Wenn man vom Stanley Park aus rüber schaut auf das Stadion an der Anfield Road, sieht man durch ein paar vereinzelt gepflanzte Bäume hindurch das Hillsborough Memorial. Es ist das Mahnmal der schlimmsten Katastrophe des englischen Fußballs und für den FC Liverpool ein Symbol der Trauer und Sehnsucht zugleich.
Auf zwei mächtigen Granittafeln sind die Namen der 96 Opfer verewigt, stets schmücken Blumen, Schals und Trikots die Szenerie. Rechts daneben erwartet den Besucher ein hohes Eisengatter und über dem Shankly-Gate prangt die entscheidende Botschaft an die 96 und den Rest der Scousers in aller Welt: "You'll never walk alone".
Anfield ist eines der berühmtesten Stadien der Welt und wenn drinnen 45.522 Fans zu einer wogenden Masse verschmelzen, hat man nicht selten das Gefühl, das marode Dach könnte jeden Moment wegfliegen. Hier ist fast alles immer noch mehr Sein als Schein, nicht so sehr Hochglanz. Hier ist die Mannschaft des FC Liverpool zu Hause. Und Steven Gerrard ist ihr Anführer.
Ein Leben für die Reds
Seit 16 Jahren spielt Gerrard für die erste Mannschaft der Reds. 668 Spiele, 173 Tore. Er hat nahezu alles gewonnen, was man mit einer Klubmannschaft gewinnen kann: Die Champions League und den UEFA-Cup, zweimal den Supercup, zweimal den FA Cup, zweimal den Community Shield, dreimal den League Cup.
Gerrard war neun Jahre alt, als Liverpool zuletzt die englische Meisterschaft feiern konnte. Damals gab es die Premier League in ihrer heutigen Form noch gar nicht. Grobbelaar, Hansen, Beardsley, Barnes, Rush waren die Helden der Meister-Saison. In diesem Frühjahr gab es an der Mersey erstmals seit 24 Jahren wieder die berechtigte Hoffnung auf einen erneuten, den 19. Meistertitel.
Alleine zwischen 1980 und 1990 holte Liverpool sechs Meisterschaften. Aber wie die Tragödie von Heysel 1985 eine Zäsur auf internationaler Bühne bedeutete - alle englischen Klubs wurden in der Folge für fünf Jahre von allen UEFA-Wettbewerben ausgeschlossen, die Reds sogar für sieben Jahre - so bedeutete der Nachmittag des 15. April 1989 das Ende der Vorherrschaft der Reds im englischen Fußball.
Neuaufbau mit Rodgers
Von der Tragödie von Hillsborough sollte sich der Klub sehr lange Zeit nur schwer erholen. Seit dem Titel 1990 errangen die Reds noch zweimal die Vizemeisterschaft. Mehr war nicht. Nach dem gescheiterten Versuch mit King Kenny Dalglish startete Liverpool mit dem aufstrebenden Brendan Rodgers vor zwei Jahren einen radikalen Neuanfang.
Der Nordire wurde beim FC Swansea zum begehrtesten Trainer der Liga und sollte den erfrischenden Spielstil des Aufsteigers auch an der Anfield Road implementieren. Die erste Saison mit dem mittlerweile 41-Jährigen geriet zu einem Experimentierfeld, das mit Platz sieben äußerst ernüchternd endete.
In dieser Saison aber explodierten die Reds förmlich. Im Frühjahr siegte die Mannschaft elfmal in Folge und erzielte dabei 38 Tore. Liverpools Markenzeichen ist die teilweise bedingungslose Offensive, 99 Tore in 37 Saisonspielen werden nur noch von Manchester City übertroffen.
Luis Suarez (31 Tore in 32 Spielen) und Daniel Sturridge (21 Tore in 28 Spielen) führen die Torjägerliste der Premier League an und bilden das gefährlichste Sturmduo seit Dwight Yorke und Andy Cole. Dahinter wirbelt der erst 19-jährige Raheem Sterling durch das offensive Mittelfeld.
