Vor etwas mehr als 32 Jahren waren zwei Argentinier die größte Sensation des englischen Fußballs. Tottenham Hotspur hatte nach dem WM-Turnier 1978 die Weltmeister Osvaldo "Ossie" Ardiles und Ricardo "Ricki" Villa verpflichtet, zu einer Zeit, als auf der Insel keine echten Ausländer und schon gar keine Südamerikaner spielten.
Das Duo verwandelte die Spurs in einen Spitzenverein und verzückte das Publikum, doch nicht alle waren begeistert - sie waren einfach zu gut.
"Diesen beiden zuzusehen, könnte die Leute auf den Geschmack bringen und für den Fußball in unserem Land schädlich sein", warnte Clifford Lloyd, der Vorsitzende der Spielergewerkschaft. Spaß und Technik in englischen Stadien? No thanks, we're English.
Gespaltenes Verhältnis zu Latinos
Ardiles durfte später als Trainer aufregenden Kamikaze-Fußball an der White Hart Lane praktizieren - passenderweise hätte ihn Jürgen Klinsmann beim FC Bayern beinahe als Co-Trainer verpflichtet - doch Lloyds Naserümpfen verdeutlicht das bis heute gespaltene Verhältnis der Briten zu den Lateinamerikanern. Im Jubel um die - vergleichsweise - wenigen erfolgreichen Exporte schwang und schwingt immer ein bisschen Unbehagen mit.
Traditionell haben es die Südamerikaner aus vielen Gründen in England etwas schwerer. Ein banaler, aber nicht zu unterschätzender Faktor sind die restriktiven rechtlichen Arbeitsauflagen. Großbritannien lässt Nicht-EU-Profis nur als gestandene Nationalspieler ins Land, es sei denn, sie können einen europäischen Pass vorweisen.
Diese bürokratische Hürde behindert die Spieler aus den südlichen Gefilden noch heute. Vor allem die Brasilianer sind betroffen: die vielen guten, aber nicht regelmäßig in der Nationalelf spielenden Samba-Kicker bekommen in der Premier League keine Arbeitserlaubnis.
Davon war in den vergangenen Jahren zum Beispiel Dortmunds Dede betroffen. Chelsea traf sich mit dem Borussia-Verteidiger in Deutschland, doch er hatte leider keine portugiesische Oma - und deswegen keinen EU-Pass.
Mirandinha erster Brasilianer
Andere äußere Umstände erschwer(t)en zusätzlich die Integration, wie die Leidensgeschichte von Mirandinha demonstriert. Der brasilianische Stürmer von Palmeiras kam 1987 als erster Brasilianer in die erste englische Liga und führte sich anfangs bei Newcastle United mit Toren gegen Liverpool und Manchester United prächtig ein.
"Die Fans hatten einen Song für mich", erzählte er kürzlich dem "FourFourTwo"-Magazin stolz: "We've got Mirandinha, he's not from Argentina, he's from Brazil, he's f*cking brill'!"
Doch mit dem Herbst kam das schlechte Wetter, und damit schlechtere Platzbedingungen. Mirandinha ging im Schlamm unter; das ruppige, im Vergleich mit seiner Heimat viel schnellere Spiel tat sein Übriges. Ein Jahr später kehrte er entmutigt wieder zurück. Sein Scheitern hinterließ einen langen Schatten.
Ronaldinho: Barca statt United
Den Boom der Neunziger Jahre erlebte die Liga weitestgehend ohne Brasilianer, dafür kamen massenhaft Deutsche, Skandinavier und später Franzosen. Es dauerte tatsächlich 20 Jahre, bis sich mit Robinho der nächste Selecao-Stürmerstar auf die Insel traute.
Gegenseitiges Misstrauen hatte zuvor viele Engagements verhindert. Ronaldinho ging 2003 beispielsweise trotz eines durchaus lukrativen Angebots von Manchester United lieber nach Barcelona. "Es gibt Spieler, die den Druck, der bei einem großen Verein wie uns existiert, einfach nicht wollen", sagte Alex Ferguson damals sehr beleidigt.
