Noch vier Spieltage muss Leicester City überstehen, um sich zum Meister der Premier League 2015/2016 krönen zu lassen. Oder können die Tottenham Hotspur den Foxes doch noch das Wasser reichen? SPOX checkt die beiden Favoriten im Titelrennen auf Herz und Knochen.
Leicester City
Das Restprogramm
Swansea City (H), Manchester United (A), FC Everton (H), FC Chelsea (A)
Wer mit 21 Siegen durch die ersten 34 Spieltage geht, muss sich eigentlich vor keinem Restprogramm verstecken. Dennoch bleibt mit Blick auf die letzten vier Spiele der Foxes festzustellen: leicht ist anders. Mit Swansea wartet am 35. Spieltag ein Team, das zwar in der Tabelle weit unten steht, dafür aber spielerisch keinesfalls leicht zu knacken ist. Im letzten Heimspiel geht es gegen den FC Everton, derzeit mit einer Negativserie behaftet, für den es um eigentlich nichts mehr geht.
Doch dazwischen steht das Duell mit Manchester United im Old Trafford an. Nicht nur, dass die Red Devils das beste Heimteam der Liga sind, für das Team von Louis van Gaal geht es auch noch um die Champions League. Am letzten Spieltag schließlich muss Leicester bei Chelsea ran. Die Blues werden nach der komplett misslungenen Saison versuchen, wenigstens mit einem Happy End in die Sommerpause zu gehen.
Es könnte also auch schwieriger sein. Besonders mit Blick darauf, dass Leicester sich gegen Gegner wie United und Chelsea voll in seinem Element sehen darf. Als Underdog, als Mannschaft mit weniger Ballbesitz, die stabil steht und auf seine Chancen lauert. Gegen Swansea und Everton wird das schon schwieriger, wenn auch natürlich nicht unmöglich, erzielten die Foxes doch gegen beide Teams im Hinspiel drei Tore.
Die Stimmung
Ungläubig trifft es vielleicht am besten. Mit dem Unentschieden Manchester Citys gegen Newcastle United unter der Woche sicherte sich Leicester die sichere Qualifikation für die Champions League. Zum ersten Mal ist aus dem unglaublichen Lauf der Foxes auch etwas Zählbares herausgesprungen, wirklich angekommen ist das im Lager aber noch nicht.
"Können Sie sich vorstellen, hier nächstes Jahr Bayern München, Barcelona oder Real Madrid zu sehen? Das wäre unbeschreiblich für unsere Fans, für jeden", hatte Trainer Claudio Ranieri vor einigen Wochen noch das Träumen gewagt. Der Traum ist wahr geworden, einer von vielen in dieser Saison: "Uns muss bewusst sein, dass das eine verrückte Saison ist. Im neuen Jahr beginnen wir wieder bei Null."
Erst in den letzten Wochen scheint dem Team bewusst geworden zu sein, dass sie nicht träumen. Dass der Traum vom Titel überhaupt kein Traum ist. Sie sind wirklich so gut. Die Welt drückt Daumen für die Underdogs und diese wissen ganz genau, was sie noch tun haben. "Wir kennen unser Team, wir kennen unsere Möglichkeiten. Wir kämpfen immer bis zum Tod, das ist, was wir tun können. Alles andere kann man nicht kontrollieren", legte Verteidiger Danny Simpson den Plan für die nächsten Wochen fest.
Die Form
Hochform könnte man anhand der letzten Ergebnisse schlussfolgern. Die letzte Niederlage datiert von Februar 2016, damals mit 1:2 gegen den FC Arsenal. Seitdem gab es sechs Siege und zwei Unentschieden, bei einem Torverhältnis von 11:4. Alle Siege gelangen ohne Gegentor, die Abwehr steht so gut wie selten in der Saison zuvor.
Allerdings liegt das auch ein Stück weit an der veränderten Herangehensweise der Gegner. Die Rivalen treten inzwischen tiefer auf, überlassen den Foxes auch mal den Ball und legen so regelmäßig deren größte Schwäche offen. Der Spielaufbau Leicesters ist ordentlich, aber nicht gemacht, um kompakte Defensivreihen zu durchbrechen. Somit ja, Leicester siegt viel, doch die Siege werden enger.
