Das Freundschaftsspiel in Berlin (Samstag, 20.45 Uhr im LIVETICKER) ist für die türkische Nationalmannschaft gewissermaßen ein Vorfühlen für die EM im kommenden Jahr, für welche die Türkei bereits qualifiziert ist.
Es braucht übrigens einige mathematische Kenntnisse, um das vor dem letzten Spiel gegen Wales festzustellen. In jedem Fall treten die Türken im kommenden Jahr in Deutschland an und dürfen natürlich auf jede Menge Unterstützung von den Rängen hoffen.
Diese besondere Atmosphäre wird Stefan Kuntz nicht von der Seitenlinie miterleben, denn seit einigen Wochen ist der ehemalige deutsche Nationalstürmer den Job als Cheftrainer der Türkei los. Er hat sogar angekündigt, dass er sich "sein" Spiel in Berlin gar nicht antun wird. Natürlich wäre die Partie im Olympiastadion für Kuntz eine spezielle gewesen.
Vincenzo Montella formte Adana Demirspor zum Top-Team
Der neue Chef heißt jedoch Vincenzo Montella, ebenfalls ein bekannter Ex-Stürmer und bereits seit 2021 in der Türkei aktiv. In den vergangenen beiden Spielzeiten formte er Adana Demirspor mit etwas Kleingeld und einigen routinierten Spielern zu einem Top-Team der Süper Lig.
Deshalb war es nicht sonderlich überraschend, dass Montella nach seiner Zeit bei Adana ein Kandidat für das Nationalteam werden könnte. Sein Start verlief so optimal wie nur möglich, denn kurz nach seinem Amtsantritt feierte er mit der türkischen Nationalmannschaft einen 1:0-Sieg in Kroatien sowie ein 4:0 zu Hause gegen Lettland, womit die Qualifikation für die EM gesichert wurde. Doch wie so oft im Leben beginnt nach solch einem Erfolgserlebnis erst die richtig harte Arbeit.
Türkei: Vincenzo Montella kann eine stabile Mannschaft formen
Montella ist nun gefragt, das türkische Team derart wettbewerbsfähig zu machen, dass es bei der EM mindestens die Gruppenphase überstehen kann. Kurz vor der Entlassung von Kuntz spielte die Türkei zu Hause unentschieden gegen Armenien und verlor in einem Testspiel gegen Japan mit 2:4 - übrigens nur wenige Tage nach der deutschen Niederlage gegen Japan, dessen Nationalteam ab sofort nur noch Trainer-Killer genannt werden sollte.
Sicherlich war der Sieg gegen Kroatien angesichts der Reputation des Gegners ein wertvoller, aber endgültigen Aufschluss über Montellas taktische Herangehensweise gab das Spiel nur bedingt. Der Italiener änderte in seinen beiden bisherigen Partien personell recht wenig, wenn nicht durch Verletzungen erzwungen. Auch die Grundformation des Teams unterschied sich nicht signifikant zu den Spielen unter seinem Vorgänger.
Trotzdem lassen sich die Ansätze, die Montella verfolgt, erkennen. Er möchte, dass sein Team gegen Ballbesitz-orientierte Nationen wie Kroatien oder eben auch Deutschland recht kompakt im 4-4-2 oder 4-4-1-1 verteidigt. Die beiden Viererketten sollen bewusst, wenn sie sich in zentraler Position befinden, einigen Raum auf den Außenbahnen aufgeben. Damit werden vielleicht Seitenverlagerungen zuweilen zugelassen, aber Pässe durch die Halbräume im besten Fall nicht. Kroatien tat sich phasenweise sehr schwer damit, die Offensivreihe um Petar Musa effektiv einzubinden.
Spielt der Gegner eine Seitenverlagerung hin zur Abseitslinie, soll dann die Viererkette hinten in Richtung Ball verschieben. Mehrmals gab es bei diesen Verschiebungen noch gruppentaktische Schwächen beziehungsweise wurden die Abstände nicht immer gehalten. So orientierte sich etwa der ballferne Innenverteidigung direkt am vor ihm postierten Gegenspieler und ließ deshalb eine Lücke zum anderen Innenverteidiger klaffen, weil der bereits in Richtung Flügel gelaufen war, um den Abstand zum Außenverteidiger zu halten.
Vincenzo Montella: Bei Milan kläglich gescheitert
Glücklicherweise ist Montella ein Coach, der an solchen Details arbeiten kann und wird. Der 49-Jährige mag nicht zur obersten Güteklasse der europäischen Trainer gehören, aber eine seiner Stärken besteht darin, dass er dazu in der Lage ist, ein erfolgsstabiles System zu kreieren und das Team dazu zu trimmen, die Vorgaben so konstant wie möglich umzusetzen.
Seine beste Zeit hatte Montella von 2012 bis 2015 bei der Fiorentina, als der Klub dreimal in Folge mit einem guten, aber keineswegs überragenden Kader auf dem vierten Rang der Serie A landete und sogar einmal das Europa-League-Halbfinale erreichte.
Als er ein Jahr später bei der AC Milan anheuerte und nach einem guten Aufbaujahr plötzlich eine neue Mannschaft formen sollte, die nach dem Eigentümerwechsel durch Neuzugänge im Transferwert von rund 190 Millionen Euro ergänzt wurde, scheiterte Montella recht kläglich.
