Schüchtern, schwierig, sozial inkompetent: Kevin De Bruyne wurde früher nicht mit den positivsten Charaktereigenschaften beschrieben, wenn man über ihn gesprochen hatte. Doch heute ist der Belgier der beste Spieler in einer der besten Mannschaften der Welt. Manchester City ist seit zwei Jahren so abhängig von ihm wie von kaum einem anderen Spieler.
"Du bist ein Scheiß-Trainer!", sagt Kevin De Bruyne. Pep Guardiola schaut kurz verdutzt, ein entgeistertes "Was?", rutscht dem 48-Jährigen heraus. "Du gewinnst nur", erklärt De Bruyne, bricht in Gelächter aus und er und sein Coach umarmen sich. De Bruyne und Guardiola, das passt zusammen.
Denn fragt man De Bruyne nach seiner ernsthaften Meinung über Guardiola, sagt er das genaue Gegenteil von dem, was er Guardiola im Mai nach der erfolgreichen Titelverteidigung in der Premier League im Scherz zurief. "Taktisch ist er der beste Trainer, unter dem ich jemals gespielt habe", sagt De Bruyne dann: "Wir denken gleich, was den Fußball betrifft. Ich mag seine Art und verstehe seine Ideen. Das ist einer der Gründe, weswegen ich mich so gut fühle."
Dass er sich aktuell gut fühlt, zeigt De Bruyne Woche für Woche. Neun Tore in neun Pflichtspielen hat der Belgier bereits vorbereitet. Das ist nur eine Vorlage weniger als in der vergangenen Saison. Einer Spielzeit, in der ihm die sprichwörtliche Seuche auf Schritt und Tritt folgte. 29 Pflichtspiele verpasste der 28-Jährige verletzungsbedingt.
Manchester City: Guardiola wegen De Bruyne in der Kritik
Außenbandriss im Knie, Bänderverletzung, Oberschenkelverletzung, muskuläre Probleme. Das ging so weit, dass De Bruyne Guardiola in Schutz nehmen und den Vorwurf der Überbelastung entkräften musste. "Es waren zwei Unfälle", sagte er angesprochen auf seine teils schweren Bänderverletzungen im Knie in der Hinrunde. Er sei nicht ausgelaugt gewesen. Das war er auch nicht am 9. April dieses Jahres, als City das Hinspiel im Champions-League-Viertelfinale gegen Tottenham Hotspur verlor.
De Bruyne war erstmals seit Wochen verletzungsfrei geblieben und auf bestem Weg zurück zu alter Stärke. Gegen die Spurs spielen durfte er dennoch nur eine Minute. Guardiola setzte auf defensive Stabilität und Spielkontrolle mit Ilkay Gündogan und Fernandinho auf der Doppelsechs. Eine Entscheidung, für die er nach der folgenschweren Pleite scharf kritisiert wurde.
Im dramatischen Rückspiel acht Tage später (4:3) war es ein bärenstarker De Bruyne, der City mit einem Assist-Hattrick fast im Alleingang ins Halbfinale getragen hätte, wären da nicht die Aussetzer von Aymeric Laporte, Spurs-Stürmer Fernando Llorente und der Videobeweis gewesen, der dem 5:3 durch Raheem Sterling in der Nachspielzeit die Gültigkeit versagte.
ManCity und Kevin De Bruyne: Abhängig vom Wäschetrockner
Die zwei so unterschiedlichen Spiele gegen die Spurs in der Königsklasse standen sinnbildlich dafür, wie abhängig die Cityzens von De Bruyne sind. Steht der Belgier in der Startelf, gewinnt Manchester seit Beginn der Saison 2017/18 83,3 Prozent der Spiele, ohne ihn sind es "nur" 71,2 Prozent. Außerdem schießt City mit ihm im Schnitt 0,3 Tore pro Spiel mehr (2,8) und kassiert 0,1 Gegentore pro 90 Minuten weniger (0,7). Bedeutet: Spielt De Bruyne, ist City torgefährlicher und gleichzeitig stabiler in der Defensive.
Der "Tumble Dryer" (zu deutsch: Wäschetrockner), wie ihn seine Freunde aufgrund seiner trockenen, emotionslosen Antworten beim Messenger WhatsApp im Scherz nennen, läuft auf Hochtouren und macht eine Weltklasse-Mannschaft mit überragenden Individualisten wie Sergio Agüero, David Silva, Leroy Sane, Raheem Sterling und Co. noch ein Stückchen besser - und zwar an beiden Enden des Feldes. Das bis dato letzte Spiel, das De Bruyne über die vollen 90 Minuten absolvierte und City verlor, ist fast zwei Jahre her (14. Januar 2018, 3:4 gegen Liverpool).