Das Personal
Großes Glück oder gutes Training? Einer der Trümpfe Leicesters in der bisherigen Saison war definitiv die Personaldecke. Diese fällt zwar mit 23 Spielern im Kader nicht allzu dick aus, dafür fehlte aber nur seltenst einer der Schlüsselspieler. Ranieri konnte meist aus dem Vollen schöpfen, Männer wie Kante, Vardy oder Mahrez sind weit über die 30 Einsätze hinaus.
Sorgen macht nun allerdings die mögliche Sperre für Torjäger Jamie Vardy. Der offensive Schlüsselspieler leistete sich beim 2:2-Remis gegen West Ham United einen Platzverweis und geriet im Anschluss mit Referee Jonathan Moss aneinander. Nun droht eine Zwei-Spiele-Sperre, Vardy würde das Duell mit Manchester United verpassen. Seit 47 Spielen hat Vardy nicht mehr gefehlt, damals verlor seine Truppe im Februar 2015 gegen Arsenal. 55 Prozent aller Partien gewinnt Leicester mit dem Stürmer, nur 45 Prozent ohne ihn.
Der Schlüsselspieler
Mit Vardy, der eventuell 50 Prozent der noch anstehenden Spiele verpasst, wird sich Ryad Mahrez aufschwingen müssen zum Schlüsselspieler. Der Kreativmann im großen Kollektiv kommt von der rechten Seite, erzielte bereits 16 Tore und bereitete elf weitere vor. In den letzten drei Partien blieb der Algerier allerdings verhältnismäßg blass, keine Torbeteiligung gelang ihm in den Duellen mit West Ham, Sunderland und Southampton.
Seit seinem Wechsel im Januar 2014 von Le Havre auf die Insel konnte er seinen Marktwert stetig steigern und stellt sich mit guten Leistungen seit Monaten selbst ins Schaufenster. Vorbei gehen die großen Klubs und glaubt man den englischen Medienberichten, bleiben nicht nur viele der Größen Europas stehen, sie schauen sich auch ganz genau um. Erst kürzlich wurde er in die Shortlist für die Wahl zum Fußballer des Jahres der Premier League nominiert - zusammen mit Vardy und Ngolo Kante.
Tottenham Hotspur
Das Restprogramm
West Bromwich Albion (H), FC Chelsea (A), FC Southampton (H), Newcastle United (A)
Dreimal Mittelfeld, einmal Keller. Die Tottenham Hotspur müssen es auf dem Papier mit keiner Top-Mannschaft mehr aufnehmen, geht es doch noch gegen WBA, Chelsea und Southampton, die allesamt entfernt vom Abstiegskampf um Platz zehn herum stehen. Doch während West Bromwich noch versuchen wird, sich endgültig aus möglichen Abstiegssorgen zu befreien, ist Chelsea dann doch ein anderes Kaliber, als der Tabellenplatz verrät.
Gleiches gilt für Southampton. Die Saints spielen sauberen Fußball und sind selbst gar nicht so weit von der Spielidee des Spurs-Trainers Mauricio Pochettino entfernt. Letztlich bleibt Newcastle United am letzten, vielleicht entscheidenden, Spieltag. Gerade hier wartet ein riesiger Stolperstein, kämpft das Team doch noch immer gegen den Abstieg und hat sich mit Rafa Benitez einen echten Taktikfuchs als Feuerwehrmann geangelt.
Für die Spurs sind die letzten vier Spieltage mit vier Siegen sicher nicht unmöglich, besonders auswärts wird es aber sehr schwer. Dazu kommt der Druck, den die Londoner wohl langsam verspüren dürften. Jeder noch so kleine Ausrutscher macht den Titeltraum mit fünf Punkten Rückstand so gut wie ausgeträumt.
Die Stimmung
Nervös, zappelig und ungeduldig ist man im Lager der Spurs. Die Titelchance ist so groß wie vielleicht nie zuvor, mit Pochettino ist man in vielen Punkten die beste Mannschaft der Liga, liegt aber doch hinter einem Überraschungsteam. Diese Chance gibt es so schnell nicht wieder, dessen ist man sich bewusst. Doch genauso ist man sich bewusst, noch viel Arbeit vor sich zu haben. "Das ist unser Traum, wir müssen daran glaube, dass er wahr wird", fasste der Trainer gut zusammen.