Montella musste bei Adana Demirspor riesigen Kader handhaben
Sein letzter Vereinsjob bei Adana Demirspor war sicherlich ein besonderer, weil er in diesem Fall wenige Wochen nach Saisonstart einen Aufsteiger übernahm, der jedoch einige routinierte Spieler aus dem Ausland schon zu Zweitligazeiten verpflichtet hatte und auch als Erstligist noch einmal nachlegte.
Montella musste einen riesigen Kader handhaben und auch einige Spieler aufs Abstellgleis befördern. In der Mehrheit setzte er bei den bekannten Namen auf jene, die seine taktischen Vorstellungen umsetzten, was bei Gökhan Inler, Birkir Bjanarson und anderen nicht groß überraschte.
Wie der Erfolg von Adana mit Blick auf die Leistungsfähigkeit der Süper Lig zu bewerten ist, wäre noch einmal Diskussion für sich.
Türkei: Der Schlüsselspieler ist ein Altbekannter
Zurück zur türkischen Nationalmannschaft: Natürlich wird Montella im kommenden Sommer mit einem Kader antreten, der rein von der Qualität irgendwo im Mittelfeld des Teilnehmerfeldes liegen sollte. Auf einzelnen Positionen sind die Türken natürlich gut besetzt. Teilweise, wie etwa in der Innenverteidigung, hakt es an der Abstimmung, aber nicht unbedingt an der Qualität der einzelnen Spieler.
Im zentralen Mittelfeld wird Montella auf Orkun Kökçü bauen und noch auf eine Leistungsexplosion von Salih Özcan hoffen. Das tun sie in Dortmund schließlich auch.
Im Angriff hat sich zuletzt Barış Yılmaz gerade mit seinen Sprints durch die Halbräume angeboten. Sobald Enes Ünal von seiner Kreuzbandverletzung zurück ist, sollte er auch ein Faktor im offensiven Zentrum werden. Als Zuarbeiter und auch Vollstrecker gibt es Kerem Aktürkoğlu, den die Bayern im Aufeinandertreffen mit Galatasaray kennenlernen durften.
Die Schaltzentrale des Teams ist Kapitän Hakan Çalhanoğlu, der gegen Deutschland leider ausfallen wird, aber eine essenzielle Rolle in den Planungen zur EM spielt. Geradezu erschreckend scheint, dass Çalhanoğlu angesichts seiner langen Profikarriere erst 29 Jahre alt ist. Da er ohnehin nie wirklich von seinem Tempo lebte, hat er noch ein paar vielversprechende Jahre vor sich. Was Montella etwa gegen Kroatien versucht hat, war, seinen Spielgestalter in hohen Feldpositionen zu halten. Çalhanoğlu besetzte im Pressing entweder die vorderste Linie oder ließ sich etwas hinter Yilmaz zurückfallen, um den Sechser zu stellen.
Çalhanoğlu: Weiterentwicklung in Sachen Spielverständnis
In jedem Fall sollte Çalhanoğlu nur punktuell zurückfallen, weil Montella dem Anschein nach besonders auf seine Stärken im letzten Spielfelddrittel und im Übergang in die hohen Zonen baut. Bei Inter Mailand spielt der gebürtige Mannheimer im kompakt angelegten System von Simone Inzaghi zumeist auf der Acht, hat aber in der Vergangenheit auch schon einige Male die zentrale Sechserposition begleitet. Çalhanoğlu hat sich seit seiner Zeit in der Bundesliga gerade in Sachen Spielverständnis und dem Gespür für Raumbesetzung noch einmal weiterentwickelt. Deshalb könnte er bei Ausfällen im zentralen Mittelfeld zurückgezogen werden.
Aber im besten Fall spielt Çalhanoğlu vor den Sechsern und umgeben von antrittsstarken Offensivkräften, die er bedienen kann oder die beispielsweise mit kreuzenden Läufen die Schussbahn für ihn aufmachen. Auch wenn die Türken gegen Kroatien weniger als 40 Prozent Ballbesitz hatten und in der Mehrheit das verteidigende Team waren, sie waren nicht das ausschließlich reaktive, sondern haben zumindest phasenweise versucht, den Spielaufbau der Kroaten ein Stück weit aktiv zu leiten.
Test gegen Deutschland kommt zur rechten Zeit
Montella ist nicht darauf aus, dass die türkische Nationalmannschaft noch einmal wie bei der vergangenen Europameisterschaft auftritt, als man mehrheitlich tief verteidigte, nichtsdestotrotz große Lücken klafften und man vergeblich auf erfolgreiche Umschaltangriffe hoffte. 2021 wurde die Türkei mit 0 Punkten und 1:8-Toren Gruppenletzter.
Im kommenden Sommer bei einem selbstverständlich besonderen Turnier für das türkische Team soll weit mehr herausspringen. Wichtig wird für den neuen Cheftrainer, dass er die richtige Mischung aus offensivem Risiko und konzentriertem Pressing anrührt und die erwähnten gruppentaktischen Unzulänglichkeit mit einem eingespielten Team behebt.
Der Test gegen eine unfertige Ballbesitzmannschaft wie Deutschland kommt für Montella insofern zur rechten Zeit. Selbst wenn die Türkei verlieren sollte, kann er wichtige Schlüsse aus dem Duell mit der favorisierten DFB-Elf ziehen und darauf aufbauend die Vorbereitung für die Europameisterschaft weiter vorantreiben.