Herbstliche Sonnenstrahlen zieren das Trainingsgelände von Crystal Palace in Beckenham - etwa 13 Kilometer südöstlich des innerstädtischen Trubels in London. Für Wilfried Zaha, der trotz seines zarten Alters von 25 Jahren bereits rund 150 Spiele in Englands Oberhaus auf dem Buckel hat, ist es eigentlich ein ganz normaler "day at the office". Doch bei diesem morgendlichen Trainingsspiel gegen die klubinterne U23 im Herbst 2016 durchlebt der dynamische Linksaußen einen ungewohnt zähen Arbeitstag.
Immer wieder, wenn er am Rechtsverteidiger vorbeiziehen will, hat dieser seinen Bewegungsablauf bereits kopiert und jede noch so ausgeklügelte Finte des Ivorers antizipiert. Selbst als er sich mal ein paar Quadratmeter Luft verschafft, wird sein explosiver Antritt aufgenommen und der Ball in letzter Sekunde abgegrätscht. Erste Anzeichen einer fußballerischen Midlife-Crisis etwa? Mitnichten.
Schnell stellt Zaha fest, dass sein wiederholtes Scheitern wenig mit eigenem Unvermögen zu tun hat, sondern vielmehr den Antizipationskünsten seines Gegenspielers geschuldet ist. Das Gesicht seines Widersachers kennt er zu diesem Zeitpunkt nicht, doch die langen, stelzenartigen Beine des Rechtsverteidigers hinterlassen nachhaltig Eindruck.
"Ich war schockiert, wie gut er war. Ich habe bereits gegen einige herausragende Rechtsverteidiger gespielt - er gehört definitiv dazu", sagte Zaha rückblickend. Bei dem hartnäckigen Kontrahenten, der den ehemaligen United-Spieler ein ums andere Mal in die Schranken wies, handelte es sich um einen großgewachsenen, dynamischen Teenager aus der Gegend, um Aaron Wan-Bissaka, der an jenem Donnerstag aufgrund personeller Ausfälle beim Spiel gegen die erste Mannschaft als provisorischer Rechtsverteidiger aushelfen durfte.
Seit diesem einschneidenden Erlebnis hat sich bei Wan-Bissaka viel getan: Die ersten Gehversuche in der Premier League erfolgten gegen Tottenham, Chelsea, Liverpool und Manchester United. Im Anschluss verlor ein Premier-League-Veteran seinen Stammplatz an den aufstrebenden Rechtsverteidiger und spätestens seit der aktuellen Saison ist "Wan-Wan" nicht mehr aus der Startelf von Roy Hodgson wegzudenken. Eine verblüffende Entwicklung des derzeit hellsten Sterns am Südlondoner Fußballhimmel, wirbelte das Eigengewächs von Crystal Palace doch wenige Monate zuvor eigentlich noch als Rechtsaußen in deutlich offensiveren Gefilden umher.
In 18 Monaten vom Flügelstürmer zum Rechtsverteidiger
Angefangen hat alles auf dem Bolzplatz "Walton Green." Nicht weit entfernt von seinem Elternhaus kickte Wan-Bissaka dort mit seinen Freunden auf dem nicht ganz so grünen Rasen in Croydon. "Wir waren meistens um die 20 Leute und haben einfach nur Fußball gespielt. Ich war damals eigentlich Stürmer. Ich hätte mir nicht vorstellen können, eines Tages als Verteidiger aufzulaufen."
Es war vor allem die physische Beschaffenheit des Jungen, die den Scouts von Crystal Palace derart imponierte, dass sie ihn als Elfjährigen kurzerhand in die Jugendakademie holten - ohne ihm eine feste Rolle zuzuweisen. "Zuerst war er Linksaußen, dann wechselte er auf den rechten Flügel", erklärte Richard Shaw, der Wan-Bissaka sowohl in der U16 als auch in der U23 betreute. "Er hat bereits auf mehreren Positionen überzeugt. Man könnte ihn wahrscheinlich auch ins zentrale Mittelfeld stellen und er würde trotzdem einen guten Job machen. Er ist die Art von Spieler, auf die du dich Woche für Woche verlassen kannst und die immer eine solide Leistung abliefern", so Shaw weiter.
Nach einigen Jahren als klassischer Flügelspieler musste Wan-Bissaka eines Tages als Notnagel herhalten und die Position des Rechtsverteidigers ausfüllen. "Ich habe das anfangs nicht wirklich genießen können, weil ich nicht mit angreifen durfte, aber in den darauffolgenden Trainingsspielen habe ich immer mehr Bälle erobert und Gefallen daran gefunden."
Weil er sich dabei ziemlich ordentlich anstellte, wurde er in der zweiten Mannschaft von nun an regelmäßig in dieser Rolle eingesetzt und lernte schnell dazu. Sein Potenzial erkannte auch Hodgson, der ein Jahr zuvor noch die englische Nationalmannschaft bei der EM in Frankreich betreut hatte und im September 2017 das Traineramt bei Crystal Palace übernahm. "Ich habe ihn oft bei der U23 gesehen. Er war ein sehr hartnäckiger und disziplinierter Verteidiger, stark in Eins-gegen-eins-Situationen - ein guter Athlet. Aber durch seinen natürlichen Instinkt hat er eben auch diesen Drang nach vorn", urteilte der Coach.
