Von der Legende zum Deluxe-Einwechselspieler

SID
David Beckham flankt derzeit als Leihgabe von L.A. Galaxy beim AC Mailand
© Getty

In seiner aktuellen SPOX-Kolumne beschäftigt sich Raphael Honigstein mit der Karriere von David Beckham. 1999 machten ihn zwei Minuten zur Legende, danach konnte er die Versprechen nur selten erfüllen. Von Manchester führte ihn sein Weg über Madrid ins Fußball-Entwicklungsland USA. Beim AC Mailand und in der Nationalmannschaft hat er sich inzwischen mit einer neuen Rolle angefreundet.

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Die Vergangenheit ist vorbei, es ist keine Narbe geblieben. David Beckham saß am Montag gut gelaunt im Milanello-Trainingszentrum des AC Milans und schwelgte in schönen Erinnerungen. "Sir Alex ist der beste Trainer der Welt, er war wie ein Vater für mich, ich habe ihm so viel zu verdanken", säuselte der 34-Jährige, "ich erinnere mich nur an die schönen Zeiten."

Dabei gab es auch andere. Auf den Tag genau vor sieben Jahren war er mit einem dicken Pflaster über der linken Braue zum Training in Carrington erschienen. Becks präsentierte sich damals der ganzen Welt als Opfer. Nach dem 0:2 gegen Arsenal im FA-Pokal am Samstag zuvor hatte Ferguson in einem cholerischen Anfall einen Stollenschuh in der Kabine getreten; das Ding traf ausgerechnet Beckham am Kopf.

Ferguson entschuldigte sich danach ohne echte Reue, die Sache sei ein freak accident gewesen, ein bizarrer Unfall. "Ich könnte das noch hundert Mal versuchen, es würde mir doch nicht gelingen", grummelte der Schotte.

"The Boot Incident" markierte den Wendepunkt in Beckhams Karriere, und das in mehrerer Hinsicht. Das Verhältnis zu seinem Ziehvater war danach zum einen nicht mehr zu kitten. Zwei Monate später musste Beckham zunächst von der Bank aus zusehen, wie Manchester United im Viertelfinale der Champions League gegen Real Madrid ausschied.

Achselzucken zum Abschied

Im Hintergrund liefen zu diesem Zeitpunkt längst die Transfer-Verhandlungen. Beckham wollte ein Galaktischer werden, Ferguson hatte das Vertrauen in den Spieler verloren.

Als der 36-Millionen-Euro-Deal besiegelt war, stellten Beckhams gewiefte Berater den Wechsel als harte Entscheidung von Ferguson dar: das schmeichelte dem Coach und ermöglichte dem Nationalmannschaftskapitän, ohne Anfeindungen durch die englischen Fans elegant das Weite  - und ein paar Millionen mehr - zu suchen.

Hass oder Häme hatte "Golden Balls", wie ihn seine Frau Victoria nannte, dabei gar nicht zu befürchten. In Manchester reagierte man eher achselzuckend auf den Abschied des Pop-Idols. Beckham hatte soeben eine äußerst durchschnittliche Saison absolviert.

Zwei Minuten bis zur Legende

Er war nie ein Zidane oder Cantona. Im Champions League-Finale 1999, als er für Roy Keane und Paul Scholes (beide waren gelb-gesperrt) in der Mitte aushelfen musste, führten ihn Effenberg und Co. 89 Minuten lang böse vor. Dann kamen zwei Ecken, zwei Minuten, die ihn und sein Team zu Legenden machten.

Rennen, flanken und Freistöße schießen konnte er ja wirklich wie kein Zweiter. Auf seine sehr spezielle Art spielte er eben doch fast so gut, wie er aussah. Und wenn man Spieler allein an ihren Höhen messen würde, dann war er um die Jahrhundertwende tatsächlich einer der Besten der Welt.

2001, in der WM-Qualifikation gegen Griechenland, machte er das Spiel seines Lebens. Überall tauchte er auf, kurz vor Schluss setzte er einen Freistoß in den Torwinkel. Danach ist sein Spiel ist der Weltmarke "Beckham" nicht mehr gerecht geworden. Nie mehr.

Spanischer Forrest Gump

Sein Wechsel ins Superstar-Ensemble von Florentino Perez ließ, im Gegenteil, eine gewaltige Schere aufgehen: der Hype um den kickenden Teenie-Schwarm wurde immer größer, die Leistung aber stagnierte oder ging gar zurück.

Beckham erwies sich in der dekadenten Real-Kabine als echter Profi und lief auf dem Platz meist für zwei, geriet aber sportlich in eine tiefe Sinnkrise; überspitzt formuliert begann damals bereits der Anfang vom Ende des Fußballers David Beckham.