Die Geschichte wiederholte sich, als 2009 Kaka Manchester City nach langen Verhandlungen einen Korb gab und ein Jahr darauf lieber zu Real Madrid ging.
Robinho und Co. gescheitert
Robinhos 18 Monate in den Eastlands verliefen ebenfalls typisch. Einem starken Auftakt folgte ein Leistungsknick im Winter. Robinho hatte Heimweh, Probleme mit dem Essen und eine, nun ja, unseriöse Freizeitgestaltung.
Im Gegensatz zu in Spanien, Italien oder Deutschland beschäftigten Profis können sich "englische" Brasilianer auf Grund der reißerischen Presse private Verfehlungen (Stichwort: Sex-Partys) nicht leisten.
Abgesehen davon litten die Techniker vom Zuckerhut vor allem unter der Spiel(un)kultur auf der Insel. Eduardo, Arsenals (kroatischer) Brasilianer, kam nach einem fürchterlichen Beinbruch nie mehr auf selbige und verabschiedete sich in die Ukraine.
Elano Blumer, einer der besten brasilianischen Mittelfeldspieler der letzten Jahre, scheiterte zusammen mit Robinho an der taktischen Unflexibilität von Trainer Mark Hughes und dem frenetischen Tempo. Auch ihm wurde nach seinem Abschied nach zwei mäßigen Jahren im Sommer 2009 unprofessionelles Verhalten vorgeworfen.
"Pass, goal, lager nightclub"
Es ist kein Zufall, dass die wenigen wirklich erfolgreichen Brasilianer in der Premier League, Arsenals Gilberto Silva, die "Unsichtbare Mauer", oder Edu (ebenfalls Arsenal) ultra-disziplinierte, defensive Mittelfeldspieler waren. Alex spielt in Chelseas Innenverteidigung gut. Heurelho Gomes schwankt im Tor von Tottenham zwischen Weltklasse und englischer Publiga.
Außenverteidiger Sylvinho hatte bei den Gunners ebenfalls keine schlechte Zeit, doch etablierte Nationalspieler wie der ehemalige Leverkusener Roque Junior (Leeds), Kleberson (ManUnited), Mario Jardel (Bolton) oder Julio "Das Biest" Baptista (Arsenal) kamen in England überhaupt nicht zurecht.
Branco, Weltmeister von 1994, fasste beim FC Middlesbrough 1997 seine Probleme mit den englischen Verhältnissen vor versammelter Mannschaft so zusammen: "Pass, pass, pass, goal. Lager, lager, nightclub".
Eine Ausnahme bildete Brancos Vereinskamerad Juninho Paulista, der zwischen 1995 und 2004 fünf gute Jahre im Riverside-Stadion verbrachte und heute als einer von Boros besten Spielern überhaupt verehrt wird. Juninho ist streng genommen auch der einzige Kreativspieler aus Brasilien, der nicht mit Schimpf und Schande davon gejagt wurde.
Mehr Flops als Treffer
Nicht viel besser als ihren Nachbarn erging es den meisten Südamerikanern in der Premier League. Die Liste der extrem teuren Flops (Diego Forlan, Juan Sebastian Veron, Hernan Crespo, Juan Pablo Angel) ist sehr viel länger als die der Treffer.
Newcastle Uniteds Faustino Asprilla, der es nicht ganz in letztere Kategorie schafft, wird typischerweise nicht mit seinen Toren, sondern hauptsächlich mit der verpassten Meisterschaft von 1996 in Verbindung gebracht. Seine Verpflichtung im Februar jenes Jahres brachte die bis dahin perfekt funktionierende Mannschaft durcheinander, Eskapaden abseits des Platzes halfen auch kaum weiter.
