Arsene Wenger hat schon viel gesehen in den 19 Jahren, die er inzwischen als Trainer der Gunners tätig ist. Der Franzose stand im Finale der Champions League, wurde dreimal englischer Meister und durfte fünfmal den FA-Cup in die Höhe stemmen. Weit über 1000 Spiele hat er inzwischen auf dem Buckel - viel dürfte Wenger also nicht mehr unerwartet treffen.
Und doch musste der 65-Jährige, sonst so bedacht und nicht aus der Ruhe zu bringen, im April 2015 zugeben überrascht zu sein. Überrascht von seiner eigenen Mannschaft, von seinem eigenen Lebenswerk. Die Gunners sind das vielleicht heißteste Team seit dem Jahreswechsel. Das sagt zumindest der Punkteschnitt von 2,54 Zählern pro Partie.
Damit liegen die Londoner vor der Konkurrenz aus Barcelona (2,47), vor Juventus (2,21) und dem FC Valencia (2,21). "Kein Trainer dieser Welt meint es ernst, wenn er einen solchen Lauf prophezeit", hatte Wenger erstaunt zugeben müssen. Sein Team hatte soeben das achte Liga-Match in Serie gewonnen, insgesamt 16 der letzten 18 Spiele gingen zu diesem Zeitpunkt an Arsenal.
"Du wirst morgen früh gefeuert"
Als ob mit dem 2. Januar 2015 ein Schalter umgelegt worden wäre, marschiert die Mannschaft derzeit unaufhaltsam von Partie zu Partie. Am 1. Januar hatte es noch eine 0:2-Pleite gegen Southampton gesetzt, der Wenger jedoch schon viel Positives abgewinnen konnte. "Da steckte mehr drin als ein 0:2. Ihr Keeper hat ihnen das Spiel gerettet."
Arsenals Keeper Wojciech Szczesny hatte ihnen gerade das Spiel verloren. Erst in einem Missverständnis mit Laurent Koscielny, dann mit Mathieu Debuchy. "Du wirst morgen früh gefeuert", sangen die Anhänger der Saints höhnisch Richtung Gäste-Trainer. Als auch noch ein Fan den Weg an die Trainerbank fand, um den Franzosen zu beschimpfen, hätte der miese Start in ein noch mieseres Jahr perfekt sein können.
Doch mit all seiner Routine und Erfahrung hat Wenger seinen schlingernden Wagen zurück in die Spur gebracht. Das letzte Mal, dass die Gunners acht Spiele in Folge gewannen, geschah in der Saison 2003/04. Damals wurde es am Ende die Meisterschaft, die momentan allerdings mindestens sieben, eher zehn Punkte entfernt ist.
Solide Basis mit Anpassungen
Doch das, was die Gunners auf den Rasen zaubern, macht bereits Hoffnung für das nächste Jahr - und auch für den FA-Cup, in dem Arsenal im Halbfinale steht und auf den FC Reading trifft. Dabei hat sich die Strategie nicht groß geändert. Wenger steht für Offensivfußball mit vielen Ballbesitzzeiten, Überladungen mit kurzen, schnellen Pässen und kollektiver Arbeit gegen den Ball.
Diese solide Basis ist unverändert und wird sich unter dem Franzosen auch nicht mehr ändern. Doch die Stellschrauben, die es zu drehen gibt, wurden bedient. Arsenal hat dazu gelernt aus den letzten Jahren und sich Schritt für Schritt weiterentwickelt, was derzeit im Siegeslauf seinen nächsten Höhepunkt erreicht.
So stand das Team zuletzt deutlich tiefer, als noch in der ersten Saisonhälfte. Das kommt nicht nur Abwehrchef Per Mertesacker entgegen, sondern sorgt insgesamt für eine bessere Kompaktheit gegen den Ball und damit für weniger Gegentore. Zwölf sind es in den 18 Partien seit Southampton nur, zuvor setzte es 20 in exakt gleich vielen Spielen.
Coquelin sorgt für Balance
Ein wenig gezwungen wurde Wenger zu seinem Defensivglück aber doch. Mit den Ausfällen seiner defensiven Akteure im Mittelfeld entschied er sich dazu, Francis Coquelin nach nur zwei Wochen Ausleihe zu Charlton Athletic wieder ins Boot zu holen. Und der Ex-Freiburger kam, sah und siegte.
