Lazio Rom: Der Adler fliegt wieder

Von Christian Bernhard
Weißkopfseeadler Olimpia ist das Symbol für Lazios Aufschwung
© Imago

Letzte Saison beinahe abgestiegen, jetzt souveräner Tabellenführer - und das mit einer beinahe unveränderten Mannschaft. Lazio Rom rockt die Serie A und führt souverän vor den Topteams Inter, Milan und Juventus die Tabelle an. Die Gründe für eine denkwürdige Metamorphose.

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Inter? Nein. Milan? Fehlanzeige. Juve? Schon gar nicht. Der souveräne Tabellenführer der Serie A heißt Lazio Rom. Und zwar völlig verdient. Die Biancocelesti erleben diese Woche, die am Sonntag im Derby gegen die Roma gipfelt, diesmal unter verkehrten Vorzeichen. War es in den letzten Jahren die Roma, die ganz oben mitspielte und sich vor dem Stolperstein Derby hüten musste, so schwebt nun Lazio auf Wolke sieben Richtung Stadtduell.

Stolze zehn Punkte Vorsprung haben die Biancocelesti auf die Giallorossi - und das nach neun Spieltagen. Die Begeisterung bei den Laziali ist riesig: Über 5000 Fans belagerten in dieser Woche täglich das Trainingszentrum in Formello und schworen ihr Team auf das Spiel des Jahres ein. Und wenn man schon beim Träumen ist: Zum erst vierten Mal in der Vereinsgeschichte geht Lazio als Tabellenführer in ein Derby - zweimal folgte darauf der Scudetto, zuletzt in der Saison 1999/2000.

Wie ist Lazios Höhenflug zu erklären? Welche Faktoren haben zum sensationellen Saisonstart geführt? In erster Linie die Entwicklungen in drei entscheidenden Bereichen.

Der Trainer

Wie schnell sich die Zeiten doch ändern: Als Edoardo, genannt Edi, Reja im Februar den Verein übernahm, war Lazio Drittletzter und steckte mitten im Abstiegskampf. Seitdem der 65-Jährige das Kommando hat, holten die Römer saisonübergreifend 49 Punkte in 25 Spielen und grüßen jetzt von der Tabellenspitze: Das sind 1,96 Punkte im Schnitt - fast schon Scudettoreif.

Seit dem "Calciopoli"-Skandal hatte noch kein Team so viele Punkte und einen so großen Vorsprung auf die Verfolger nach dem 9. Spieltag. "Wir sind die Beherrscher der Serie-A-Beherrscher", sagt Stephan Lichtsteiner alles andere als zurückhaltend.

Reja wäre dann der König - oder "mein Ferguson", wie Präsident Claudio Lotito seinen Coach zuletzt betitelte.

Der Ex-Napoli-Coach ist der besonnene Anführer dieser Mannschaft. Mit seiner Erfahrung von 40 Jahren im Profifußball leitet er das Team und brachte es auf den richtigen Weg - auch mit unpopulären Methoden. So suspendierte er Mauro Zarate in der Vorbereitung für einige Tage, weil er im Training gemotzt hatte. Kurzzeitig stand sogar eine Trennung im Raum, aber Reja führte ihn wieder ins Team zurück  - und jetzt fällt der Argentinier nicht mehr nur mit egoistischen Dribblings auf, sondern ackert auch fleißig nach hinten. "Ich stelle mich gerne in den Dienst der Mannschaft", sagt der "neue" Zarate - und Reja nimmt den 23-Jährigen als Mahnmal: "Er hat die Lektion verstanden und dient allen anderen damit als Beispiel."

Reja hat vor allen Dingen am Teamgeist und dem Zusammengehörigkeitsgefühl gearbeitet - und erntet jetzt die Früchte. "Wir haben einen ganz starken Charakter und sind enorm gereift. Meine Jungs sind giftig, keiner kämpft so sehr wie sie von Spielanfang bis Ende. In dieser Mannschaft gibt es kein 'Ich' mehr, sondern nur noch 'Wir'. Das ist der Grund für unsere Verwandlung, es ist das große und einzige Geheimnis", erklärt Reja die Metamorphose seiner Mannschaft.

Euphorisch wird der enge Freund von Fabio Capello trotz der Tabellenführung nicht. Dazu ist er nicht der Typ. "Noch fehlen uns 18 Punkte zum Klassenerhalt. Am Ende der Hinrunde werden wir sehen, zu was wir in dieser Saison in der Lage sind." So lang kann Reja weiter an seinem Lieblingscredo arbeiten - der Intensität. "Der heutige Fußball ist maßgeblich von der Intensität geprägt. Ich habe noch nie ein Team von Jose Mourinho gesehen, das ohne Intensität gespielt hat. Wir verleiben uns diese Philosophie momentan ein."

