Es läuft die 90. Minute, als im legendären Old Trafford plötzlich kein Halten mehr ist. Nur drei Tage nach dem ersten Titelgewinn seit 2017 (Carabao Cup, 2:0-Sieg über Newcastle United) liegen sich die Fans von Manchester United erneut ausgelassen in den Armen. Nach einem 0:1-Rückstand in der fünften Runde des FA Cups war es allerdings keiner der derzeitigen Überflieger wie Marcus Rashford, der mit einem wunderschönen Schlenzer aus halblinker Position ins lange Eck zum 2:1 für Ekstase sorgte, sondern der für die NXGN Nine nominierte Alejandro Garnacho.
Das Supertalent, das anders als ein Großteil seiner Teamkollegen auch noch Teile der Nachwuchsakademie von United durchlief, staubte hinterher - nicht nur wegen seines Treffers - die Auszeichnung als "Man of the Match" ab. Garnacho, der 2020 für eine halbe Million Euro von Atlético Madrid nach Manchester wechselte, ist eines von Trainer Erik ten Hags persönlichen Herzensprojekten. Der Niederländer hatte den Linksaußen, der auch rechts spielen kann, in dieser Saison dauerhaft in den Profikader berufen und trotz der hohen Konkurrenz seither regelmäßig spielen lassen.
"Ich sehe heute einen weiteren Schritt. Ich habe vor dem Spiel zu ihm gesagt: 'Es ist Zeit. Du hast einen Einfluss, wenn du ins Spiel kommst, aber jetzt musst du einen Einfluss als Stammspieler haben'. Und ich glaube, dass er dazu in der Lage ist, also ist das der nächste Schritt, den er machen muss", erklärte ten Hag sein Vorhaben mit dem Rechtsfuß.
Für den 18-Jährigen war es der vierte Profi-Treffer in wettbewerbsübergreifend 29 Pflichtspielen, bei denen er bis auf ein paar wenige Ausnahmen wie gegen West Ham meist von der Bank kam. Dazu kommen fünf Assists. Zum Vergleich: 95-Millionen-Euro-Neuzugang und ten-Hag-Wunschspieler Antony hat mit einem Einsatz mehr und deutlich mehr Spielzeit einen Scorerpunkt (sieben Tore, eine Vorlage) weniger auf dem Konto.
Insbesondere die Art und Weise, wie Garnacho sich auf dem Platz gegen seine häufig deutlich erfahreneren Gegenspieler verhält, hat es ten Hag angetan. "Es ist eine großartige Fähigkeit, wenn man furchtlos ist, wenn man mutig ist. Es gibt nicht so viele Spieler im Weltfußball, die es mit Spielern aufnehmen können, die sie einfach ausdribbeln können, und diese Fähigkeit hat er. Aber er hat mehr Fähigkeiten als nur das, zum Beispiel den Abschluss", sagte der United-Coach.
Zudem schwärmte der 53-Jährige vom "Motor" des gebürtigen Madrilenen: "Er ist schnell, er hat Tempo, er kann 90 Minuten lang laufen, 120 Minuten lang, es ist egal, wie lange, er kann es."
Alejandro Garnacho: Auch der FC Bayern zeigt wohl Interesse
Garnachos Marktwert hat sich laut mehreren darauf spezialisierten Datenbanken hinsichtlich seiner damaligen Ablöse schon verzehnfacht (fünf Millionen Euro). Abgesehen von der im Vergleich zu seinem enormen Potenzial eher weniger wichtigen Milchmädchenrechnung arbeiten die Red Devils bereits an einer Vertragsverlängerung. Der 2024 laufende Kontrakt soll dem Vernehmen nach zu deutlichen besseren Bezügen bis 2028 ausgedehnt werden. Mit einem Jahresgehalt von 400.000 Euro gehört er zu den Geringverdienern in seinem Verein. Außerdem will ManUnited mit allen Mitteln vermeiden, das womöglich künftige Aushängeschild an die Konkurrenz aus Europa zu verlieren.
Denn Berichten aus England zufolge sollen schon mehrere Topklubs ein Auge auf Garnacho geworfen haben. Neben Real Madrid und PSG, das seine Offensive auch aufgrund der unklaren Zukunft von Neymar, Lionel Messi und Kylian Mbappé verjüngen beziehungsweise verstärken will, soll auch der FC Bayern Interesse zeigen. In München könnte der Angreifer beispielsweise einen der beiden zuletzt so enttäuschenden Serge Gnabry oder Leroy Sané auf lange Sicht beerben. Allerdings ist es eher unwahrscheinlich, dass der deutsche Rekordmeister einen Transferangriff noch vor Auslaufen seines Vertrags plant. Wahrscheinlicher wäre wohl eine Charmeoffensive von Sportvorstand Hasan Salihamidzic, um Garnacho von einem ablösefreien Wechsel im Sommer 2024 zu überzeugen, sollte er sich nicht mit Manchester auf eine weitere Zusammenarbeit einigen.
