Als Gianluigi Buffon 2001 zu Juventus wechselte, schien ein Fluch über dem Juve-Tor zu hängen. "Sagen wir es so: Ich hoffe, dass ich auf andere Weise entscheidend sein werde als er", sagte der damals 23-jährige Buffon bei seiner Präsentation. Er, das war Edwin van der Sar. Der Niederländer hatte das Juve-Tor in den vorangegangenen zwei Spielzeiten gehütet und war dabei wegen einiger Patzer ins Visier von Fans und Presse geraten. Der größte kostete Juve in der Saison 2000/2001 den Scudetto.
Im direkten Duell mit Titel-Kontrahent Rom ließ van der Sar in der Nachspielzeit einen Weitschuss von Hidetoshi Nakata unglücklich nach vorne klatschen und Vincenzo Montella staubte zum 2:2 ab. Wenige Spieltage später war die Roma Meister - mit zwei Punkten Vorsprung auf Juve.
Schlechte Zeit bei Juve
"Es muss wohl in den Sternen gestanden sein, dass diese Partie so endete, denn so eine Leichtfertigkeit wird van der Sar in seiner ganzen Karriere nicht mehr passieren", sagte Buffon damals. Juves Experiment, erstmals in der langen Vereinsgeschichte auf einen ausländischen Stammtorwart zu setzen, ging ordentlich in die Hose.
Heute, knapp zehn Jahre später, ist es beinahe unvorstellbar, dass van der Sar einst so eine Phase zu durchstehen hatte. Van der Sar, der mittlerweile alle Titel mit ManUtd gewonnen hat, die es zu gewinnen gibt - mit Ausnahme des FA Cups. Van der Sar, der mit 130 Nationalmannschaftseinsätzen Rekordspieler der Niederlande ist.
Van der Sar, der in der Saison 2009/10 1311 Premier-League-Minuten kein Tor kassierte und damit einen Weltrekord aufstellte. Van der Sar, der ManUtd in seiner letzten Saison höchstwahrscheinlich zu Rekord-Titel Nummer 19 führen wird.
"Ich war in Italien nicht gut"
"Ich war die zwei Jahre in Italien nicht gut. Das war nicht das Niveau, das ich bei Ajax hatte. Warum das so war, weiß ich nicht", sagte van der Sar, nachdem er Turin verlassen hatte und zum FC Fulham gewechselt war.
Vielleicht lag es an der unterschiedlichen Auffassung des Torwartspiels. "Bei Ajax stand immer der Ballbesitz im Mittelpunkt. Meine Vorderleute banden mich mit Rückpässen ins Spiel mit ein, ich war immer auf der Suche nach dem freien Mann", erzählte van der Sar im "UEFA"-Interview über seine Ajax-Zeit.
In Italien hingegen stand das "Parieren von Schüssen" im Mittelpunkt, so van der Sar. "Der Ball sollte nicht zu lange in der eigenen Abwehr bleiben, das wurde als zu riskant angesehen. Deshalb hieß es: Hau den Ball nach vorne."
Louis van Gaal als Ziehvater
Zwei unterschiedliche Auffassungen vom Torwartspiel, die van der Sar aber beide noch zu Gute kommen sollten. "Bei United versuchen wir, einen guten Mix von beidem herzustellen. Meine Mitspieler binden mich mit ein, das ist meine Art des Torwartspiels."
Blog: "The only number 1 - Van der Sar"
Manchester United und eine besondere Art des Torwartspiels - das sind die zwei zentralen Punkte der Karriere des Edwin van der Sar. Für Ex-Bayern-Coach Louis van Gaal und seinen Torwart-Coach Frans Hoek war van der Sar immer mehr als nur ein Torwart. Er ist "ihr" Torwart. Zusammen formten sie van der Sar bei Ajax zum Prototypen des modernen Keepers, zum "Torspieler", wie Hoek van der Sar nennt.
Die zentrale These ihrer Theorie: Ein Torwart ist mehr als nur ein Torverhinderer, er ist Feldspieler Nummer elf, der aktiv am Spiel teilnimmt und es von hinten mit präzisen Pässen einleitet.
Mit 34 zu ManUtd
Bei van der Sar wurde dieser Prozess erst spät eingeleitet - so wie vieles in seiner Karriere. Erst mit 20 war er auf Anraten von van Gaal zu Ajax gekommen. Der schickte ihn zuerst ins Reserveteam und zog ihn dann zu den Profis hoch, wo er seinen steilen Aufstieg startete. Sein Wechsel nach England erfolgte erst mit 30, nach Manchester kam er gar erst im Alter von 34 Jahren.
