"In dieser Welt hat Qualität ihren Preis. Und Liverpool hat einen hohen Preis bezahlt - für einen erstklassigen Torjäger!"
Mit diesen Worten feiert Kommentator Martin Tyler im August 1995 Stan Collymores erstes Tor im Trikot des FC Liverpool. Der macht sich nämlich bereits in seinem Debüt für die Reds auf, die Ablöse von achteinhalb Millionen Pfund - rund 13 Millionen Euro, zu diesem Zeitpunkt Rekord für einen englischen Spieler - zu rechtfertigen. Mit zwei Haken hatte er mehrere Gegenspieler von Sheffield Wednesday genarrt, ein paar schnelle Schritte und ein fulminanter Abschluss aus 25 Metern ins linke Eck: "Erst eine Stunde ist seine Liverpool-Karriere alt, da schlägt Stan Collymore zu. Ein Tor aus dem Nichts!"
Zu diesem Zeitpunkt scheint es, als ob es in der Welt des 24-jährigen Collymore nicht besser laufen könnte. Als künftiger Superstar wird er gehandelt, als Komplettpaket eines Angreifers: 1,88 Meter groß, dynamisch, torgefährlich. "Er zeigte im ersten Jahr direkt, was er draufhat: Physisch stark, schnell, mit dem Instinkt eines Torjägers ausgestattet", wird sich Liverpools damaliger Manager Roy Evans später erinnern. Nach 22 Toren für Nottingham Forest in der Vorsaison hat er Collymore loseisen können - Konkurrent Manchester United hat sich stattdessen für Andy Cole entschieden. Collymore soll mit Robbie Fowler das Sturmduo der Zukunft bilden und die Reds zum ersten Meistertitel seit 1990 schießen.
Doch innerlich kann sich Collymore über den erfolgreichen Start an der Anfield Road und später auch über die gelungene erste Saison mit insgesamt 19 Pflichtspieltreffern nicht freuen. Im Gegenteil: "Ein Freund von mir hat immer darüber gewitzelt", sagt er 2001 im Rückblick. "Er meinte: 'Du spielst für einen der größten Klubs der Welt, hast gerade zwei Tore gemacht, alle feiern dich - und du bist der unglücklichste Mensch, den ich je gesehen habe.' Und ich hatte keine Antwort. Wäre ich schwer verletzt gewesen, ich hätte einen Grund gehabt. Aber so hatte ich keine Ahnung."
Stan Collymore: Seine Statistiken in der Premier League
Saison | Verein | Spiele | Tore | Vorlagen |
1992/93 | Crystal Palace | 2 | - | - |
1994/95 | Nottingham Forest | 37 | 22 | - |
1995/96 | FC Liverpool | 31 | 14 | 1 |
1996/97 | FC Liverpool | 30 | 12 | 2 |
1997/98 | Aston Villa | 25 | 6 | 1 |
1998/99 | Aston Villa | 20 | 1 | - |
1999/2000 | Leicester City | 6 | 4 | - |
2000/2001 | Leicester City/Bradford City | 12 | 3 | - |
Stan Collymores Depression: "Mein Tank war leer, körperlich und emotional"
In Deutschland werden Depressionen im Fußball für immer mit dem Fall Robert Enke verbunden bleiben. In England ist Stan Collymore einer der ersten Fußballer, der seinen Kampf mit dem "Black Dog", wie die Krankheit schon von Winston Churchill genannt wurde, öffentlich macht.
Dabei soll es mehrere Jahre dauern, bis sich der Angreifer darüber klar wird, was ihm das Leben buchstäblich zur Hölle macht. In seinem zweiten Liverpool-Jahr geht es für Collymore plötzlich schleichend bergab: "Ich war immer nur müde", berichtet er im Interview mit dem Guardian. "Ich kam um 13 Uhr vom Training und habe bis zum nächsten Morgen geschlafen, das war nicht unüblich. Dann gab es Phasen, in denen ich an Schlaflosigkeit litt. Selbst das Treppensteigen war eine Qual. Ich machte alle möglichen körperlichen Tests, die Ergebnisse waren 1A."
Die Folge des schleichenden Leistungsabfalls: 1997 verkauft Liverpool den einstigen Hoffnungsträger an Aston Villa. Auf dem Platz folgen für Collymore Höhen und Tiefen, gesundheitlich steuert er auf den Zusammenbruch zu. Im Januar 1999 ist es so weit: "Es war an meinem Geburtstag, einen Tag vor dem FA-Cup-Spiel gegen Fulham. Ich saß daheim und war einfach nur leer. Also rief ich Villa-Physio Jim Walker an: 'Jim, ich brauche Hilfe.' Mein Tank war leer, körperlich und emotional."
