Die Meldung mutet wie ein verfrühter Aprilscherz an, ist aber wahr: Beim Londoner Derby zwischen Tottenham Hotspur und Chelsea am Donnerstagabend werden Ordner auf ihren Mützen Kameras tragen, um gegen Zuschauer vorzugehen, die mit "schmutziger, beleidigender, rassistischer oder schwulenfeindlicher Sprache" auffallen.
"Der Verein betreibt eine Politik der Null-Toleranz", hieß es auf der Internetseite der Spurs. Die an Heim- und Auswärtsfans gerichtete Warnung kommt nicht von ungefähr. Weiß gegen Blau ist schon seit vielen Jahren ein Problemspiel, bei dem es in und außerhalb der Stadien regelmäßig zu unappetitlichen Sprechchören und kleineren Raufereien kommt.
Die diesjährige Auflage ist allerdings auf Grund der aktuellen Lage besonders brisant. Zum einen verkündete am Mittwoch die Staatsanwaltschaft, dass sich John Terry demnächst vor Gericht verantworten muss, der Chelsea-Kapitän soll QPR-Verteidiger Anton Ferdinand im Oktober rassistisch beleidigt haben.
Die Zeiten als Underdog sind vorbei
Die Zuschauer an der White Hart Lane werden diese Nachricht kaum unkommentiert lassen. Dazu kommt die Tabelle: Tottenham steht kurz vor Weihnachten zwei Punkte vor den Blues auf dem dritten Platz, das ist in der Geschichte der Premier League unerhört. "Vor ein paar Jahren hätten wir vor so einem Match nicht von ausgeglichenen Chancen gesprochen", sagte Spurs-Coach Harry Redknapp.
In der Tat wurden die als "Totts", "Spuds" oder "Spers" belächelten Nordost-Londoner von der innerstädtischen Konkurrenz lange nicht richtig ernst genommen. Bei Chelsea-Anhängern firmierte der Platz der Rivalen bis zur Mitte des Jahrzehnts sogar unter dem Namen "Three Points Lane", weil man dort regelmäßig siegte.
Noch diesen August schien es, als ob sich an den grundsätzlichen Kraftverhältnissen nichts geändert hätte. Der Abramowitsch-Klub bot gut 35 Millionen Euro für Tottenhams kroatischen Spielmacher Luka Modric, und obwohl die Spurs den 26-Jährigen für unverkäuflich erklärten, gingen auf der Insel alle von einer Einigung aus.
Denn Tottenham, ein an der Londoner Börse notierter Klub, der seit 2001 von dem auf den Bahamas ansässigen Devisenhändler Joe Lewis kontrolliert wird, ist für maßvolles Wirtschaften bekannt. Ohne die Teilnahme an der Champions League müsse der Kader "gestrafft" werden, hatte Geschäftsführer Daniel Levy im Sommer erklärt.
Schlüsselspieler blieben bei den Spurs
Aber entgegen den Erwartungen blieb Levy in der causa Modric tatsächlich stur, obwohl der kleine Kroate quasi die Arbeit verweigerte. Zum Auftakt gegen Manchester United (0:3-Niederlage) meldete sich Modric beim Trainer ab, der Spieler sei "im Kopf nicht frei", berichtete Redknapp pikiert. Eine Woche später stand Modric wieder auf dem Platz, ging jedoch mitsamt seinen Kollegen 1:5 gegen Manchester City unter. Redknapp sprach daraufhin von einer "fürchterlichen Vorbereitung": "viele (Spieler) gingen oder wollten gehen."
Die Schlüsselspieler Modric, Gareth Bale und Rafael van der Vaart blieben aber letztlich, zudem kam mit Nationalspieler Scott Parker (West Ham) eine echte Verstärkung für die Zentrale. Die Folge: die Spurs starteten eine sensationelle Serie mit 34 Punkte aus dreizehn Spielen. Redknapps vollmundige Ankündigung, um die Meisterschaft mitspielen zu wollen, wirkt von Woche zu Woche weniger anmaßend.
"Die Spurs sind das Team, das ich zur Zeit am liebsten spielen sehe", sagte Alex Ferguson kürzlich, "ich bin sehr beeindruckt von ihrem Fußball". Obwohl sich hinter dem Lob des United-Trainers natürlich auch eine kleine Spitze gegen die Konkurrenz von City und Chelsea verbarg, zeigt es aber, wie weit Tottenham in der vierten Saison unter Redknapp gekommen ist.
Argentinische Revolution in London
Spurs-Fan Adam Nathan, ein prominenter Tweeter, spricht gar von einer regelrechten "Renaissance" des Klubs "nach knapp drei Jahrzehnten Chaos und Instabilität". Eine echte Spitzenmannschaft war man zuletzt Ende der Siebziger/Anfang der Achtziger, als die aus Argentinien importierten Weltmeister Ricardo "Ricky" Villa und Osvaldo "Ossie" Ardiles eine regelrechte Revolution im englischen Fußball einläuteten.