Denn während alles von Leicester als Titelträger spricht, käme das für Tottenham nicht weniger plötzlich. Seit Jahren zählt man immer als Kandidat der könne, wenn er denn wolle und ein Ausnahmejahr erwische. Dieses Ausnahmejahr ist jetzt da: "Das wichtigste ist jetzt, dass wir den Druck hochhalten. Wenn Leicester Punkte lässt, sind wir da."
Torjäger Harry Kane ließ die Anspannung nach dem Sieg über Stoke City durchblitzen: "Leicester hatte gepatzt und es hat mich eineinhalb Tage gejuckt, endlich zu spielen. Wir sind bereit, die Lücke so schnell wie möglich zu schließen."
Die Form
Tottenham befindet sich auf einem nie dagewesenen Hoch und hat sich in den letzten Monaten zum besten Team der Liga entwickelt. Spielerisch, offensiv, defensiv, bei Standards - Pochettinos Team ist in allen Statistiken führend. Im Gegensatz zu Leicester kommt das Team über ein hervorragendes Spiel in Ballbesitz und spielt stets hochqualitative Chancen heraus. Das spiegelt sich in den Ergebnissen wieder, die Spurs zerspielen ihre Gegner teilweise.
Die Konstanz ist hoch, gepunktet wird durchgehend. Und doch hat man seit Anfang März sieben Punkte verloren. Gegen West Ham, Arsenal und Liverpool genügte es nichts zum Sieg. Wenn die Balance zwischen Offensive und Defensive allerdings hergestellt werden kann, dann sind die Spurs nicht zu halten, so zu sehen etwa beim 3:0 über Manchester United.
Die Form der Spurs zeigt steil nach oben, wo und wann sich die Steigung reduziert, wird im Meisterschaftskampf entscheidend sein. Einzelne Spieler sind derzeit an ihrem Leistungslimit oder spielen sogar leicht darüber, können sie dieses halten, ist Tottenham in der Premier League kaum zu schlagen.
Das Personal
Vor den entscheidenden Wochen im Titelkampf ist bei den Spurs alles fit, was fit sein kann. Die Leistungsträger der letzten Wochen stehen allesamt zur Verfügung, die Doppel- oder Dreifachbelastung ist schon lange vorbei. Mit Nabil Bentaleb wird Anfang Mai ein weiterer Mittelfeldspieler ins Mannschaftstraining zurückkehren, der die Dauerbrenner Delle Alli, Moussa Dembele und Eric Dier gelegentlich entlasten könnte.
Aufgrund der Partien in Pokal und Europa League haben viele der Spieler schon beinahe 50 Spiele absolviert, besonders Harry Kane und das genannte Mittelfeld erhielten kaum eine Pause. Müde scheint dennoch keiner der Profis zu sein, große Rotationsmöglichkeiten gibt der Kader ohnehin nur schwer her, der Qualitätsabfall macht sich sofort bemerkbar.
Sollte die Personallage weiterhin so entspannt bleiben, hat Pochettino ein enorm schlagkräftiges Team zusammen. Wenn nicht, könnte sich die große Abhängigkeit von einzelnen Spielern negativ auf die Leistung auswirken.
Der Schlüsselspieler
Der Hurrikane soll die Spurs noch zum Titel tragen. 24 Tore hat Harry Kane in der laufenden Saison schon erzielt und damit ganze 14 mehr als der zweite der internen Torschützenliste. Er macht einen großen Teil der Offensivgefahr der Spurs aus, kreiert Chancen nicht nur, sondern schließt sie eben auch ab. Doch nicht nur als Torjäger ist er gefragt, denn Kane ist in den letzten vier Spielen auch Inspiration für das Team.
22 Jahre alt, englischer Nationalspieler, Leistungsträger, Torschütze, Führungsspieler, Eigengewächs und Dauerbrenner. Keines der 34 Liga-Spiele hat er verpasst, die wochenlange Durststrecke zu Beginn des Jahres einfach weggesteckt. Kane trägt vielleicht nicht die Kapitänsbinde am Arm, wohl ist er aber ein Spieler, zu dem der Rest des Kaders aufschaut.