Schachzug mit Gerrard
Ein bedeutender Schachzug für den Erfolg war aber die Positionierung Gerrards im Spiel der Reds. Rodgers reagierte auf die veränderten Anforderungen an seinen Kapitän und dessen fortgeschrittenes Alter und zog den ehemals offensiver orientierten Gerrard deutlich weiter nach hinten in die Zentrale.
Im organisierten und geplanten Chaos, das die Offensivspieler mit ihren dauernden Rochaden vollführen dürfen, ist Gerrard so etwas wie der Anker und gleichzeitig Ausgangspunkt fast aller Angriffe der Reds. "Seine Spielintelligenz ist einmalig. Er verbessert sich fortlaufend", lobte Rodgers den Routinier. Auch aus der eher defensiveren Position kommt Gerrard in dieser Saison auf 13 Tore und 14 Assists.
Der Plan funktioniert in der Vorwärtsbewegung ganz vorzüglich, nicht zuletzt deshalb durften die Fans bis vor knapp zwei Wochen tatsächlich mit dem Titel rechnen. Dann kam "the gaffe" und dann kam Selhurst Park.
Der Ausrutscher als Wendepunkt
Drei Spieltage vor Schluss hätte Pool sein Meisterstück im Heimspiel gegen den FC Chelsea quasi perfekt machen können. Die Blues hatten die Champions League im Hinterkopf, manch Beobachter wollte gar erkannt haben, dass Jose Mourinho die Meisterschaft zugunsten des möglichen Finaleinzugs opfern wollte und dementsprechend aufgestellt habe.
In der Nachspielzeit der ersten Halbzeit eilte Gerrard mal wieder nach hinten, um sich um den Spielaufbau zu kümmern. Zwischen den weit auseinander postierten Innenverteidigern Martin Skrtel und Mamadou Sakho wartete Gerrard auf den Querpass des Franzosen. Ein sauber ausgeführtes Zuspiel, Gerrard wollte den Ball etwas lax mit der Innenseite nach hinten wegnehmen und touchierte den Ball nur. Dann rutschte er weg.
Chelseas Demba Ba war auf Höhe der Mittellinie eigentlich im Begriff, nur ein wenig halbherzig zuzusetzen, als sich ihm plötzlich der Ball und eine komplette gegnerische Hälfte ohne Gegenspieler auftaten. Ba nutzte den Fehler, es war das 0:1 und am Ende verlor Liverpool die Partie mit 0:2.
Ziemlich inflationär wird der Begriff "ausgerechnet" gerade im Fußball benutzt. Hier dürfte er aber ausnahmsweise erlaubt sein. Gerrards Missgeschick hat die Reds mehr gekostet als drei mögliche Punkte und die schöne Siegesserie. Es hat dem Klub kurz vor dem großen Ziel einmal mehr auf unbarmherzige Art gezeigt, dass er zwischen den Extremen oszilliert wie kaum ein anderer: Der Kapitän, die Führungsfigur, Mr. Liverpool, der sehnsüchtig auf die erste Meisterschaft Wartende, begeht den vermutlich entscheidenden Fehler.
"...he gave it to Demba Ba"
Der Song, den sie Steve G. seit über einem Jahrzehnt vom Kop entgegenschmettern, hat längst Einzug gehalten ins Repertoire gegnerischer Fans. Da ist zur Melodie von "Que sera, sera" nicht mehr die Rede vom großen, verflucht harten Mann, der den Ball gleich 40 Yards exakt passen wird. Die abgewandelte Version geht unter anderem so: "Steve Gerrard, Gerrard, fell over from 40 yards, he gave it to Demba Ba, Steve Gerrard, Gerrard." Und das ist noch eine der harmloseren Varianten.