Die Mannschaft

Nicht nur Milan-Vizepräsident Adriano Galliani ist erstaunt über Lazios Höhenflug: "Sie werden ganz oben mitkämpfen, obwohl es schleierhaft ist, denn sie sind die selbe Mannschaft, die letzte Saison beinahe abgestiegen wäre. Mit einem Kolarov weniger und einem Hernanes mehr."

In der Tat hat Lazio so gut wie nichts am Kader verändert. Aleksandar Kolarov wurde im Sommer für 18 Millionen Euro zu ManCity transferiert und Hernanes für rund 13 Millionen Euro von Sao Paolo losgeeist. Der Transfer des Brasilianers entpuppte sich schon bald als Glücksgriff. "Er ist der Spieler, der uns gefehlt hat. Er verbindet die Mannschaftsteile untereinander und ist grundlegend für unser Spiel", sagt Reja.

Der 25-jährige Spielmacher ist aber nicht der einzige Grund für Lazios Höhenflug. Vielmehr ist es der Fakt, dass sie nur sehr schwer auszurechnen sind, der den Gegnern den Zahn zieht. Am letzten Spieltag erzielte Verteidiger Andre Dias in Palermo das entscheidende 1:0, der Brasilianer war damit bereits der achte unterschiedliche Torschütze. Hinten hält Fernando Muslera den Kasten sauber. Uruguays WM-Keeper hat erst sechs Gegentore kassiert, auswärts ist er bereits seit 341 Minuten unbezwungen. Nach der Auftaktpleite in Genua gab es zuletzt vier Siege in Serie fernab Roms.

Im Mittelfeld blühen Stefano Mauri und der "verlorene Sohn", Cristian Ledesma, auf. Mauri feierte unter Cesare Prandelli sein Comeback in der Nationalmannschaft, Ledesma ist "mein Trainer auf dem Feld" (O-Ton Reja) und mittlerweile auch ein Kandidat für Prandelli. Alle Offensivspieler arbeiten fleißig mit nach hinten, und Sergio Floccari ist der Vollstrecker in der Strafraummitte.

Kurz: Lazio hat momentan das bestfunktionierenste Paket der Liga. Aus einer bis vor wenigen Monaten noch zerstrittenen und auf eigene Eitelkeiten fixierten Truppe ist eine richtige Mannschaft geworden.

Der Verein

Die letzte Saison war der Höhepunkt einer langen Negativentwicklung. Die Fans und der Verein hatten sich immer mehr auseinandergelebt, Präsident Lotito verstrickte sich in unnötige Polemiken mit Gott, der Welt und eben auch den eigenen Fans. Das Resultat: Im Sommer wurden so wenige Dauerkarten verkauft, wie selten zuvor.

Doch Lotito lenkte ein. Nachdem er im Frühjahr auf Wunsch von Reja Mittelfeld-Metronom Ledesma nach langen Streitereien, die zur Suspendierung und der Androhung gerichtlicher Schritte geführt hatten, wieder in den Kader aufgenommen hatte, ging er im Sommer auf die Fans zu: "Ich möchte die Tifosi zurückgewinnen, der Verein steht zu eurer vollen Verfügung" - und erhielt prompt die "Unterstützung" der Mannschaft, die diesen Prozess mit ihrem tollen Saisonstart beschleunigte.

"Die wiedererlangte Gemütsruhe zwischen Spielern und Verein ist einer der entscheidenden Faktoren für den momentanen Lauf", bestätigt der Ex-Lazio-Sportdirektor Walter Sabatini. Vergessen sind die schlimmen Monate, in denen auch Goran Pandev den Verein verklagte, und zu Inter gewechselt war.

Lotitos Wiedergutmachungstour läuft perfekt, der Präsident trifft wieder die richtigen Entscheidungen. So flirtete Mauri zu Beginn der Saison mit Sampdoria Genua, doch Lotito wiegelte kategorisch ab. Heute ist Mauri einer der stärksten Mittelfeldspieler der Serie A. Außerdem zeigt Lotitos langjähriger Kampf gegen den politisch militanten Teil von Lazios Ultrasbewegung Wirkung.

Symbol dieses Aufschwungs im und um den Verein ist Olimpia. Der Weißkopfseeadler dreht seit September vor allen Heimspielen seine Runden im Olimpico und ist bereits jetzt zu einem Publikumsmagnet geworden. "Diese Initiative erfreut mich am meisten. Sie hat das Zugehörigkeitsgefühl zum Verein wiederbelebt", schwärmt Lotito über das zwölf Kilogramm schwere Tier mit seiner beeindruckenden Flügelspannweite von 2,5 Metern.

Gegen die Roma wird Olimpia aus Sicherheitsgründen nicht in die Luft steigen. Der Adler wird aber in der Kurve sein - und dort womöglich das nächste Kapitel der Lazio-Erfolgsstory hautnah miterleben.

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