Irgendwann eskalierte der Streit, die Ansichten der Kontrahenten waren einfach zu diametral unterschiedlich. "Dann bringe ich euch halt einen Haufen Franzosen rüber, die uns nach einer Woche Training besiegen", sagte Francis Maule Campbell an diesem 8. Dezember 1863 in der Freemason's Tavern in London und brachte das sprichwörtliche Fass zum überlaufen. Beim realen wird das wohl nicht mehr möglich gewesen sein. Es gilt zu vermuten, dass bereits das eine oder andere Bier abgezapft worden war. Da lief nichts mehr über.
Beim Streit, der nun eben eskalierte, ging es jedenfalls darum, ein einheitliches Fußball-Regelwerk zu schaffen. Der große Streitpunkt war die Legalisierung des Hacking. Sollte es erlaubt sein, seine Gegner vor die Schienbeine zu treten? Oder nicht? Gemeinsamer Nenner konnte keiner gefunden werden, Campbell und seine Leute verließen das Freemason's und spielten fortan einen Sport, den sie Rugby nannten.
Der Rest blieb. Bei ihrem Sport Association Football wurde das Hacking verboten. Ob Campbell in der Folge tatsächlich seine angedrohten Franzosen über den Ärmelkanal schipperte, ist nicht überliefert. Er musste nun ja sein eigenes Regelwerk ausarbeiten, fraglich ob da genügend Zeit blieb für solche Thesenbeweise.
Verbales Hacking und british humour
Eine Episode aus einer Zeit ist das, in der sich die polarisierendsten Diskussionen dieses Sports nicht um chinafreundliche Anstoßzeiten drehten, sondern um ein einheitliches Regelwerk. Die allgemeinen Rahmenbedingungen haben sich mittlerweile gänzlich geändert, das Verlangen des Engländers an sich, die Deutungshoheit über den Sport zu behalten, mit dem seine Vorfahren vor einigen Dutzend Jahrzehnten einst die Welt beschenkten, ist aber geblieben. Wird sie in Frage gestellt - vor allem von Nicht-Insel-Bewohnern - gibt es verbales Hacking. Oder british humour.
"Unsere ausländischen Kollegen machen erstaunliche Dinge, von denen wir nie gehört haben", sagte etwa West Bromwich Albions Trainer Tony Pulis kürzlich. Beißende Ironie des 58-jährigen Mannes aus Casnewydd, der größten Stadt der Grafschaft Monmouthshire, Südwales. Er ist aktuell einer von nur sechs britischen Premier-League-Trainern.
Mit der Verherrlichung der messiasartig begrüßten Guardiolas, Mourinhos, Klopps und Contes, die sich mittlerweile so zahlreich in der globalisierten Premier League herumtreiben, hat er offenkundig seine Probleme. "Sie kommen in die Liga, sind sexy, sind neu und sind intelligent", führte Pulis weiter aus. Jürgen Klopp lässt in der Vorbereitung dreimal am Tag trainieren? "Absolut unglaublich!" Claudio Ranieri stellt sein Team im 4-4-2 auf? "Ein taktisches Genie!"
Auf der Seele brannte Pulis diese Grundsatzrede wohl schon länger, im vergangenen Winter nach einem 2:2 seines Vereins West Bromwich Albion gegen Klopps Liverpool formulierte er bereits das Vorwort. Der deutsche Trainer beklagte sich damals nämlich über die Spielweise von Pulis' Team: "Nur lange Bälle, nur Standards." Pulis reagierte nicht schnippisch, Pulis reagierte sehr schnippisch: "Wir entschuldigen uns dafür, dass wir in 99 Minuten (es gab neun Minuten Nachspielzeit, d.Red.) drei lange Bälle mehr gespielt haben als Liverpool."
Die mathematische Übersetzung des Kick'n'Rush
Gesichert ist bei dieser Aussage lediglich, dass sie beißend ironisch gemeint war, nicht dagegen, ob sie statistisch wasserdicht, eine lose Schätzung oder einfach nur eine wilde Untertreibung war. Letztlich auch egal. Am Ende holte Pulis mit West Brom ein Remis, da kann Klopp jammern so viel er will. Punkteteilung.
Gefreut wird Pulis das Remis damals enorm haben, freuen wird ihn wohl auch die aktuelle Spielzeit. Klar, Statistiken- und Datenanalysen sind schon wieder sowas Neuartiges. Fast sexy, kontinentaleuropäisch und modern. Aber trotzdem: Würde es für einen Premier-League-Trainer in der Weihnachtszeit einen besinnlichen Moment, der Zeit für Rückblick und Reflexion lässt, geben, Pulis hätte sich gemütlich mit folgende Zahlen zurückziehen und sich selbst bestätigt fühlen.
Achter ist sein Klub West Bromwich im Moment und damit nur einen Punkt hinter dem Tabellenführer FC Southampton. Dem aktuellen "top of the second league", wie es Verteidiger Jonny Evans nennt. Die oberen sechs Vereine gehören demnach einer eigenen Liga in der Liga an. Finanziell außer Reichweite.