Depressionen im Fußball: Keine Unterstützung für Stan Collymore
Drei Wochen wird Collymore in der Privatklinik Roehampton Priory in London stationär behandelt. Doch als er seine Erkrankung öffentlich macht, bleibt Unterstützung weitgehend aus. Mehr noch: Selbst vom Verein kommt nur Unverständnis. Villa-Manager John Gregory will von Collymores Problemen nichts wissen - und zählt ihn öffentlich an: "Bei einer alleinerziehenden Mutter in einer Sozialwohnung kann ich Depressionen ja verstehen, aber nicht bei einem hochbezahlten Fußballer."
Klub-Boss Doug Ellis empfiehlt seinem Stürmer harte Arbeit, um aus dem Tief herauszukommen, und schickt ihn zwischenzeitlich für einen Monat in den Urlaub. Doch die Kosten für den Klinikaufenthalt will der Verein nicht tragen - und als Collymore aus der Reha zurückkehrt, empfängt ihn Teamkollege Gareth Southgate mit den Worten: "Where the fuck have you been?" Villa hat die Mannschaft nämlich nicht über seine Situation informiert.
Stan Collymores Skandale: Kein Verständnis für seine Krankheit
Dass die Öffentlichkeit auf Collymores Depressionsbeichte größtenteils unbarmherzig reagiert, daran ist er nicht unschuldig. Mit mehreren Skandalen hat er sich seinen Ruf in den Jahren zuvor ruiniert, sie reichen vorn vergleichsweise harmlosen "Spice-Boys"-Geschichten - einer Party-Truppe beim FC Liverpool, zu der auch Collymore gerechnet wird - bis hin zu seinem absoluten Tiefpunkt: Im Juni 1998 rastet er in einer Pariser Bar nach einem Streit mit seiner Freundin, der TV-Moderatorin Ulrika Jonsson, aus und schlägt zu. Als Grund gibt er später Eifersucht in einer toxischen Beziehung an, auch zu viel Alkohol könnte eine Rolle gespielt haben. "Es tut mir sehr leid, mit diesem Fehler muss ich leben", sagt er heute. "Ich habe damals um Verzeihung gebeten und tue es jedes Mal aufs Neue."
Vorfälle wie dieser tragen dazu bei, dass damals viele so unbarmherzig auf Collymores Erkrankung reagieren: Der Star-Fußballer auf dem absteigenden Ast, Frauenschläger noch dazu, hat jetzt natürlich psychische Probleme und lässt sich in eine Schickimicki-Klinik für die Schönen und Reichen einweisen. Alles klar. So die Denkweise.
Aber zur Wahrheit gehört eben auch die Reaktion des Klubs, die heute nur noch ratlos zurücklässt. Und dass psychische Erkrankungen damals in ungleich größerem Maß als persönliche Schwäche ausgelegt werden. Gerade in England, wo man stolz ist auf die "Stiff upper lip", die stoische Selbstbeherrschung selbst in größten Krisen: Nun stell dich mal nicht so an!
Und so stürzen sich die Tabloids, allen voran die Sun, auf Collymore. An eine Schlagzeile erinnert er sich noch Jahre später: "Da sagte die Sun zu allen Fans von Aston Villa, sie sollten diesen Idioten aus dem Fußball verbannen. Wie kann er depressiv sein, wenn er so viel verdient?"
Stan Collymores Karriereende: Der Kampf gegen die Depression geht weiter
Seine Karriere bringt der so talentierte Stürmer trotz Behandlung nicht mehr in Gang: Nach Stationen in Fulham, Leicester, Bradford City und Oviedo beendet er 2001 seine Karriere. Mit gerade mal 30 Jahren. Danach arbeitet er als Kolumnist, Kommentator oder Experte, selbst ein einmaliger Ausflug nach Hollywood findet sich in seiner Vita.
Über allem steht bis heute sein Kampf für die gesellschaftliche Akzeptanz seiner Krankheit: "Du kannst Alkoholiker sein und ins Gefängnis kommen, und nach deiner Rückkehr in den Fußball wirst du für deine Charakterstärke gefeiert. Aber wenn du an der einzigen Krankheit leidest, aufgrund der sich Menschen das Leben nehmen, bist du plötzlich rückgratlos und schwach."
Den Kampf gegen die eigenen Dämonen hat Collymore derweil noch lange nicht gewonnen. Im Februar 2019 geht er mit einem schweren Rückschlag an die Öffentlichkeit: "In den letzten drei Wochen habe ich jeden Tag 20 Stunden geschlafen und stinke zum Himmel, weil ich mich nicht einmal waschen konnte."
Der Unterschied zu 1999: 20 Jahre nach seinem ursprünglichen Geständnis ist diesmal die Anteilnahme groß. Von früheren Teamkollegen bis hin zu Größen wie Gary Lineker. Und auch die Sun beweist, dass sie mittlerweile dazugelernt hat. Denn diesmal lautet ihre Überschrift: "Mutiger Stan Collymore enthüllt neuen Kampf mit Depressionen".
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