Als der FC Watford 1984 letztmals im FA-Cup-Finale stand: Angriff der bälledreschenden Mathematiker

Der FC Watford im Sommer 1982: Elton John sitzt am Steuer, die Mannschaft fährt mit.
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Watfords Taktik: Mathematisches Draufdreschen

So sanft und liebevoll mit den eigenen Fans umgegangen wurde, so rustikal und grob mit dem Ball. Hoch und weit nach vorne, feinster Kick'n'Rush. Draufdreschen, hieß das Motto. In Watford war Draufdreschen aber nicht gleich Draufdreschen. Draufdreschen war hier Mathematik. Damals, in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren, erhielt die Mathematik Einzug in den englischen Fußball. Ein Trio machte sich auf, den Fußball zu entschlüsseln.

Da wäre Charles Reep, ein ehemaliger RAF-Leutnant und hobbymäßiger Fußball-Analyst. Charles Hughes, ein Trainer ohne Profi-Hintergrund dafür aber mit akademischer Ausbildung. Und eben Graham Taylor, der als Watford-Trainer mit Reep und Hughes im Austausch stand. Relativ zeitgleich machten sie sich Gedanken darüber, Fußballsiege mathematisch zu errechnen. Wer dabei von wem inspiriert wurde, ist so unklar wie umstritten.

Alle drei kamen bei ihren Berechnungen jedenfalls zum gleichen Schluss: Die meisten Tore fallen nach Aktionen, die aus weniger als drei Pässe bestehen, weshalb es die zielführendste Spielweise sei, so schnell wie möglich zum Abschluss zu kommen. Sie alle übersahen dabei aber den Umstand, dass die Wahrscheinlichkeit zu treffen mit der Anzahl an vorangegangenen Pässen steigt. Sie rechneten mit absoluten Zahlen, nicht mit relativen. Ein mathematischer Fehler, der den zweiten Bildungsweg Hebamme wählte. Er wurde zur Geburtshilfe des systematischen Kick'n'Rush.

John Barnes konnte präziseste Flanken schlagen - und verwerten.
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John Barnes konnte präziseste Flanken schlagen - und verwerten.

Mit Reachers zum POMO

Die Berechnungen der Pseudo-Mathematiker wurden immer obskurer. Es ging etwa um einen ominösen POMO, den "Point of Maximum Opportunity". Ein imaginärer Punkt im Strafraum, der mit den langen Bällen anvisiert werden sollte, um höchste Erfolgschancen auf Treffer zu gewährleisten. Es ging auch um sogenannte Reachers, erstrebenswerte lange Bälle, die im Angriffsdrittel landen. 202 Reachers schaffte Watford mal gegen Chelsea und darauf war man sehr stolz. Rekord, nickten die Fußball-Mathematiker anerkennend. Über 90 Prozent aller Treffer Watfords unter Taylor fielen nach weniger als drei vorangegangenen Pässen. Einsame englische Spitze.

Kurios an den fehlerhaften Berechnungen war, dass der Spielstil trotzdem funktionierte. Denn Watford hatte das ideale Personal dafür. Nigel Callaghan etwa, der von den Flügeln im 4-4-2 präziseste Flanken schlug. Luther Blissett, der die Flanken verwertete. Und John Barnes, der beides tat. Es wurde hoch gepresst und nach Ballgewinn geradlinig das gegnerische Tor anvisiert.

In Europa wurde Watfords Taktik entschlüsselt

"Er hat uns im Training genau erklärt, warum seine Methoden funktionieren und wir haben ihm geglaubt", sagte sein ehemaliger Spieler Brian Talbot. Präsident Elton John lobte "Weisheit und Genius" von Taylor. "Jahrzehnte bevor es iPads gab, nutzte er statistische Analysen", erinnerte sich Ex-Spieler Lee Sinnott, "er war seiner Zeit voraus."

Watford marschierte also durch das Ligensystem und landeten schließlich 1983 lediglich von Liverpool geschlagen auf dem zweiten Platz der ersten Liga. Das bedeutete die Qualifikation für den UEFA Cup und war gleichzeitig die Grenze für Watfords Kick'n'Rush.

In der heimischen Liga versuchten Watfords Kontrahenten, den Stil der Hornets zu kopieren, um so dagegenzuhalten. Vergeblich. Die Kopien waren schlechter als das Original. "In Europa haben wir aber gegen Mannschaften gespielt, die sich zurückgezogen haben, kurze Pässe gespielt und den Ball gehalten haben", sagte Taylor. Formel entschlüsselt.

Gegen Sparta Prag schied Watford schließlich aus. "Wenn wir den Ball verloren haben, haben wir ihn nicht mehr zurückbekommen", klagte Taylor. Es war wie Kinder gegen Erwachsene. Und es war bis heute Watfords letzter europäischer Auftritt. Das FA-Cup-Finale der Saison 1983/84 ging gegen Everton verloren.

Graham Taylor trainierte den FC Watford von 1977 bis 1987 und von 1996 bis 2001. Hier feiert er mit seiner Mannschaft den Zweitligaaufstieg 1999.
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Graham Taylor trainierte den FC Watford von 1977 bis 1987 und von 1996 bis 2001. Hier feiert er mit seiner Mannschaft den Zweitligaaufstieg 1999.

Graham Taylor ging und kam wieder

Mit einer Taktik, die einfacher kaum sein könnte; mit einer Stadt, die geschlossen hinter dem Klub stand; mit einem Präsidenten, der seinen Traum lebte und einem Trainer, der Prinzipien hatte, wurde Watford vom viertklassigen Niemand zum zweitbesten Team Englands.

Nach zehn Jahren verließ Taylor Watford 1987, um Aston Villa und auch mäßig erfolgreich das englische Nationalteam zu trainieren. 1996 kam er zurück und führte die mittlerweile in die dritte Liga durchgereichten Hornets erneut in die erste Liga. Ganz so schön wie damals war es aber nicht mehr.

"Meine erste Amtszeit in Watford waren wahrscheinlich die zehn glücklichsten Jahre meines Lebens", sagte Taylor mal und meinte damit wohl die Erfolge gleichermaßen wie die große Gemeinschaft, die manchmal dafür sorgte, dass in benebelter Vertrautheit im Sommer Weihnachtslieder gesungen wurden. Ob man sich jetzt nun daran erinnert oder auch nicht.

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