Die Statistiken, die in West Broms bisherigen 17 Saisonspielen gesammelt wurden, sind die Übersetzung des Kick'n'Rush in die Mathematik. Zweitgeringster Ballbesitzanteil aller Vereine. Zweitwenigste kurze Pässe. Sechstmeiste lange Pässe. Zweitschlechteste Passquote. Und, natürlich: meiste Tore nach Standards, meiste Kopfballtore. Weiter Pass auf den Flügelstürmer, Flanke in die Mitte, Kopf, Tor. So wird's gemacht im Hawthorns.
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Trewick und die Mauern
Dass es die Protagonisten dieser Mannschaft bald wegzieht aus den West Midlands, gilt es nicht zu befürchten. Außer natürlich, sie beenden ihre Karriere und wollen nicht mehr in den rustikalen West Midlands wohnen. Junge, aufstrebende Talente sucht man vergeblich in der aktuellen Startelf von West Brom. Sie ist vielmehr ein Konglomerat aus alten britischen Haudegen und Premier-League-erfahrenen Legionären. Verstärkt durch den venezolanischen Torjäger Salomon Rondon.
30,8 Jahre betrug das Durchschnittsalter von West Broms Startelf beim vergangenen Heimspiel gegen Swansea. Saisonrekord. Unter den Top-Zwölf dieser Kategorie ist West Brom achtmal vertreten. Seriensieger sind sie, diese Oldies, die für den Erfolg ihres Vereins Goldies sind.
Da wäre etwa Gareth McAuley, 37. "Physisch fühle ich mich sehr gut", sagte der Nordire kürzlich. 1,91 Meter Körpergröße muss er in einem fitten Zustand halten und damit zwei Zentimeter weniger als sein Innenverteidiger-Kollege Jonas Olsson. Seit über acht Jahren spielt der Schwede bei West Brom und drischt Bälle mit seinem langhaarigen Kopf aus der eigenen Hälfte. 33 ist er mittlerweile und somit etwas älter als Stammplatz-Konkurrent Jonny Evans.
Dahinter steht Ben Foster, 33, zwischen den Stangen; davor räumen James Morrison, 30, und Kapitän Darren Fletcher, 32, ab. Dieser Defensivverbund erlebt derzeit seinen dritten Frühling und ruft nationalen Respekt hervor. Außer vielleicht bei John Trewick, aber der ist auch schwer zu beeindrucken. 1978 bereiste der damalige Mittelfeldspieler von West Brom mit seinem Verein China. "Wenn du eine Mauer gesehen hast, hast du alle gesehen", soll er schulterzuckend geantwortet haben, als er nach seinem Eindruck von der Chinesischen Mauer gefragt wurde. So will es zumindest die Legende.
"We're all going on a European tour"
Womöglich gibt es in nicht allzu ferner Zukunft auch für die aktuelle West-Brom-Mannschaft einen guten Grund für Fernreisen. Und dieser Grund trägt dann nicht den Namen Neuemärkteerschließung oder Vorbereitungstrainingslager, sondern Europa League. "We're all going on a European tour", singen die Fans im Hawthorns derzeit besonders gern. Platz sieben (Premier League) beziehungsweise Platz eins ("second league", frei nach Evans) wird wohl reichen, um dieses Lied Realität werden zu lassen.
Trainer Pulis erlebte diesen Traum bereits einmal. 2011 führte er seinen damaligen Verein Stoke City ins Finale des FA Cup und somit in die Europa League. Die Potters unter Pulis waren der Klub, bei dem Rory Delap bei jedem Einwurf zur Seitenauslinie trabte, während Kenwyne Jones, Peter Crouch und Jonathan Walters in den Strafraum trabten und Delaps Einwürfe dann halt ins Tor köpften.
Pfund pro Punkt
Neun Jahre lang trainierte Pulis Stoke und davor und dazwischen auch noch die Schwergewichte Plymouth Argyle, FC Portsmouth, Bristol City, FC Gillingham und AFC Bournemouth. Stets mit dem selben, urbritischen Ansatz und stets mit einer Kappe auf dem Kopf. Bei über 1.000 Spielen stand Pulis bereits als Trainer an der Seitenauslinie, abgestiegen ist er noch nie in seiner Karriere - in der oberen Tabellenhälfte der Premier League gelandet aber auch noch nie. "Pulis ist wohl das ultimative Beispiel eines Trainers, der jegliche Ideen der Raffinesse ignoriert und einfach seinen Job erledigt", schrieb mal die BBC.
Und das tut er meist mit für Premier-League-Verhältnisse bescheidenen Mitteln, auch in diesem Sommer gab sein Verein mit am wenigsten Geld für Neuzugänge aus. "Schaut man sich die letzten neun Spielzeiten an, bin ich in Sachen Pfund pro Punkt der erfolgreichste Manager der Premier League", sagt Pulis stolz, "aber darüber rede ich nicht gerne."
Lieber redet er über das Wirken der ausländischen Trainer. Am Boxing Day bekommt er es wieder einmal mit einem Vertreter dieser Spezies zu tun: Arsene Wenger.
Würde Hacking-Fanatiker Francis Maule Campbell noch leben, er würde ob der kontinentaleuropäisierten Premier League wohl erschaudern. Die ausländischen Trainer haben das Kommando übernommen, aber immerhin verfolgt in West Bromwich ein Trainer den urbritischen Fußballansatz. Wobei: Was heute als urbritischer Fußballansatz durchgeht, würde Campbell und seinen Weggefährten aus den 60er Jahren des vorletzen Jahrhunderts wohl trotzdem französisch vorkommen.
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