Auch deshalb geht es Guardiola mit De Bruyne, wie De Bruyne mit Guardiola. "Er ist einer der besten Spieler, die ich jemals trainiert habe. Messi sitzt an einem Tisch alleine, aber am Tisch daneben sitzt er. Da gibt es keine Zweifel", sagt Guardiola über seinen Wäschetrockner. Weil dieser einfach alles mache. "Haben wir den Ball nicht, ist er der erste, der um ihn kämpft. Haben wir den Ball, sieht er alles."
Manchester City seit 2017/18 mit und ohne De Bruyne
Mit De Bruyne | Statistik | Ohne De Bruyne |
78 | Pflichtspiele | 52 |
65 | Siege | 37 |
8 | Remis | 5 |
5 | Niederlagen | 10 |
2,8 | Tore/Spiel | 2,5 |
0,7 | Gegentore/Spiel | 0,8 |
83,3 Prozent | Siegquote | 71,2 Prozent |
2,6 | Punkte/Spiel | 2,2 |
Kevin De Bruyne: Zu schüchtern, zu schwierig und übersehen
Das mit dem Sehen war in der Karriere des Kevin De Bruyne so eine Sache. Als er mit 14 Jahren ins Internat zum KRC Genk ging, sah seine Gastfamilie nur einen verschlossenen, schüchternen, ja fast schon sozial inkompetenten Jungen und informierte den Klub darüber, De Bruyne nicht mehr bei sich haben zu wollen.
Weil er so gewesen sei, wie er eben ist, erzählte De Bruyne bei The Players Tribune. Sie sagten, er sei zu still und zu schwierig. Ruhig ist De Bruyne bis heute, aber nur außerhalb des Platzes. "Super chilled", nennt er sich da selbst. Dass dem so ist und sein Stresslevel so niedrig ist, belegen Speicheltests der City-Ärzte.
Schwierig war er zumindest früher auch ab und zu, weil er - wenn er denn was sagt - im Eifer des Gefechts nicht gerade zimperlich ist. "Ich schäme mich für sie. Die, die nicht spielen wollen, sollen gehen", hatte er einmal über seine Genk-Mitspieler in einem Halbzeit-Interview 2012 gesagt. In Deutschland weitaus bekannter ist ein Vorfall in Wolfsburg, wo er einen Balljungen als "Motherfucker" bezeichnete, der ihm gefälligst den Ball geben solle.
"Einige Leute haben gesagt, dass ich einen schlechten Charakter habe und es deswegen nicht schaffen werde. Ich habe mir dann selbst gesagt: 'Lasst uns sehen, wer am Ende das letzte Wort hat'", fuhr er fort. Das letzte Wort hatte am Ende er. Zwar nicht beim FC Chelsea, wo er von Genk aus hinwechselte, aber bei Jose Mourinho "aus irgendeinem Grund in Ungnade gefallen" sei, wie er rückblickend sagte: "Ich habe keine Erklärung erhalten."
De Bruyne bei ManCity: "Ich weiß nicht, was da passiert ist"
Neun Spiele machte er nur für die Blues, die ihn zweimal nach Deutschland ziehen ließen. Erst zur Leihe nach Bremen und dann endgültig zu Wolfsburg. Und als er eineinhalb Jahre danach in die Premier League zurückkehrte, machte sich Frustration an der Stamford Bridge breit.
"Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was da passiert ist", sagte Antonio Conte, der dort 2016 das Teammanagement übernommen hatte: "Wir reden hier über einen Top-Spieler. Er ist schnell, technisch gut, arbeitet für die Mannschaft. Er ist der komplette Spieler." Einer, der selbst in der mit Stars gespickten Startelf der Cityzens nicht zu ersetzen ist.
27 Torchancen hat De Bruyne bereits in dieser Saison aus dem Spiel heraus kreiert - ein Topwert in den fünf stärksten Ligen Europas. Im August überflügelte er Mesut Özil und stellte einen neuen Premier-League-Rekord auf. Nie hat ein Spieler weniger Partien für 50 Torvorlagen gebraucht (123).
Warum er es so gut wie kaum ein anderer verstehe, seine Mitspieler in Szene zu setzen? "Weil ich weiß, was und wie sie denken, wo sie sich hinbewegen", antwortet De Bruyne auf etwaige Fragen. Das wisse er, weil Guardiola ihn in der Vergangenheit bereits mehrfach auf den Flügeln und sogar als Falsche Neun aufgeboten hatte. Wahrlich ein "Scheiß-Trainer", der auch wegen De Bruyne zwar nicht "nur", aber sehr oft gewinnt.