Die englischen Medien haben ihn inzwischen als "Predator" in der Jagd auf den Titel ausgemacht, er selbst ist heiß wie kein Zweiter: "Vor der Saison war viel Gerede, ob ich ein One-Hit-Wonder wäre. Das hat das Feuer in meinem Bauch noch weiter angefacht, ihnen das Gegenteil zu beweisen." Das geht nicht nur Kane so, ganz Tottenham wartet darauf, die Kritiker verstummen zu lassen.
Prognose
Zwölf Punkte sind noch zu vergeben, fünf Punkte für die Spurs aufzuholen. Ein Wunder müsste schon her, damit Tottenham noch an den bisher so konstant punktenden Foxes vorbeizieht und sich den Titel sichert. Leicester steht mit einem Punkteschnitt von 2,1 an der Spitze, Tottenham mit einer glatten zwei dahinter.
Ein einziges Szenario scheint möglich, das den Spurs letztlich doch noch den Titel einbringt: Der Rivale im Titelrennen müsste komplett auseinander brechen, die Nerven verlieren und Punkt für Punkt liegen lassen. Dass das passiert scheint ebenso unrealistisch wie eine Mannschaft, die als Fast-Absteiger plötzlich mit fünf Punkten Vorsprung die Tabelle anführt - und trotzdem ist es passiert.
Doch nicht nur bei Leicester muss man über die Nerven sprechen, auch Tottenham bringt nicht die größte Erfahrung im Titelkampf mit. Ein Patzer könnte noch aufgefangen werden, gleichzeitig könnten Ranieri und Co. aber auch schon im Old Trafford am 36. Spieltag die Meisterschaft feiern.
Es ist ein Nervenkrieg, den beide Teams ausfechten werden. So oder so wird am Ende dieses Krieges ein Wunder geschehen, die Frage ist nur auf welcher Seite. Sieht man, mit welcher Lockerheit die Foxes die bisherige Saison angingen und auch als Tabellenführer nicht das große Zittern bekamen, wird es letztlich wohl der große Underdog sein, der den Titel in die Höhe stemmt.
Mögliche Szenarien
Leicester holt sich den Titel: Die frühestmögliche Chance dazu gibt es im Old Trafford am 36. Spieltag. Dafür müsste Leicester erst gegen Swansea gewinnen und anschließend auch gegen ManUnited drei Punkte sammeln, während die Spurs gegen West Brom verlieren.
Genauso sind Sieg gegen Swansea und Unentschieden gegen United genug, sollte Tottenham aus den Spielen gegen WBA und Chelsea nur einen Punkt holen. Schöner Nebeneffekt eines Titelgewinns in Manchester: Leicester könnte den Titel beim Heimspiel gegen Everton in Empfang nehmen.
Sollte Leicester mit vier Punkten Vorsprung in das Spiel gegen Everton gehen, haben sie alles in der eigenen Hand, dann reicht ein Sieg zum Titel vor eigenem Publikum.
Tottenham holt sich den Titel: Die frühestmögliche Chance dazu gibt es am vorletzten Spieltag an der White Hart Lane gegen den FC Southampton. Dafür müsste Leicester die nächsten drei Partien verlieren, während Tottenham gewinnt.
Wahrscheinlicher scheint die Option am letzten Spieltag. Ein einziger Punktverlust Leicesters würde ausreichen, um beide Teams auf Schlagdistanz aneinander zu bringen. Punkten sie dann im Gleichschritt und gehen mit drei Punkten Unterschied in den letzten Spieltag, sieht es schlecht aus für die Foxes, die die deutlich schlechtere Tordifferenz aufweisen.
Sollte die Meisterschaft allerdings am 38. Spieltag entschieden werden, müsste das entsprechende Team die Trophäe im gegnerischen Stadion entgegen nehmen.
Arsenal holt sich den Titel: Leicester müsste hierfür alle Spiele verlieren, Tottenham dürfte maximal fünf Punkte holen. Gleichzeitig müsste Arsenal noch am Torverhältnis schrauben, sind die Spurs doch mit +39 deutlich vor den +28 der Gunners.
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