Bruce Grobbelaar wurde in den Achtzigern als Torwart des FC Liverpool zur Legende und blieb dem Klub auch nach der Karriere eng verbunden. Chris Shaw beschrieb mit seinem Buch "Our Liverpool" Verein und Fankultur an der Anfield Road. Im Doppel-Interview mit SPOX sprechen Grobbelaar und Shaw über Schnapsideen, Liverpools Herzschlag und nette Bayern-Fans.
Der eine ist eine lebende Legende. Liverpools Kult-Keeper Bruce Grobbelaar (54) hat im Elfmeterkrimi (5:3 n. E.) des Europacupfinals 1984 die Spieler des AS Rom mit seinen berühmten "Spaghetti Legs"-Drehungen auf der Torlinie zur Verzweiflung gebracht. Wenn Brucie heute über "seinen" FC Liverpool spricht, ist er genauso temperamentvoll wie früher auf dem Rasen. Da forderte er u. a. den Teamkollegen Steve McManaman zum Boxkampf.
Der andere hat mit seinem Buch "Our Liverpool" tiefe Einblicke ins Seelenleben des Kultklubs von der Merseyside geliefert. Chris Shaw (45) geht seit 1973 zur berühmten Fan-Tribüne "The Kop". In der Chaos-Saison 2009/2010 mit Insolvenzgerüchten um die Reds recherchierte der Universitätslektor und ehemalige Journalist in der Fanszene.
Shaw sprach mit Anhängern, Bloggern und Fanbeauftragten aus aller Welt über ihre Sorgen und Nöte mit dem 18-fachen englischen Fußballmeister. Shaw: "Viele Fans verbringen bis zu 30 Stunden pro Woche mit ihrem Team und geben pro Saison bis zu 4500 Euro aus, um Liverpool zu sehen."
SPOX: Bruce Grobbelaar, wann waren Sie zum letzten Mal so richtig wütend über den FC Liverpool?
Bruce Grobbelaar: Ich ärgere mich sehr oft. Besonders dann, wenn sie wie zuletzt gegen schwache Gegner zu Hause Punkte liegen lassen. Aber richtig in Rage war ich gegen Manchester United (1:1 am 15. Oktober, d. Red.), als die Reds es nicht geschafft haben, sie mit einem weiteren Tor fertig zu machen.
SPOX: Und Sie, Mister Shaw?
Chris Shaw (lacht): Ich bin sehr leidenschaftlich. Der FC Liverpool war in großer Gefahr. Die US-amerikanischen Eigentümer waren erbärmlich und haben mich wütend gemacht. Und natürlich der Transfer von Fernando Torres zum FC Chelsea im Januar.
SPOX: Wie wichtig war die Rückkehr von King Kenny Dalglish zum FC Liverpool?
Grobbelaar: Es ist gut, dass Liverpool Kenny verpflichtet hat, denn er hat das sinkende Schiff zusammen mit den neuen Eigentümern in ruhigere Fahrwasser gebracht.
Shaw: Ich war im Januar 2011 beim letzten Spiel unter Roy Hodgson im Stadion und die Stimmung unter den Fans war eine eigenartige Mischung aus Ärger und Ablehnung gegenüber dem Trainer. Wir brauchten jemanden, dem wir vertrauen konnten und der die Atmosphäre im Verein kannte. Zu wissen, dass Dalglish zurück ist, ist ein echter Wohlfühl-Faktor.
SPOX: Wie schätzen Sie die momentane Situation in Liverpool ein?
Shaw: Ich kann nur sagen, dass die neuen Eigentümer keine Versprechen gemacht haben, die sie nicht halten konnten. Sie hören den Fans zu und das ist sehr wichtig.
Grobbelaar: Der Kop hatte in den letzten Jahren ein bisschen was von seinem Zauber verloren, aber mit dem neuen Eigentümerteam geht es wieder in die richtige Richtung.
SPOX: Was ist aus Ihrer Sicht entscheidend, um wieder unter die großen Vier in der Premier League zurückzukehren?
Shaw: Es ist beachtlich, wie Tottenham sich an die großen Vier herangeschlichen hat. Sie sind Liverpools größte Gefahr. Ich hoffe auf 24 oder 25 Saisonsiege. Das klappt aber nur, wenn wir häufiger zu Null spielen ...
Grobbelaar: Die Abwehr stärken und Flanken vermeiden, das ist es!
Shaw: Richtig. Bei Spielern wie Stewart Downing and Jordan Henderson muss man abwarten. Bringen sie genügend Qualität mit, um auch außerhalb von Anfield den Kasten sauber zu halten? Für mich ist auch die Rückkehr von Steven Gerrard ein massiver Schub für das Team. Wenn er für den Rest seiner Karriere fit bleibt, können wir Tottenham im Kampf um die großen Vier herausfordern.