Garnacho ist dennoch gut beraten, sich von den vielen Lobeshymnen, die er derzeit erfährt, nicht den Kopf verdrehen zu lassen. Das beste Beispiel dafür lieferte für lange Zeit Cristiano Ronaldo, der sowohl in jungen Jahren in Manchester oder später als Titelsammler bei Real Madrid stets nach Verbesserung strebte und sich damit Woche für Woche zu Höchstleistungen trieb. Schon in der Hinrunde dieser Spielzeit, als Ronaldo vor seinem Skandal-Interview im Nordwesten Englands weilte und teilweise kaum eine Rolle unter ten Hag spielte, wurden Vergleiche zwischen Garnacho und dem Portugiesen gezogen.
Vereinslegende Gary Neville erinnerte sich nach Garnachos Last-minute-Siegtreffer gegen den FC Fulham im November (2:1) an einen Treffer von Ronaldo aus dem Jahr 2007, als er in ähnlicher Marnier von links in den Strafraum zog und den Ball sehenswert versenkte. Dass sich Garnacho den mehrfachen Weltfußballer jedoch nicht bei allem als Vorbild nimmt, zeigte sein anschließender Jubel: Er zog sich sein Trikot aus und hob es demonstrativ in Richtung der United-Fans. Womöglich eine Anspielung auf den wohl ikonischsten Jubel von CR7-Rivale Lionel Messi nach dessen Siegtreffer beim 3:2 für den FC Barcelona gegen Real Madrid anno 2017. Kurios: Wenige Tage zuvor hatte er bei seinem Premierentreffer als United-Profi beim 1:0-Sieg gegen Real Sociedad in der Europa League noch Ronaldo imitiert.
Alejandro Garnacho: Einstellungsprobleme und arrogant?
Seine Neigung zu Provokationen hat Garnacho auch Monate später noch nicht ablegen können. Nach dem Einzug in das Achtelfinale der Europa League postete er über seine sozialen Kanäle ein Bild, das ihn mit dem typischen Jubel von Pedri zeigt. Das Barça-Juwel hatte beim 1:2 seines Teams wegen einer Verletzung gefehlt, Garnacho trug nach seiner Einwechslung in der 82. Minute nur geringfügig zum Weiterkommen bei. In den Kommentaren war hinterher wenig überraschend von Arroganz und einer schlechten Einstellung die Rede. Der ehemalige argentinische Nationalspieler Carlos Morete warf ihm zudem vor, "unhöflich und nicht bescheiden" zu sein: "Ich hoffe, dass er die Klappe hält und keinen Unsinn mehr von sich gibt. Er muss noch viel lernen."
Letzteres hatte ihn in der jüngeren Vergangenheit schon massiv ausgebremst. "Offensichtlich ist er noch sehr jung, er macht sich wirklich gut. Zu Beginn der Saison war er nicht in Bestform. Auf der Tour (Sommer-Vorbereitung; Anm. d. Red.) hatte er nicht die beste Einstellung, die er hätte haben sollen, und deshalb hat er seine Chancen bis jetzt nicht bekommen", verriet Bruno Fernandes kurz nach Garnachos Durchbruch Anfang November. Ein Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung des Youngsters nach dessen enttäuschenden Saisonstarts, der zwischen dem 2. und 14. Spieltag keine einzige Minute spielen durfte und es teilweise nicht einmal in das Aufgebot schaffte.
"Er hat früher keine Chancen bekommen, weil er im Training nicht gut genug war und auch von der Mentalität her nicht gut genug", fuhr Fernandes fort. Garnacho habe in dieser Zeit aber begriffen, dass Talent allein nicht reicht. "Er hat sich geändert", versicherte der 28-Jährige. Das sah auch ten Hag so, weshalb Garnacho regelmäßig zum Einsatz kam.
Dank Garnachos neuer Denkweise auf und abseits des Platzes war - abgesehen von seinen umstrittenen Jubel-Imitationen - in den vergangenen Wochen in Verbindung mit seinem Namen schon mehrfach von Ronaldos Erben die Rede. Mitspieler Fred prophezeit ihm sogar ein ähnliches Leistungsvermögen: "Er wird mit Sicherheit einer der besten Spieler der Welt sein." Zudem belohnte ihn Weltmeister-Trainer Lionel Scaloni mit der Berufung für die argentinische Nationalmannschaft. Auch wenn eine noch nicht nähere bekannte Verletzung - zuletzt lief Garnacho auf Krücken - eine Mitreise verhindert, scheint er endgültig im Weltfußball angekommen zu sein. Es ist eben alles eine Frage der Einstellung.
Manchester United: Die Angreifer im Vergleich in 2022/23
- Alle Zahlen stammen von transfermarkt.de
Spieler | Pflichtspiele | Tore | Assists | Spielminuten |
Alejandro Garnacho | 29 | 4 | 5 | 1.061 |
Antony | 30 | 7 | 1 | 2.117 |
Anthony Martial | 14 | 6 | 2 | 722 |
Anthony Elanga | 24 | 0 | 2 | 672 |
Jadon Sancho | 25 | 5 | 1 | 1.444 |
Marcus Rashford | 44 | 27 | 9 | 3.291 |
Wout Weghorst | 18 | 2 | 2 | 1.345 |