"Forrest Gump" nannte ihn die spanische Presse, weil er oft ziellos im Mittelfeld umherirrte. Die Galaktischen beendeten die Saison2003/04 auf einem enttäuschenden vierten Platz.

Müder Beckham zur WM

Vor lauter Laufen ging Beckham plötzlich sogar jene Kondition ab, die ihn bei United so wertvoll  gemacht hatte. Bei der Europameisterschaft in Portugal 2004 trabte er laut schnaufend hinter den Portugiesen her und versemmelte einen wichtigen Elfmeter.

Ausflüge auf seine heimliche Lieblingsposition ins zentrale Mittelfeld, wo McClaren ihn einen "Quarter-Beck" spielen ließ, endeten danach mit großen Blamagen. Bei der enttäuschenden WM in Deutschland hörte Englands rechte Seite meist schon vor der Mittellinie auf, weil ein müder Beckham das Leder oft diagonal nach vorne kloppte.

"Hollywood-Bälle" nannte sein früherer Jugentrainer in Manchester diese Pässe und weite Flanken, weil sie ihn ins Scheinwerferlicht rückten - und die meisten Mitspieler in den Schatten.

Tränen einer Norwegerin

Die damals heftig geführte Debatte über die zu vielen langen Bälle auf Stürmer Peter Crouch, die seine Mittelfeld-Kollegen aus dem Spiel nahmen, alles immer wieder in die Breite zogen und sehr langsam machten, war eine auch eine Debatte über ihn.

"Es gab eine  Zeit, da wurden Spieler nur nach ihrer Leistung aufgestellt...", begann vor dem neuerlichen Viertelfinal-Aus gegen Portugal ein Artikel des ehemaligen Arsenal-Profis Alan Smith im "Daily Telegraph".

Der Rest war eine sehr sachliche Analyse des Abstieg eines Superstars. Als er in Baden-Baden vom Kapitänsamt zurücktrat, um der Zurückstufung durch den kommenden Trainer Steve McClaren zuvor zu kommen, vergoss außer ihm und einer norwegischen Fernsehreporterin im Publikum niemand Tränen.

Eine Zehenspitze in der Tür

Perez' Projekt der "Zidanes und Pavones" fiel derweil in sich zusammen. Madrid verschliss einen Trainer nach dem andern. Beckham wurde 2007 endlich spanischer Meister, bekam aber keinen neuen Vertrag mehr. Der Transfer zur LA Galaxy war die Flucht eines Mannes vor sich selbst und ein Eingeständnis: die big time war für ihn vorbei.

Englands EM-Qualifikations-Blamage und der Neuanfang unter Fabio Capello öffneten ihm ein letztes Mal die Tür. Er hat nun zumindest eine Zehenspitze drinnen. Einen guten Monat nach Beginn seines zweiten Halbjahres bei Milan hat sich seine Rolle im Verein der in der Nationalmannschaft angespasst.

Beckham ist ein Deluxe-Einwechselspieler, der spät kommt, um entweder ballsicher den Vorsprung zu verwalten oder mit Standardsituation und den nach wie vor exquisiten Flanken Torchancen aus dem Nichts zu kreieren.

Beckham als Nostalgiker

Revanche-Gelüste habe er keine, hat Beckham vor dem Spiel Milans am Dienstagabend gegen ManUnited (20.30 Uhr im LIVE-TICKER und auf SKY) gesagt, im Gegenteil: am liebsten hätte er nie für einen anderen Verein  als United gespielt. Es ist müßig darüber nachzudenken, was ohne den Vorfall mit dem Schuh aus der Nummer Sieben passiert wäre, aber eines lässt sich mit Sicherheit sagen: Beckhams Nostalgie ist nachvollziehbar.

United gewann ohne ihn noch drei Meisterschaften in Folge und ein zweites Mal die Champions League. Er dagegen hat das große Versprechen, für das sein Name stand, nicht erfüllen können.

David Beckham im Profil

Raphael Honigstein lebt und arbeitet seit 16 Jahren in London. Für die "Süddeutsche Zeitung" berichtet er über den englischen Fußball und ist Kolumnist für die britische Tageszeitung "The Guardian". Beim früheren Premier-League-Rechteinhaber "Setanta Sports" fungierte Honigstein als Experte für den deutschen Fußball. In Deutschland wurde der 36-Jährige auch bekannt durch sein Buch "Harder, Better, Faster, Stronger - Die geheime Geschichte des englischen Fußballs". Zudem ist er als Blogger bei footbo.com tätig.