Acht Tage später verspielten die Reds im Selhurst Park von Crystal Palace eine 3:0-Führung in der Schlussviertelstunde binnen neun Minuten. Die Partie bekam den Beinamen "Crystanbul" verpasst, in Anlehnung an die größte Stunde in Liverpools Vereinsgeschichte, den Sieg im Champions-League-Finale 2005 über den AC Milan in Istanbul. Nach einem 0:3-Rückstand zur Pause und dank dreier Tore innerhalb von sechs Minuten.
Gegentore werden zur Diskussion
"Der Fußball zeigt dann seine ganze Brillanz, wenn er am brutalsten ist", twitterte Gary Lineker nach dem Monday Night Game. Was vorher alles gut war, kehrt sich seitdem ins Gegenteil. Manchester City ist einen Spieltag vor Schluss zwei Punkte und 13 Tore enteilt. Nun werden die 46 Gegentore thematisiert, die die Mannschaft in 37 Saisonspielen kassiert hat und nicht mehr so oft die fantastische Offensivleistung.
Und Spitzfindigkeiten wie die, dass Luis Suarez bei Ajax Amsterdam vor einigen Jahren zwar unangefochten Torschützenkönig werden konnte, aber keinen Titel gewann. Genauso wie jetzt auch: Bester Torjäger der Liga, aber ohne Meisterschaft mit der Mannschaft. "Sie hatten es selbst in der Hand, aber sie haben in den letzten vier Ligaspielen neun Gegentore kassiert. Das sind nicht die Zahlen eines Meisters", sagte Ray Houghton, eine der Legenden aus den 80er Jahren.
"Die Verteidigung war schon die ganze Saison die Achillesferse. Bislang haben die Stürmer die Abwehrspieler immer wieder aus dem Gefängnis befreit. Diesmal nicht. Du kannst nicht immer wieder so viele Tore fangen und dann erwarten, noch eine große Trophäe zu gewinnen", befand Jamie Carragher, ehemaliger Abwehrspieler und einer der Heroen von Istanbul. Tatsächlich stehen 49 Gegentreffer zu Buche, im Schnitt 1,4 pro Spiel. ManCity steht bei 37, Chelsea 26.
Es wird immer weiter gehen
Die Meisterschaft sei mit dem Remis gegen Crystal Palace zugunsten von Manchester entschieden, sagt Trainer Brendan Rodgers. Damit mag er vermutlich Recht behalten. Aber Rodgers hat in nunmehr zwei Jahren auch erfahren, wie dieser Klub tickt und was ihn ausmacht. Sein bester Stürmer weinte nach der Partie im Selhurst Park bittere Tränen und es war Gerrard, der die ganze Malaise mit seinem Fehler im Spiel davor erst eingeläutet hatte, der den Uruguayer in den Arm nahm und vom Feld führte.
Der FC Liverpool ist seit jeher ein Klub, der selbst aus den größten Niederlagen eine enorme Kraft ziehen und manchmal sogar eine Art Kult entwickeln kann. Steven Gerrard hat das früh gelernt. Bei der Hillsborough-Tragödie war das jüngste Opfer sein Cousin. Jon-Paul Gilhooley wurde nur zehn Jahre alt. Den jungen Gerrard hat die Erinnerung an das verstorbene Familienmitglied in seiner Karriere bei den Reds stets angetrieben.
Die 96 Verstorbenen haben spät zumindest jene Art Gerechtigkeit erfahren, die die Initiative "Hillsborough Family Support Group" mit ihrem "Justice for the 96" eingefordert hatte. Geht es nach den Scousers, dann wird auch ihre Mannschaft für ihren Einsatz belohnt werden. Vielleicht schon am Wochenende, vielleicht erst später. Aber irgendwann ganz bestimmt.
Kapitän Gerrard könnte dann womöglich noch dabei sein, als Anführer, Identifikationsfigur und Gesicht des Klubs. In diesen Tagen wird ihm ein Angebot zur Verlängerung seines Vertrags bis Juni 2016 vorgelegt. Steven Gerrard wird unterschreiben.
Das ist der FC Liverpool