. Und so nah wie vor der EM 2016 waren die Bosnier in der Folge nie wieder an der Teilnahme an einem großen Turnier dran.

Die Qualität reichte zwar aus, um in der Qualifikation zur WM 2018 mit Griechenland zumindest um Playoff-Platz zwei zu streiten, am Ende wurde Bosnien aber nur Dritter und der Verband trennte sich nach dem verpassten Ziel von Coach Bazdarevic.

Bosnien erreicht in Qualifikation zur EM 2024 neuen Tiefpunkt

In den vergangenen sechs Jahren versuchten sich dann sechs verschiedene Trainer daran, wieder einen neuen Umschwung einzuleiten. Doch die Qualifikationen für die EM 2021 und die WM 2022 gingen schief, bei letzterer gab es nur sieben Punkte aus acht Spielen.

Von den ganz großen Namen glorreicher Zeiten sind inzwischen nur noch Dzeko und Pjanic dabei, beide mittlerweile deutlich über 30 und nicht mehr in ihrer absoluten Blüte. Es kommt zwar durchaus etwas nach, mit Benjamin Tahirovic (20 Jahre, Ajax, Mittelfeld), Amar Dedic (21 Jahre, Rechtsverteidiger, RB Salzburg) oder Ermedin Demirovic (25 Jahre, FC Augsburg, Angriff) zum Beispiel. Eine schlagkräftige Mannschaft zu formen, ist aber auch Savo Milosevic, der seit Ende September auf der Trainerbank sitzt, noch nicht gelungen.

Vielmehr wurde die Qualifikation zur EM 2024 in Deutschland zum vorläufigen Tiefpunkt des Abstiegs des bosnischen Fußballs seit der WM 2014. Zum Auftakt gegen Island im März gab es noch einen 3:0-Sieg - doch in den neun Quali-Spielen danach wurde lediglich noch zweimal gegen Liechtenstein gewonnen, alle anderen sieben Partien gingen verloren.

Schmerzhaft war dabei vor allem die deutliche 1:4-Niederlage in Luxemburg Mitte November. Gegen ein Land, das in der Qualifikation zur WM 2014, als der bosnische Fußball seine Hochphase erlebte, in seiner Gruppe noch chancenlos Tabellenletzter geworden war.

Nun wurde Luxemburg, das beide Partien gegen Bosnien für sich entschied, mit 17 Punkten Dritter. Und die Bosnier mit lediglich neun Zählern Gruppenvorletzter.

Kurios: Dennoch haben Dzeko und Co. noch eine Chance, sich für die EM 2024 zu qualifizieren. Da man nämlich 2022 seine Nations-League-Gruppe vor Finnland, Montenegro und Rumänien gewann, nimmt Bosnien im März an den Playoffs teil. Und könnte die großes Tristesse dabei unverhofft und rasch wieder in Euphorie verwandeln.

Die Abschlusstabelle in EM-Qualifikationsgruppe J mit Bosnien

PlatzLandPunkte
1Portugal30
2Slowakei22
3Luxemburg17
4Island10
5Bosnien9
6Liechtenstein0
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