Die Hälfte aller amtierenden Premier-League-Coaches stammt aus Großbritannien, nur ein Viertel kommt gar aus England. Jose Mourinho, Roberto Mancini, Manuel Pellegrini und Carlo Ancelotti - all diese hochdekorierten Trainer sind oder waren in den vergangenen Jahren bei einem Spitzenklub auf der Insel angestellt. Nachdem Mitte Dezember das Traineramt bei Tottenham Hotspur frei wurde, brachten die Medien ähnlich klangvolle Namen ins Spiel.
Louis van Gaal, Frank de Boer oder auch Mauricio Pochettino vom Ligarivalen aus Southampton, einem dieser drei wurde die Nachfolge des Portugiesen Andre Villas-Boas zugetraut. Doch der Klub brach mit der Premier-League-Tradition der vergangenen Jahre und stattete den langjährigen Co-Trainer Tim Sherwood nach einer Woche als Interimscoach mit einem Kontrakt über 18 Monate aus.
"Die moderne Geschichte legt nahe, dass es eine Tendenz zu ausländischen Namen gibt", betonte auch Sherwood nach Amtsantritt. Der 44-Jährige weiß um seine Vorreiterstellung: "Es gibt eine Menge englischer Trainer, junger englischer Trainer, die hoffen, dass ich hier Erfolg habe. Eine Menge Leute, die mir Glückwünsche mit auf den Weg gegeben haben und hoffen, dass ich die Tür für sie einen Spalt breit öffne."
"Blute die Farben des Klubs"
Dass die Engländer ihrer jungen Trainergarde eine Chance gewähren, war nicht nur längst überfällig, sondern ergab im Fall von Tottenham auch eine Menge Sinn. Sherwood kennt die Strukturen des Vereins, seit über fünf Jahren macht er seinen Einfluss bei den Spurs geltend. Selbst nach der Entlassung seines Mentors Harry Redknapp, der ihn 2008 an die White Hart Lane geholt hatte, stand seine Position nach der Übernahme durch Villas-Boas kaum zur Disposition.
Zudem identifiziert sich Sherwood mit dem Klub, das Wohl Tottenhams liegt ihm am Herzen. "Dieser Klub bedeutet mir unglaublich viel. Wenn man mich entzwei schneidet, dann blute ich die Farben des Klubs", erklärte er, nachdem er seine Unterschrift unter den Vertrag gesetzt hatte. Bereits als Aktiver war der Engländer von 1999 bis 2003 bei den Spurs aktiv. "Ich kenne hier alles von den Graswurzeln bis zur ersten Mannschaft, habe auf jedem Level des Klubs gearbeitet und gespielt, also kenne ich mich hier besser aus als die meisten. Hoffentlich wird mir das bei meiner Mission als Head Coach von Vorteil sein."
Veränderte Perspektiven, hohe Erwartungen
Die bisherigen Resultate sprechen nur teilweise für Sherwood. Seitdem der 44-Jährige das Team offiziell übernahm, konnte sich Tottenham vom siebten auf den fünften Rang verbessern und vor allem gegen die "kleinen" Teams zahlreiche Punkte einsammeln. Der Rückstand auf die Tabellenspitze wuchs jedoch deutlich an - sowohl gegen Arsenal als auch gegen Manchester City war man deutlich unterlegen.
Daher gleicht Tottenhams Trainerstuhl weiterhin einem Schleudersitz. Die etwa 100 Millionen Euro aus dem Gareth-Bale-Transfer wurden im Sommer direkt wieder in teure Spieler investiert, insgesamt wurden sogar über 120 Millionen ausgegeben. Seitdem haben sich die Perspektiven an der White Hart Lane geändert, die in Sherwood gesetzten Erwartungen sind hoch.
"Alles andere als die Qualifikation für die Champions League wäre eine Enttäuschung. Wenn die Saison morgen vorbei wäre, denke ich nicht, dass der Vorsitzende Daniel Levy mit der Platzierung zufrieden wäre", weiß auch Sherwood. "Die Position am Ende der Saison muss den Erwartungen des Klubs entsprechen, sonst heißt es 'Goodbye Charlie'."
Die Verwandlung des Adebayor
Um die hohe Zielsetzung zu erreichen, steht für Sherwood ein Thema an vorderster Stelle: Die Reanimation einer ganzen Garde von Spielern, die unter Villas-Boas nicht ihre üblichen Leistungen abriefen. Von den zahlreichen vor der Saison verpflichteten Spielern konnte kaum einer vollends überzeugen, darunter auch die beiden Rekord-Transfers Roberto Soldado (30 Millionen, nur fünf Ligatore) und Erik Lamela (ebenfalls 30 Millionen, nur drei Startelf-Einsätze).
Dass Sherwood solche Problemfälle gut zu handhaben weiß, zeigt das Beispiel Emmanuel Adebayor: Der Togolese, unter der Fuchtel von Villas-Boas zu einem Wechselspiel zwischen Ersatzbank und Tribüne verdammt, blüht unter Sherwood regelrecht auf. In den letzten neun Ligaspielen netzte er sechs Mal ein. "Ich habe ihm die Bühne zum Spielen gegeben", erklärte Sherwood die plötzliche Wandlung. "Es ist nicht so, dass ich Adebayor in einen guten Spieler verwandelt habe. Wir alle wissen, dass er überall ein guter Spieler war."