Tevez und Mascherano drehen auf
Mit Giovani Dos Santos (Spurs) scheiterte zuletzt ein weiterer prominenter Südamerikaner in England, Landsmann Carlos Vela droht ein ähnliches Schicksal im Emirates-Stadion.
Doch seit zwei Jahren scheint generell ein Umdenken stattgefunden zu haben, der Trend geht verstärkt zum Latino.
"Schuld" sind wahrscheinlich wieder zwei Argentinier: Carlos Tevez und Javier Mascherano. Das Duo kam vor vier Jahren unter mysteriösen Umständen zu West Ham United und mischte (nicht nur sportlich) gehörig die Liga auf.
Der zwischenzeitlich zum FC Barcelona gewechselte "Mash" wurde beim FC Liverpool zu einem international verehrten Weltklasse-Sechser, "Apache" Tevez verzückte als unermüdlicher Kämpfer an der Seite von Wayne Rooney erst die Fans von Manchester United und erfreut heute als Dauerläufer die Anhänger von City. Das Duo war alles andere als billig, weckte jedoch in der Premier League wieder den Mut zum südamerikanischen Risiko.
Kreditkrise als Mitgrund
Die Exoten Hugo Rodellega (Kolumbien) und Antonio Valencia (Ekuador, heute Manchester United) schafften bei Wigan Athletic den Durchbruch, allein in diesem Sommer kamen Gonzalo Jara (Chile, West Brom), Carlos Salcido (Mexico, Fulham), Jean Beausejour (Chile, Birmingham City), Cristian Riveros, Paula da Silva (beide Paraguay und Sunderland), Antolin Alcaraz (Paraguay, Wigan), Javier Hernandez (ManUtd), Pablo Barrera (beide Mexico, West Ham), Mauro Boselli (Argentinien, Wigan), Marcos Angeleri (Argentinien) und mit Chelseas Ramires endlich auch wieder ein Brasilianer.
Die Kreditkrise hat vielen Klubs nichts anderes übrig gelassen, als den relativ preiswerten südamerikanischen Markt verstärkt zu beobachten, denn die Preise für englische oder in der Premier League etablierte Spieler sind nach wie vor lächerlich hoch.
Ende der Vorbehalte?
Anstatt wie Stoke-Trainer Tony Pulis knapp zehn Millionen Euro für T&T-Stürmer Kenwyne Jones zu zahlen, greifen die Kollegen nun lieber in Südamerika zu. Zudem hat das gute Abschneiden der Lateinamerikaner bei der WM die Vermittlung leichter gemacht. EU-Pässe werden von den Spielerberatern heute darüber hinaus stets mitgeliefert. Die Manchester-United-Zwillinge Fabio und Rafael Da Silva kamen so als Portugiesen in den Nordwesten.
Man darf gespannt sein, ob diese Entwicklung auf Dauer weiter geht und letztlich eine der letzten großen Eigenheiten - die relative Untergewichtung der Latinos - des englischen Fußballs ganz beseitigt.
Falls es demnächst die an der Themse stark gehandelten Samba-Stürmer Pato (AC Milan) und Neymar (Santos) wirklich an die Stamford Bridge zieht, wird es wohl auch mit den vielen Vorurteilen und Vorbehalten ein Ende nehmen. Der Premier League kann das nur gut tun.
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Raphael Honigstein lebt und arbeitet seit 16 Jahren in London. Für die "Süddeutsche Zeitung" berichtet er über den englischen Fußball und ist Kolumnist für die britische Tageszeitung "The Guardian". Beim früheren Premier-League-Rechteinhaber "Setanta Sports" fungierte Honigstein als Experte für den deutschen Fußball. In Deutschland wurde der 36-Jährige auch bekannt durch sein Buch "Harder, Better, Faster, Stronger - Die geheime Geschichte des englischen Fußballs". Zudem ist er als Blogger bei footbo.com tätig und auch unter twitter.com/honigstein zu finden.