Grobbelaar: Für mich ist mit Kenny Dalglish eine neue Ära in Liverpool eingeleitet worden und meiner Meinung nach wird er das Team in den nächsten drei Jahren zum Meistertitel führen.
SPOX: Bruce Grobbelaar, im September 2010 haben Sie in einem Interview gesagt, dass Liverpool "ein neues Herz braucht"...
Shaw: Eine schöne Metapher...
Grobbelaar (lacht): Stimmt. Mit den neuen Eigentümern haben wir den Herzschlag von Anfield wieder und John W. Henry hat sein Geld gut angelegt. Er hat wichtige Spieler gehalten, neue Stars geholt und er hat die Leute verpflichtet, die Kenny Dalglish für sein System haben wollte.
SPOX: Wie denken Sie darüber, Chris?
Shaw: Wenn man auf den September 2010 zurückblickt, bekommt man immer noch Angst. Damals vergiftete eine Atmosphäre von Enttäuschung und Desillusionierung den ganzen Verein. Die Fans trugen den Protest gegen die alten Eigentümer Hicks und Gillett ins Stadion. Ich selbst bin ein paar Mal mitmarschiert. Die Stimmung war aufgeheizt, zwischen Protest und Palastrevolte. Als der Klub von John W. Henry übernommen wurde, war der ganze Ärger plötzlich weg.
SPOX: Was wünscht Bruce Grobbelaar Klub-Eigentümer John W. Henry?
Grobbelaar: Ich wünsche mir, dass Henry ganz schnell die Frage nach dem neuen Stadion klärt. Liverpool braucht ein Stadion mit mindestens 75.000 Plätzen und 125 VIP-Logen, Restaurants und vielem mehr. Ohne eine neue Arena werden wir finanziell den anderen Großen weiter hinterher hinken und es wird schwerer, gute Spieler für Anfield zu begeistern. Das ist der kritische Punkt für den Eigentümer und für den Verein, um unter die großen Vier zurückzukehren.
SPOX: Und Sie, Chris?
Shaw: Ich wünsche Henry, dass er in den nächsten drei Jahren die Premier-League-Meistertrophäe stemmen darf. Spaß beiseite: Henry wird die Stadionfrage klären und dem FC Liverpool neue Wege in Sachen Marketing und Merchandising zeigen. Da ist in den letzten Jahren einiges vernachlässigt worden. Liverpool hat weltweit 200 Fanklubverbände. Die Zahlen der bekennenden Fans zwischen der Merseyside und Mauritius schwanken zwischen 20 und 100 Millionen. Das können nur ganz wenige Klubs vorweisen.
Seite 2: Grobbelaar und Shaw über deutsche Fans und Liverpool als globalen Klub
SPOX: Schulden, Leidenschaft und Drama - Untertitel zu Ihrem Buch "Our Liverpool". Was waren die wichtigsten Erlebnisse während Ihrer Recherche in der Fanszene, Chris?
Shaw: Der gute Wille der Liverpool-Fans, mit denen ich in Mönchengladbach war. Zu diesem Verein besteht sein vielen Jahren eine großartige Fan-Freundschaft. Auch die Fans von Bayern München waren sehr nett. Der am meisten bewegende Moment war die Gedenkfeier für die 96 Toten der Stadionkatastrophe von Hillsborough.
SPOX: Liverpool-Legende Dietmar Hamann hat die deutschen Fans mal als "Scouser" (Spitzname der Menschen in Liverpool, d. Red.) bezeichnet, weil sie auch den Fußball, Bier und Späße mögen. Wie nahe sind die Deutschen dran am Liverpooler Original?
Shaw: Das ist ganz interessant: Es gibt ja zweifelhafte Beschreibungen des deutschen Fußballs und seiner Fans in den britischen Medien.
SPOX: Wir haben davon gehört...
Shaw: Ja? (lacht). Gut, nach Englands 5:1-Triumph gegen Deutschland in München (WM-Qualifikation 2001, d. Red.) haben viele Fans bei uns von nichts anderem mehr gesprochen. Aber sie haben vergessen, dass Deutschland anschließend ins WM-Finale gekommen ist - und England nicht. Von meinen Reisen nach Deutschland weiß ich: Die Fans haben es gerne mit den Engländern zu tun und sie sprechen am Liebsten mit ihnen über Fußball. Die Atmosphäre in den deutschen Stadien ist sehr gut. Die vielen Klischees aus dem Zweiten Weltkrieg, die von den Boulevardmedien immer wieder gebraucht werden, stören dieses gute Verhältnis.
