Langjährige Beobachter sind skeptisch, wie die Bedeutung, die Wucht und der mit Stars gespickte Kader von Manchester United mit der Spielphilosophie und der Art des "Fußball-Professors" Ralf Rangnick zusammenpassen sollen. Die Fußball-Kolumne.
Aus seiner Zuneigung für den englischen Fußball hat Ralf Rangnick nie ein Geheimnis gemacht. Grundlage dafür war vor allem sein Auslandsjahr an der University of Sussex während seines Englisch-Studiums auf Lehramt in Stuttgart.
Von dieser Faszination hat ihn auch eine äußerst schmerzliche Erfahrung nicht abbringen können, als er beim Amateur-Klub FC Southwick in der Nähe von Brighton mitkickte.
"Das war insgesamt ein tolles Jahr, aber wenn ich an die Zeit bei den Wickers zurückdenke - beim zweiten Spiel, auswärts in Chichester, habe ich direkt Erfahrung mit der englischen Härte gemacht", erzählte Rangnick im Sommer in der ARD:
"Ich wurde von hinten abgegrätscht und es fühlte sich an, als würde ich keine Luft mehr kriegen - das war dann auch so. Es hat sich nämlich rausgestellt, dass drei Rippen gebrochen waren und eine sogar die Lunge durchbohrt hat."
gettyRalf Rangnick in England: Drei Wochen im Krankenhaus
Konsequenz: Vier Monate Zwangspause, die ersten drei Wochen davon im Krankenhaus von Chichester "auf einer Station mit lauter 60-, 70-, 80-Jährigen".
Wenn Rangnick nun rund 42 Jahre später auf die Insel zurückkehrt, muss und wird er nicht mehr selbst dem Ball nachjagen. Und vermutlich kann er sich aufgrund seines zu erwartenden Millionengehalts eine deutlich bessere medizinische Versorgung leisten.
Denn der Schwabe wird in Kürze einen Vertrag bis Saisonende beim englischen Rekordmeister Manchester United unterschreiben und damit der dritte deutsche Coach bei einem Premier-League-Topklub neben Jürgen Klopp (Liverpool) und Thomas Tuchel (Chelsea).
Rangnick und ManUnited: Bekanntgabe Anfang der Woche
Nach Informationen von SPOX und GOAL wird bis Anfang nächster Woche mit einer finalen Einigung gerechnet, derzeit arbeiten die Anwälte an den letzten Details.
Langjährige Beobachter und Rangnick-Kenner wundern sich gleichwohl über den Schritt, da Rangnick und United in vielen Punkten überhaupt nicht zusammenpassen. Das gilt für den Zeitpunkt, die Umstände, die Arbeitsbedingungen, die Spielphilosophie und auch seine Aussagen in jüngster Zeit.
gettyRangnick hatte sich von vom Trainerjob verabschiedet
Noch im Sommer hatte er der SüddeutschenZeitung erklärt, er wolle nach der Gründung seiner eigenen Beraterfirma eigentlich nicht mehr als Trainer oder Sportdirektor arbeiten: "Ich habe gerade das Gefühl: Mit dem Gesamtpaket an Rundumbetreuung, das wir künftig anbieten, kann ich dem Fußball etwas zurückgeben. Mich von dieser Aufgabe wieder wegzuholen - das müsste dann schon ein ganz besonderes Angebot sein."
Dies kann man vermutlich bei United gelten lassen. Immerhin handelt es sich beim Traditionsverein um den erfolgreichsten und beliebtesten (und auch meist gehassten) Verein in England und global gehören die Red Devis ebenfalls zu den umsatzstärksten Klubs mit Millionen von Anhängern in der ganzen Welt.
Schon nach dem Aus von Jose Mourinho im Herbst 2019 hatte Rangnick mit Uniteds technischem Direktor John Murtough verhandelt, der sogar eigens nach Leipzig gereist war. Am Ende entschied sich der Klub aber für Ole Gunnar Solskjaer, der am Sonntag aufgrund der sportlichen Talfahrt entlassen worden war.
ManUnited: Pochettino erst frühestens im Sommer frei
Weil Wunschkandidat Mauricio Pochettino zwar interessiert ist, aber frühestens nach der Saison eine Freigabe von Paris St. Germain erhalten würde, erstellten die United-Bosse eine Shortlist für eine Interimslösung.
Auf dieser Liste standen unter anderem Barcas Ex-Trainer Ernesto Valverde und eben Rangnick. Doch nach Informationen von SPOX und GOAL sagte der 62-Jährige zunächst ab, weil er nicht nur als Übergangslösung zur Verfügung stehen wollte.
Mit der selben Begründung hatte Rangnick schon im Januar dem FC Chelsea nach mehreren konkreten Gesprächen abgesagt, ehe Alternativkandidat Tuchel für den gefeuerten Frank Lampard übernahm und die Blues zum Champions-League-Triumph führte.
Chelsea-Absage? Rangnick: "Ich bin kein Interimstrainer"
"Ich habe gesagt: 'Ich würde gerne mit Ihnen arbeiten, aber ich kann es nicht vier Monate lang tun. Ich bin kein Interimstrainer", berichtete er wenig später der Times. "Für die Medien und die Spieler wäre ich vom ersten Tag an der 'Vier-Monats-Manager' gewesen, eine lahme Ente."