Unter Hodgson durfte Wan-Bissaka zunächst sporadisch beim ersten Team mittrainieren, Aussichten auf einen Einsatz in der Premier League gab es zunächst jedoch nicht. Der erfahrene Joel Ward beackerte bereits seit 2012 die rechte Abwehrseite von Crystal Palace und war auch unter Hodgson unumstritten. In Folge dessen machte sich bei Wan-Bissaka allmählich Ungeduld breit. "Zwei Tage vor Transferschluss (im Januar 2018, Anm. d. Red.) habe ich mich beim Trainer erkundigt, ob ich eine Leihe antreten kann, um woanders Erfahrung zu sammeln." Hodgson lehnte jedoch ab und weniger als zwei Monate später entpuppte sich diese Entscheidung als goldrichtig.
Die Feuertaufe: "Konnte es gar nicht glauben, als ich vor Pogba stand"
Als sich Stammverteidiger Ward eine Verletzung zuzog und auch der frühere Liverpool-Spieler Martin Kelly als Backup ausfiel, entschied sich Hodgson kurzerhand dazu, das junge Eigengewächs ins kalte Wasser zu werfen.
Am Sonntag, den 25. Februar 2018 war es dann soweit: Debüt in der Premier League. Gegen die Spurs. "Wenn du dein erstes Spiel für den Verein absolvierst, bei dem du bereits seit neun Jahren tätig bist und alle Nachwuchsmannschaften durchlaufen hast, dann muss das eigentlich eine sehr nervenaufreibende Angelegenheit sein. Erst recht, wenn es dann auch noch gegen ein Team vom Format Tottenham geht", sagte Hodgson. Doch von Aufregung keine Spur: "Ich war wirklich überrascht, dass er sich so gut geschlagen hat. Er hat alle Erwartungen übertroffen", so der Palace-Übungsleiter.
Von nun an ging es Schlag auf Schlag. Die Verletzungssituation beim abstiegsbedrohten Klub zeichnete sich im Frühjahr derart prekär, dass dem Trainer in dieser entscheidenden Saisonphase gar keine andere Wahl blieb, als den Jungen weiterhin auf der großen Bühne auflaufen zu lassen. Die Namen der Spieler, denen Wan-Bissaka in seinen ersten sechs Pflichtspieleinsätzen situativ gegenüberstand, glichen dabei einer Premier-League-Top-11: Christian Eriksen, Dele Alli, Paul Pogba, Alexis Sanchez, Marcus Rashford, Willian und Sadio Mane. Doch das unerschrockene Auftreten und die perfekt getimten Grätschen erstickten jeden Zweifel im Keim.
"Herausfordernd und aufregend zugleich" seien diese Duelle gewesen, meinte Wan-Bissaka: "Gegen Manchester United zu spielen war aber auch sehr beängstigend. Ich konnte es gar nicht glauben, als ich dann vor Pogba stand. Gegen ihn zu verteidigen, fühlte sich wie ein riesiger Erfolg an, aber es war auch etwas surreal."
Die Früchte des Erfolgs: Wann kommt der Anruf von Southgate?
Die überzeugenden Leistungen des neugeborenen Rechtsverteidigers wurden umgehend belohnt. Die Klubführung verlängerte mit Wan-Bissaka vorzeitig bis 2022 und das Team hielt wenige Wochen später die Klasse. Im Sommer ließ der 20-Jährige mal kurz Ward im Rückspiegel verschwinden, ist nun unumstrittene Stammkraft im Team von Hodgson und wurde im Handumdrehen zum vereinsinternen Spieler der Monate August, September und Oktober gewählt. Auch U21-Coach Aidy Boothroyd wurde schnell auf den gebürtigen Londoner aufmerksam und verhalf ihm am 7. September zum Debüt bei den "kleinen" Three Lions.
Ob Wan-Bissakas rasanter Aufstieg in naher Zukunft im englischen A-Team mündet, ist derzeit noch ungewiss. Zwar ist er aufgrund seines Naturells prädestiniert für die Spielweise der Engländer, die oft mit einer Dreierkette agieren und dadurch auf schnelle und ausdauernde Außenverteidiger angewiesen sind, doch die Konkurrenz ist groß. Momentan stehen mit Kyle Walker, Trent Alexander-Arnold und Kieran Trippier in der Hackordnung mindestens drei Akteure vor Wan-Bissaka.
Crystal Palace: Statistiken von Aaron Wan-Bissaka
Wettbewerb | Spiele | Tore | Assists | Gelbe Karten | Gelb-Rote Karten | Rote Karten |
Premier League | 11 | - | 1 | 1 | - | 1 |
Carabao Cup | 3 | - | 1 | - | - | - |
Gesamt | 14 | - | 2 | 1 | - | 1 |
"Um wirklich ins Team zu kommen, muss er einige Spieler aus dem Weg räumen, bevor er in Betracht gezogen wird", sagte Hodgson, zeigte sich im gleichen Atemzug jedoch optimistisch: "Wir glauben an ihn und sind überzeugt davon, dass er es schaffen kann. England tut das offensichtlich auch, ansonsten hätten sie ihn nicht zur U21 berufen."