Grobbelaar: Dietmar Hamann hat absolut recht, wenn er sagt, dass die "Scouser" in Liverpool und die Deutschen ähnlich sind. Sie lieben diesen Sport und ein gutes Bier. Und ich kann sagen, dass ich auch die Unterstützung der deutschen Fans in den Stadien liebe.
SPOX: Ist Liverpool ein globaler Klub und wie wichtig sind die Fans außerhalb Großbritanniens?
Grobbelaar: Nehmen Sie nur Norwegen als Beispiel. Dort gibt es mehr als 120.000 organisierte Liverpool-Fans. In Deutschland sind es mehr als 20.000 und auch in den USA entstehen in vielen Städten neue Fanklubs. Von daher sind wir einer der größten globalen Klubs.
Shaw: Die Fans außerhalb Großbritanniens sind sehr wichtig. John W. Henry hätte den Verein sicher nicht übernommen, wenn er sich dessen nicht bewusst wäre.
Grobbelaar: Liverpool hat aufgrund seiner Dominanz in den 1970er und 1980er Jahren ein Vermächtnis zu bewahren. Erst recht nach dem Champions-League-Wunder 2005 in Istanbul. Nur der sportliche Erfolg wird unsere Position als globaler Klub auch in Zukunft sichern.
SPOX: Champions-League-Finale 2005 gegen Milan: Bruce Grobbelaar, im Elfmeterschießen wurde Reds-Keeper Torhüter Jerzy Dudek für seine Reflexe auf der Torlinie gefeiert. Sie haben 1984 in Rom mit ihren "Spaghetti Legs"-Bewegungen die Spieler der Roma entnervt. Hat Dudek Sie kopiert?
Grobbelaar: Ich denke nicht. Vor dem Elfmeterschießen in Istanbul soll Jamie Carragher zu ihm gesagt haben: 'Mach es wie Brucie', aber ich bin nicht sicher, ob Dudek überhaupt gewusst hat, wer ich bin... Jedenfalls hat er seinen eigenen Stil gehabt. 1984 war Wahnsinn und es war alles regelkonform...
SPOX: Chris, in "Our Liverpool" blicken Sie auch auf das gigantische Fan-Potenzial der Reds in Asien. Warum ist Fernost so wichtig für den Klub und für den englischen Fußball insgesamt?
Shaw: Asien war immer schon der Kontinent für das sogenannte "New Business" und auch für neue Fangruppen. Das Interesse am FC Liverpool in China ist in den letzten fünf Jahren immens gestiegen. In Shanghai habe ich die Hard Days Night-Bar besucht - mit einem Taxifahrer, der ungefähr so schnell war wie Euer Michael Schumacher in seinen wilden Tagen... Obwohl die Liverpool-Spiele dort um zwei Uhr nachts chinesischer Zeit gezeigt werden, ist der Laden immer voll. In Malaysia oder Thailand sind die Stadien ausverkauft, wenn Liverpool kommt. Asien ist nicht nur für die englischen Vereine der Markt der Zukunft.
Grobbelaar: Fußball ist der einzige globale Sport der Welt. Er hat sich in ein Konsumprodukt verwandelt. Das heißt aber nicht, dass die Fans zu Hause bleiben und sich die Spiele im Fernsehen anschauen. Menschen sind neugierig und sie brauchen eine große Bühne. Die gibt ihnen der Fußball auch in Asien.
SPOX: Chris, die Inspiration zu Ihrem Buch lieferte Ihr Freund Stephen Rooney, der 2009 mit nur 41 Jahren bei einem Arbeitsunfall in Saudi-Arabien starb...
Shaw: Anfangs war es eine Schnapsidee. Ich saß mit Stephen am Syntagma-Platz in Athen und wir ertränkten unseren Kummer über die 1:2-Niederlage der Reds im Champions-League-Finale gegen den AC Mailand. Ich habe beiläufig gesagt, dass sich der Support rund um den FC Liverpool ganz schön verändert hat. Stephen und ich gingen seit den Siebzigern nach Anfield und wir fanden es interessant, unsere Heimatstadt Liverpool mit der nationalen und der internationalen Anhängerschaft des Klubs zu vergleichen. Stephen klopfte mir auf die Schulter und sagte: 'Das ist eine gute Idee und Du bist der Mann, der das Buch schreibt.' Im April 2009, 24 Stunden nach dem 4:0 über Real Madrid in der Champions League, stand ich an Stephens Grab...
SPOX: Bruce Grobbelaar, wo haben Sie dieses Spiel gesehen?
Grobbelaar: Es gibt die Fußballerweisheit, dass sich so ein Wunder wie 2005 in Istanbul nicht wiederholt. Jeder hat gesehen, dass das so ist. Ich habe das Spiel in Südafrika in einem Pub bei Durban gesehen - und mich mächtig geärgert.
Der FC Liverpool im Steckbrief