Bei United hingegen war diese Angst offenbar nicht mehr ganz so entscheidend, nachdem ihm die Verantwortlichen in den weiteren Unterredungen in dieser Woche eine einflussreiche Rolle als Berater bis 2024 zugesagt hatten. Somit wird es doch noch etwas mit dem ersehnten Job in England, nachdem in der Vergangenheit unter anderem Gespräche mit der Nationalmannschaft, dem FC Arsenal und dem FC Everton im Sande verlaufen waren.
Ralf Rangnick: Größte Verlierer sitzen bei Lok Moskau
Die größten Verlierer des Deals sitzen derweil im kalten Russland. Lokomotive Moskau muss einen neuen Leiter Sport und Entwicklung suchen und die von Rangnick in die Hauptstadt geholten Landsleute, Trainer Markus Gisdol und dessen Assistenten Marvin Compper, Lutz Siebrecht und Martin Hämmerle, stehen vor einer ungewissen Zukunft. "Rangnick ist ein Söldner. Lok ist ihm völlig egal", schimpfte Ex-Präsident Nikolai Naumov im russischen Fernsehen.
Doch neben diesen vermeintlichen oder angeblichen Wortbrüchen treibt Menschen, die Rangnicks Karriere aus nächster Nähe mitverfolgt haben, eine ganz andere Frage um: Wie soll die Philosophie des "Fußball-Professors", der Deutschland vor über zwei Jahrzehnten im Sportstudio an der Taktik-Tafel die Viererkette erklärte, mit Uniteds Star-Ensemble zusammenpassen?
"Ralf hat eine kommunistische Art, Fußball zu spielen"
"Ralf hat eine kommunistische Art, Fußball zu spielen: Alle sind gleich", sagt ein Kenner. "Aber Stars gehören im Fußball dazu. Sonst wirst du eben Dritter oder Vierter und nie Meister."
Tatsächlich hat sich der Taktikfuchs immer wieder mit seinen Topspielern schwer getan, angefangen mit dem Dauerkonflikt mit Krassimir Balakov beim VfB Stuttgart, der letztlich entscheidenden Anteil an seiner damaligen Demission hatte.
Bei seiner ersten Station auf Schalke rieb sich Rangnick dagegen vor allem am Alleinherrscher Rudi Assauer, der ihn bei der Vorstellung "Rolf Rangnick" genannt hatte und ihn später nach einer umjubelten Ehrenrunde im eigenen Stadion rauswarf.
Ralf Rangnick: Am erfolgreichsten in der Ruhe
Am erfolgreichsten arbeitete Rangnick in Hoffenheim und Leipzig. Dort hatte er lange Zeit das sportliche Sagen, konnte seine Mannschaften dank der potenten Geldgeber Dietmar Hopp und Dietrich Mateschitz nach eigenem Gusto zusammenstellen und seine Pressing-Philosophie mit jungen Toptalenten in aller Ruhe umsetzen.
Ein kompletter Unterschied zum Starensemble von United, bei dem unter anderem millionenschwere Hochkaräter wie Bruno Fernandes, Jadon Sancho (Marktwert bei beiden laut transfermarkt jeweils 90 Millionen Euro), Marcus Rashford (85 Millionen), Raphael Varane (70 Millionen), Paul Pogba (60 Millionen), Harry Maguire, Mason Greenwood (beide je 50 Millionen) oder Luke Shaw (40 Millionen) im Kader stehen.
Rangnick über Cristiano Ronaldo und Messi: "Beide zu alt"
Nicht zu vergessen Cristiano Ronaldo, der die nun wiedergefundenen alten Aussagen seines künftigen Bosses wohl weniger amüsiert als manch anderer zur Kenntnis genommen haben wird. Im Dezember 2016 erklärte der damaliger Leipziger Sportchef auf die Frage der Nachrichtenagentur AFP, ob er eher Ronaldo (damals 31) oder Lionel Messi (seinerzeit 29) verpflichten würde, beide seien "zu alt". Es sei schließlich "absurd zu denken, dass es mit ihnen hier funktionieren würde".
Allerdings hat United seit dem Ende der Ära von Alex Ferguson 2013 keine Meisterschaft mehr gewonnen und trotz riesieger Ausgaben für neue Spieler nur äußerst selten mit einer echten Spielphilosophie und attraktivem Fußball überzeugen können. Da könnte Rangnick also gerade recht kommen - falls die kurze Zeit bis Saisonende für eine Neuausrichtung reicht und die Stars bei dem relativ unbekannten Brillenträger aus Germany mitziehen.
gettyJürgen Klopp über Ralf Rangnick: "Ein guter Coach"
Einer, der ihn bestens kennt, glaubt jedenfalls daran. "Leider kommt ein guter Coach nach England", sagte Liverpools Trainer Jürgen Klopp: "Wir müssen darauf gefasst sein, dass United auf dem Feld sehr gut organisiert sein wird. Das sind offensichtlich keine guten Nachrichten für andere Teams."
Ein schwäbischer Insider bewertet das allerdings im vertraulichen Gespräch weit skeptischer: "Ralf kann nicht mit Stars umgehen und so einen großen Verein hat er noch nie trainiert. Und die englische Medienlandschaft ist eine ganz andere als in Deutschland, vor allem bei einem Klub wie Manchester United. Die warten nur auf Fehler von ihm. Also eigentlich passt es überhaupt nicht zusammen."
In jedem Fall aber wird es ein spannendes Experiment werden.