Dabei hätte das schon viel früher passieren können. Nachdem Peter Schmeichel United 1999 zum legendären Triple geführt hatte und danach Manchester verließ, hatte Ferguson van der Sar als Nachfolger für den Dänen vorgesehen. "Ich hätte Edwin damals gerne geholt, aber da war nichts zu machen", erzählte Ferguson Jahre später.
Van der Sar war sich bereits mit Juve einig, Fergusons verzweifelter Versuch, den Niederländer am Flughafen von Amsterdam im letzten Moment doch noch umzustimmen, blieb erfolglos. "Er kam zu spät", sagte van der Sar rückblickend.
Ferguson: "Er ist der Beste seit Schmeichel"
Mehrere Jahre probierte ManUtd ein halbes Dutzend Keeper aus, darunter Fabien Barthez, Massimo Taibi und Mark Bosnich, wurde aber nie wirklich glücklich. Bis es 2005 schließlich doch mit dem van-der-Sar-Transfer klappte.
"Edwin ist ein Winner-Typ mit einem starken Charakter. Er gibt auf sich acht und trainiert stets hochkonzentriert. Er ist der beste Keeper, den wir seit Peter Schmeichel hatten", beschreibt Ferguson seinen Torwart. "Es gibt viele Spieler, die das Spiel auf die leichte Schulter nehmen, wenn sie so viel gewonnen haben wie Edwin es getan hat. Aber er will immer mehr."
So wie im Champions-League-Finale 2008 gegen den FC Chelsea, als van der Sar im Elfmeterschießen den entscheidenden Strafstoß von Nicolas Anelka hielt. Diese Szene steht stellvertretend für van der Sars Wesen. Er, der Held des Abends, stellte sich danach hin und antwortete auf die Frage, was ihm durch den Kopf gegangen sei, als er den Elfmeter gehalten hatte: "Du siehst ihn kommen, du hältst ihn und dann stehst du auf und weißt, dass das Spiel aus ist." Game Over. Für Chelsea.
Sehnsucht nach Ruhe
Mit seinen 1,98 Metern ist van der Sar ein sanfter Riese, ruhig und besonnen. Als United vor kurzem das FA-Cup-Halbfinale gegen ManCity verlor und damit auch die Chance auf das Triple, sagte er nur: "Ihr Reporter habt uns immer aufs Triple angesprochen und Vergleiche zu 1999 gezogen. Wir arbeiten morgen ganz normal weiter. Wir fahren nach Carrington (Uniteds Trainingszentrum, Anm. d. Red.), laufen aus, nehmen ein Bad und werden dann gegen Newcastle spielen."
Van der Sar wollte im Verlauf seiner Karriere hauptsächlich eines: Ruhe. "Bereits nach ein paar schlechten Ergebnissen wird man von allen Seiten attackiert. Das möchte man nicht, man will Ruhe - und die bekommt man, indem man Spiele gewinnt", betonte van der Sar immer wieder.
40, aber noch fit
Vielleicht bescherte van der Sar auch dieser Drang nach Harmonie eine so lange Karriere. "Er kann spielen, bis er 40 ist", hatte Ferguson 2006 gesagt. Eine gute Prophezeiung, wie sich jetzt herausstellt. Exakt mit 40 Jahren wird van der Sar am Saisonende seine Karriere beenden. Aber nicht, weil es nicht mehr geht.
"Mein Alter hat keine Rolle bei dieser Entscheidung gespielt. Ich bin zwar 40, aber immer noch fit", sagt van der Sar. Der Keeper will sich jetzt voll seiner Familie widmen - vor allem Gattin Annemarie, die im Dezember letzten Jahres eine Hirnblutung erlitten hatte. "Seit diesem Moment habe ich mich mit dem Rücktritt beschäftigt", sagt van der Sar.
In wenigen Wochen wird er diesen Gedanken in die Praxis umsetzen und dann zufrieden auf eine besondere Karriere zurückblicken. Eine Karriere, in deren Verlauf er viele Kritiker von sich überzeugt hat. So wie den langjährigen, mittlerweile verstorbenen "Gazzetta dello Sport"-Chefredakteur Candido Cannavo, dessen letzter Artikel vor seiner schweren Krankheit eine Hommage an van der Sar war.
Der Titel: "Jetzt lacht keiner mehr über van der Sar." Cannavo kam darin zum Schluss: "Das Leben ist äußerst fantasiereich und rächt sich manchmal mit einem Lächeln."
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