Sherwood schätzt die Einfachheit
Es ist diese Einfachheit, die Sherwood von seinem Vorgänger unterscheidet. Während Villas-Boas sich immer wieder auf Geplänkel mit Obrigkeiten und Machtspielchen mit den Spielern einließ, scheint Sherwoods Verhältnis zur Mannschaft unbelastet.
Diese schlichte Unkompliziertheit überträgt sich auch aufs Spielfeld, der dreimalige Nationalspieler hält nichts von der Über-Strategisierung seines Vorgängers. "Ich habe bisher einfach alles daraufhin umgestellt, wie unser Spiel meiner Meinung nach funktioniert", erklärte er seine bisherigen Maßnahmen. "Ich bringe offensiv denkende Spieler in offensive Bereiche des Spielfelds und verteidigende Spieler, wenn sie denn dort benötigt werden, in die Verteidigung. Man muss einfach mit den Spielern reden und sicherstellen, dass sie zu 100 Prozent wissen, was von ihnen verlangt wird."
Fan des Erzrivalen Arsenal
Obwohl sein Stil bisher mehr Erfolg zeigt als der seines Vorgängers, ist Sherwoods Position keineswegs in Stein gemeißelt. Vor allem sein Standing bei den Anhängern könnte besser sein. Kürzlich gab Sherwood zu, dass er es "liebend gerne sieht, dass es Arsenal so gut geht", er sei schließlich als "Arsenal-Fan aufgewachsen." Ausgerechet ein Anhänger des Erzrivalen also.
Aussagen, die bei den eingefleischten Tottenham-Fans nicht besonders gut ankamen, zumal die Spurs im FA-Cup mit 0:2 bei den Gunners chancenlos unterlegen waren. Ausschlaggebend für die Niederlage war auch die 4-4-2-Taktik Sherwoods, durch die die Spurs im Mittelfeld ständig in Unterzahl agierten. "Dafür waren wir auf den Flügeln in Überzahl", erklärte der Spurs-Coach. Es bleibt die Frage, ob seine Kompetenzen ausreichen, um sich bei einem solch ambitionierten Premier-League-Verein wie Tottenham zu etablieren.
Auch im direkten Duell mit dem Tabellennachbarn aus Everton am Wochenende war man deutlich unterlegen und holte nur dank eines Adebayor-Treffers drei Punkte.
Nicht nur eitel Sonnenschein
Das Erreichen des mit Platz vier äußerst optimistisch ausgeschriebenen Saisonziels könnte daher ein schwieriges Unterfangen werden. Arsenal, ManCity und Chelsea sind an der Tabellenspitze schon weit davongeeilt, stattdessen dürften sich die Spurs mit Liverpool und dem zur Aufholjagd blasenden Manchester United um die CL-Quali streiten.
Nichtsdestotrotz scheint sich im Umfeld des Vereins mittlerweile eine Lobby für Sherwood zu etablieren. Spurs-Boss Daniel Levy sicherte ihm kürzlich die volle Rückendeckung zu, auch aus dem Lager der Spieler waren ausschließlich positive Signale zu hören. "Er spürt die Verbindung mit den Spielern und jeder ist glücklich mit ihm. Jeder Trainer hat seine Eigenheiten, Tim ist vielleicht etwas direkter als die anderen. Bisher klappt alles ziemlich gut", behauptete der belgische Verteidiger Jan Vertonghen.
Im Lager des Tabellensechsten herrscht aber nicht nur eitel Sonnenschein: Um den Kader für die Rückrunde aufzurüsten, wollte Levy am Deadline-Day noch einige Akteure an die White Hart Lane lotsen - darunter auch Dimitar Berbatow. Doch Sherwood legte sein Veto ein: "Es ist nicht immer richtig, die teuren Spieler zu kaufen. Sie können gerne kommen, aber sie werden nicht spielen. Ich habe ein großes Vertrauen in den Kader, den wir haben."
Wegweisende Wochen
Markante Worte, die Sherwood untermauern muss. Die kommenden Wochen könnten für sein Engagement bei Tottenham wegweisend sein. In der Premier League stehen schwierige Begegnungen mit Newcastle und Chelsea an, in der Europa League geht es in die Ukraine zu Dnjepropetrowsk. Diese Partien werden zeigen, ob Sherwood den Aufgaben seines Jobs gewachsen ist.
Trotz seiner Unerfahrenheit im international geprägten Trainer-Business der englischen Topklubs könnten die Voraussetzungen für den 44-Jährigen schlechter sein. "Er kennt den Verein in- und auswendig. Er war als Spieler und als Manager für das zweite Team in Tottenham. Der offensive, attackierende Stil, den er spielen lässt, passt sehr gut zu ihnen", räsonierte Sherwoods Ex-Schützling Lewis Holtby vor seinem Wechsel zu Fulham. "Er hat ein Team, das diesen Stil spielen kann. Es ist jetzt nur noch eine Sache der Anpassung."
Tim Sherwood im Steckbrief