Verliefen die ersten Partien als Ersatzspieler noch etwas holprig, hat er sich inzwischen etabliert. Nur zwei Minuten hat Coquelin seit seinem ersten Startelfeinsatz verpasst - sein Trainer muss inzwischen zugeben: "Er stellt seine Qualitäten in der Balleroberung in der schnellen Ballverarbeitung unter Beweis. Er bringt Balance in das Team, eine Eigenschaft, die andere Spieler nicht mitbringen."
Die Balance ist ohnehin ein großes Thema gewesen im Emirates. Technisch starke Spieler gibt und gab es genug, aber den Gunners ging oft das Gegenstück ab. Jemand, der die Bälle einsammelt, die der Gegner im Pressing verliert oder ungenau nach vorne spielt. Mit Coquelin ist diese Lücke momentan gestopft.
Defensive Balleroberungen von Francis Coquelin gegen den FC Liverpool (4:1)
Verletzte kommen zurück
Das Spiel fällt und steht jedoch nicht ausschließlich mit Coquelin. Der Franzose bringt Stabilität, ist aber niemand, der den Spielaufbau betreibt oder gar Chancen herausspielt. Die Verbindungsprobleme hat Arsenal durch aktivere Achter zumindest im Griff, wenn auch noch nicht gänzlich behoben.
Hierfür eilten die Verletzten Wenger zur Hilfe. Mesut Özil und Olivier Giroud verpassten den Gunners nach ihrem Comeback neue Möglichkeiten in der Offensive.
"Was viele Leute vergessen ist, dass uns wichtige Spieler für Monate dieser Saison komplett gefehlt haben. Sechs, sieben Spieler waren komplett raus. Das hat einen großen Unterschied gemacht", stellte der Coach fest und freute sich über die Rückkehr seiner beiden Offensivkräfte ebenso, wie über das grüne Licht für Koscielny.
"Jetzt haben wir eine hochqualitative Bank und sogar nicht minder gute Spieler, die zu Hause bleiben, wie Alex-Oxlade Chamberlain, Mikel Arteta und Jack Wilshere. Ich habe es noch gar nicht versucht, Mathieu Debuchy auf den Platz zu schicken. Der Kader ist jetzt groß, jetzt haben wir Qualität", so Wenger.
Selbstvertrauen durch Ergebnisse
Mit der Rückkehr Girouds wurde Alexis Sanchez von vielen Aufgaben befreit, die zuletzt alleine auf den Schultern des Chilenen ruhten. Mit Özil herrscht wieder mehr Kreativität, inzwischen auch endlich aus der Mitte heraus. Der Weltmeister driftet von Seite zu Seite, stellt die ständige Überzahl her und hat dann noch das Auge, um seine Mitspieler hinter die Abwehr gelangen zu lassen. Sieben Assists sammelt Özil in den letzten neun Liga-Spielen.
Insgesamt wirkt das Team gefestigter, selbstbewusster und ruhiger. Ausrutscher wie die Niederlagen gegen die Tottenham Hotspur (1:2) oder das bittere 1:3 gegen den AS Monaco in der Champions League passierten, führten aber nicht dazu, dass das Team unruhig wurde. Selbst in der Presse rumorte es nur leise, denn die Gunners präsentieren sich mit einem bisher nicht da gewesenen, eiskalten Gesicht.
Knappe Siege gegen schwächere Teams in der Liga oder im FA Cup haben das Selbstvertrauen wieder aufgebaut und sich Sieg für Sieg in ein immer größeres, positives Momentum gewandelt. Damit werden sogar Gegner wie Manchester City (2:0) einfach aus dem Weg geräumt. Auch der 2:0-Sieg im Rückspiel in Monaco zählt in diese Kategorie, auch wenn es letztlich nicht zum Weiterkommen reichte. "Es war keine Frage der Leistung sondern eine der Effektivität", stellte Wenger fest.
Die Meisterschaft?
All das läuft dann doch immer wieder zu einem Thema zusammen. Die Meisterschaft. "Es sind schon seltsame Dinge passiert", hatte sich Aaron Ramsey vor kurzem noch zurückgehalten. Doch der Ton wird rauer in London, besonders mit dem Topspiel gegen Tabellenführer Chelsea im eigenen Stadion (26. April) im Hinterkopf.
"Ich bin ein Wettkämpfer. Das heißt ich gehe immer so weit und so hoch ich kann", schickte Wenger erste Grüße in den blauen Teil Londons: "Hier passiert etwas. Das kann man sehen, es liegt in der Luft. Niemand kann es leugnen."
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