Die ersten Südamerikaner auf der Insel verzauberten die Fans mit ungeahnten Ballkünsten und gefährdeten in den Augen der Fußballbehörden sogar die ganz auf Härte und Leidensfähigkeit getrimmte Leitkultur des Landes. "Diesen beiden zuzusehen könnte die Leute auf den Geschmack bringen und für den den Fußball in unserem Lande schädlich sein", warnte Clifford Lloyd, der Vorsitzende der Spielergewerkschaft, vor der Ankunft des Duos im Sommer 1978.Schädlich waren die Argentinier allerdings nur für die Konkurrenz. Die Spurs gewannen den FA-Pokal zwei Mal in Folge (1981, 1982), wobei besonders der 3:2-Sieg im Wiederholungsfinale gegen Manchester City zum Mythos wurde. Der Endspiel-Song "Ossie's Dream" ist bis heute ein Klassiker - allein Ardiles' "Tottingham"-Passage ab 1.56 ist großartig - und Villas Dribbel-Solo eines der berühmtesten Tore überhaupt.
Das Trauma Arsenal
Mit dem Gewinn des UEFA-Pokals 1984 ging die Erfolgsära aber schon wieder zu Ende. Die Spurs waren praktisch bankrott, als sie 1991 vom Computermillionär Alan Sugar übernommen wurden. Mehr als ein FA-Pokalsieg im selben Jahr und ein Ligapokal unter Glenn Hoddle (1999) sprang jedoch nicht heraus.
Man lief nicht nur Krösus Manchester United sondern auch den verhassten Lokalrivalen von Arsenal hinterher, die nur sechs Kilometer südlich von der Lane zu einer Supermacht avancierten. Ursprünglich war Woolwich Arsenal, der Klub von Mitarbeitern in der gleichnamigen Waffenfabrik, im Süden der Stadt angesiedelt. Die schlechte Verkehrsanbindung dort bewegte Besitzer Henry Norris jedoch, 1913 mit dem Verein nach Highbury, in die unmittelbare Nachbarschaft der Spurs zu umziehen.
"Die Gunners werden noch immer als Fremde und Eindringlinge empfunden", sagt Tottenham-Fan Nathan. "Sie haben bei uns nichts zu suchen. Deswegen hört fast jeder Arsenal-Schmähgesang mit ‚Verpisst euch nach Süd-London!' auf." Als die Gunners 1919 auf höchst mysteriöse Weise anstatt den sportlich besser platzierten Spurs in die erste Liga aufgenommen wurden, war das Trauma perfekt.
Für Financial Fairplay gerüstet
Aber die Zeiten ändern sich. Man hat in Nord-London mittlerweile das Gefühl, seine Identität wiedergefunden zu haben. Redknapp schlägt auch bewusst die Brücke zurück zur den "Glory Years" der Sechziger Jahre, als Tottenham das Double holte und als erster britischer Klub eine europäische Trophäe gewann (Pokal der Pokalsieger 1963). Der gerissene Coach vergleicht seine Spieler ständig mit Legenden wie Dave Mackay oder Danny Blanchflower und verstärkt so das Gefühl einer Wiedergeburt.
Ein Rekordumsatz von 194 Millionen Euro mit 480 000 Euro Gewinn in der abgelaufenen Saison zeigt, wie solide der Klub auch mit Hinblick auf die neuen Financial-Fairplay-Regeln aufgestellt ist. Demnächst sollen auch die Arbeiten am Stadionneubau beginnen. Die neue Arena soll die Spurs wieder zur Nummer eins in London machen.
Sorgen um Redknapp
Sorgen bereitet nur Redknapps Zukunftsaussichten. Der geschäftstüchtige Trainer ist momentan der erste Kandidat für die Nachfolge von Fabio Capello, außerdem muss er sich im Januar wegen Steuerhinterziehung vor Gericht verantworten.
Vergangene Woche, beim Europa-League-Auswärtsspiel gegen die Shamrock Rovers, sangen die irischen Fans höhnisch "Harry, du solltest im Gefängnis sein". Mal sehen, ob die Ordner-Kameras heute Abend an der Lane verhindern können, dass auch dieser Song demnächst zu einem (ungewollten) Spurs-Klassiker wird.
Die Premier League in der Übersicht
Raphael Honigstein lebt und arbeitet seit 16 Jahren in London. Für die "Süddeutsche Zeitung" berichtet er über den englischen Fußball und ist Kolumnist für die britische Tageszeitung "The Guardian". Beim früheren Premier-League-Rechteinhaber "Setanta Sports" fungierte Honigstein als Experte für den deutschen Fußball. In Deutschland wurde der 36-Jährige auch bekannt durch sein Buch "Harder, Better, Faster, Stronger - Die geheime Geschichte des englischen Fußballs". Zudem ist er als Blogger bei footbo.comtätig und auch unter twitter.com/honigstein zu finden.