"Bis zu diesem Moment ist Judas noch die Nummer eins", erklärte Mourinho Mitte März. Seine Red Devils hatten gerade gegen den FC Chelsea mit 0:1 verloren, Anhänger der Blues hatten ihren Ex-Trainer als Judas beschimpft. Mourinho bezog sich auf gewonnene Titel in London. Mehr war auch nicht drin, denn in der Liga ist ihm Nachfolger Antonio Conte weit enteilt.
Mourinho hat es in der Premier League derzeit auf Rang vier abgesehen. The Special One, The Only One, The-Platz-Vier-One? Nicht nur aufgrund des schiefen Anglizismus dürfte es dem Portugiesen bei diesem Gedanken kalt den Rücken herunterlaufen. Momentan reicht es ja nicht einmal zu Platz vier, auf Manchester City fehlen vier Punkte.
Die Europa League - noch so ein Gänsehaut-Begriff für den ehrgeizigen Portugiesen - ist die neue Bühne für Mourinho geworden. Anderlecht statt Barcelona, Rostow statt München. Was ist nur geworden aus dem charismatischen Underdog, der den FC Porto und Inter Mailand auf den Thron Europas setzte?
Top Vier trennen sich von Mourinho
Oder muss die Frage vielleicht doch eher lauten: Was ist aus seiner Umwelt geworden? Die Premier League erlebte in diesem Jahr eine Revolution. Conte, Pep Guardiola, Jürgen Klopp und Mauricio Pochettino haben sich die ersten vier Plätze geangelt. Hochmoderner, dynamischer und präzise abgestimmter, offensiver Fußball dominieren die Liga.
Conte beherrscht seine Gegner mit Wingbacks und einer Dreierkette in der Defensive, die gar David Luiz auffängt. Guardiola tüftelt in Manchester an seiner Interpretation des Juego de Posicion, Klopp am Heavy-Metal-Fußball an der Merseyside. Pochettino vereint ähnliche Ansätze und ist erster Verfolger Chelseas.
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Und Mourinho? Der wechselte bei besagter 0:1-Niederlage Henrikh Mkhitaryan für Marouane Fellaini aus. Nun gut - ganz so schlimm ist es sicherlich nicht um den 54-Jährigen bestellt. Er ist kein Relikt, kein Mann für das Altenheim. Aber doch hat er den Anschluss an die Avantgarde verpasst.
Reaktion statt Aktion
Das war so nicht vorhergesagt worden. Vor wenigen Wochen noch sah man Guardiola scheitern. Auch Liverpool machte eine Durststrecke durch.
Es ist unbestritten, dass Mourinho den Top Vier derzeit hinterherläuft. In vielen Belangen, nicht nur tabellarisch. Seine elf Mann auf dem Platz wirken nicht derart abgestimmt, nicht so taktisch ausgereift wie das makellose Spiel seiner Konkurrenten. Es fehlt bisweilen an Tempo, an Bewegung ohne Ball.
Gegen Chelsea setzte Mourinho im Viertelfinale des FA Cups auf eine Sechserkette gegen Chelseas Fünferoffensive. Nach dem Platzverweis für Ander Herrera überließ er schließlich in einem 6-2-1 Chelsea komplett die Kontrolle. Reaktion statt Aktion und nach 90 umkämpften Minuten eine verdiente Niederlage.
Mind Games werden belächelt
Bisweilen erinnert Mourinho mit seiner Herangehensweise an Sir Alex Ferguson. Wenige Individualisten gepaart mit treuen Arbeitern. Cristiano Ronaldo, Eric Cantona oder Ryan Giggs wurden dort mit Spielern wie Wes Brown, Park Ji-Sung oder Darren Fletcher kombiniert.
Jahre später heißen diese Spieler eben Zlatan Ibrahimovic, Paul Pogba und Henrikh Mkhitaryan beziehungsweise Jesse Lingard, Antonio Valencia und Daley Blind. Doch nicht nur in diesem Punkt ähneln sich Ferguson und Mourinho. Die berühmten Mind Games sind aus der Premier League zu einem Großteil verschwunden.
Conte scherzt gerne auf Pressekonferenzen, Guardiola ist stets voll des Lobes für seine Konkurrenten. Klopp hat sich direkt am ersten Tag den Stempel als umgänglicher Kerl gesichert und Pochettino gibt gerne den Gentleman. Mourinho dagegen spielt seine Spiele noch. Ähnlich wie Ferguson es gerne tat. Doch die Antworten bleiben inzwischen aus.
Autoritärer Führungsstil mit Belastungsprobe
Höchstens verwirrt wirken die Gegner nun, wenn sie von Mourinho verbal attackiert werden. Gleiches gilt für seine Spieler, denen der Portugiese teils öffentlich das Vertrauen entzieht. Luke Shaw wurde zum jüngsten Opfer einer Attacke per Pressekonferenz, der Linksverteidiger nach dem 1:1 gegen Everton harsch kritisiert.
"Er hat eine gute Leistung gezeigt: sein Körper mit meinem Gehirn", hatte Mourinho erklärt. Dass Shaw nur 45 Minuten auf der Seite des Portugiesen spielte, ließ er dabei aus. Vielleicht ärgerte ihn nur die Tatsache, dass sein Team mit einem Remis die Chance ausließ, zu ManCity aufzuschließen, das am gleichen Spieltag gegen Chelsea verlor.
Ein plumper Zug von Mourinho, der allerdings für Medienpolitik mit dem Vorschlaghammer bekannt ist. Das Problem findet sich letztlich im Lehrbuch: Eine rein autoritäre Führungsweise funktioniert so lange gut, wie die Ergebnisse stimmen. Und die stimmen derzeit nur bedingt.
Offensive wie ein Mittelfeldklub
"Manchester United muss nicht in der Champions League spielen", betonte Mourinho vor dem Duell mit Anderlecht: "Aber Manchester United will dort spielen." Er führte aus: "Wir müssen für offene Türen kämpfen. Wenn sich eine schließt, müssen wir die nächste nutzen."
Sein Team werde mit allem kämpfen, was möglich sei. Er gestaltet wieder einen Underdog, einen Außenseiter im Kampf um Rang vier. Das war schon immer eine Stärke Mourinhos. Doch man hat in dieser Saison ein wenig das Gefühl, dass er nicht nur einen Underdog herbeiredet, sondern derzeit auch wirklich einen Underdog anführt.
46 Tore haben die Red Devils bisher in 30 Spielen erzielt. Das sind ähnliche viele wie West Ham United, der AFC Bournemouth oder Crystal Palace. Sicherlich wurden dabei weniger Gegentore kassiert, doch wie man seine selbsterklärte Lieblingsstatistik dreht und wendet: Die Nummer eins ist Judas auch dort nicht.
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