SPOX: Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund die Entwicklung in Italien?
Guidolin: Sie ging in die entgegengesetzte Richtung. Wir schaffen es nicht, Entscheidungen zu treffen, die uns voranbringen. Ein Beispiel: Italiens Infrastrukturen sind dekadent, die Stadien alt. Nur Juventus hat ab Sommer sein eigenes Stadion. Vor einigen Jahren kamen die besten Spieler Europas nach Italien, jetzt ist es nicht mehr so. Es kommen große Spieler, die aber schon bei Topklubs wie Real, Barca und Co. waren. Wir haben an Charisma eingebüßt und müssen jetzt unbedingt schauen, wieder Boden gut zumachen.
SPOX: Auf der anderen Seite gibt es Top-Youngster wie Alexis Sanchez, Javier Pastore oder Edinson Cavani.
Guidolin: Ja, weil einige Vereine genau daran arbeiten - allen voran wir in Udine. Wir machen uns im Ausland frühzeitig auf die Jagd nach Talenten, bevor diese Spieler von den Topklubs entdeckt werden. Sobald Chelsea, Real, Arsenal und Co. auf einen Spieler aufmerksam werden, hat man finanziell keine Chance mehr. Wir machen das schon seit 15 Jahren und versuchen, vor den großen Klubs an sie heranzukommen und sie dann bei uns reifen zu lassen. Palermo und Fiorentina arbeiten auch in diese Richtung. Das ist eine gute Seite des italienischen Fußballs. Gleichzeitig müssen aber auch die jungen Italiener vorangebracht werden. Das geht aber nur, wenn die Regeln geändert werden. Die Topklubs müssten zum Beispiel B-Mannschaften haben, wie in Spanien. So könnten die jungen Spieler in kompetitiven Meisterschaften schneller reifen, denn die Primavera-Meisterschaft (U 20, Anm. d. Red.) bringt die jungen Spieler nicht weiter. Aber um das zu erreichen, muss man in Italien scheinbar unbezwingbare Hürden überspringen.
SPOX: Es ist also vordergründig ein System-Problem?
Guidolin: Man kann bei uns den Eindruck gewinnen, dass die Entscheidungsträger autonom gar nicht zum Wohl des Calcio handeln können. In Italien wird viel zu sehr in vorgefassten Schemen gedacht, die sich nur ganz, ganz schwer überwinden lassen. Das ist Italiens größtes Übel, auf allen Ebenen. Dafür gibt es allerdings vielschichtige Gründe.
SPOX: Die da wären?
Guidolin: Wir sind ein sehr junges Land, in diesem Jahr feiern wir unser 150-jähriges Bestehen. Über Jahrtausende hinweg war Italien getrennt und teilweise unterjocht. Das alte Rom ist eine der Wiegen unserer Zivilisation, aber als andere Länder wie England oder Frankreich zu einer Nation wurden, haben wir noch gegeneinander gekämpft: Dorf gegen Dorf, Region gegen Region. Diese Streitkultur ist uns geblieben. Es ist sehr schwierig, in Italien alle auf einen Nenner zu bringen oder sich an einen Tisch zu setzen und entspannt zu diskutieren. Das Gemeinwohl steht nicht immer an erster Stelle, oft schaut jeder nur auf sich selbst. Wir werden nicht umsonst als Schlitzohre bezeichnet, als Leute, die ohne Regeln leben können und versuchen, die anderen übers Ohr zu hauen. Diese Dinge traten in den vergangenen Jahren wieder häufiger auf und das ist nicht schön. Was den gespielten Fußball angeht, unterschätzen wir uns aber selbst und werden auch unterschätzt.
SPOX: Woran liegt das?
Guidolin: Meiner Meinung nach an der Atmosphäre. Ich bin überzeugt davon, dass die Atmosphäre eines Fußballspiels sehr viel ausmacht. Wenn Sie in ein neues, einladendes und volles Stadion gehen und dann dieselbe Partie in einem halbleeren, baufälligen Stadion sehen, wo die Zuschauer weit weg vom Spielfeld sitzen und die Spieler womöglich auch noch einen schlechten Rasen vorfinden, gibt das Ganze ein komplett anderes Bild ab. Die Premier League wird beispielsweise als die schönste Liga der Welt dargestellt, ich teile dieses Bild aber nicht unbedingt. Klar ist es spektakulär, wenn Chelsea, ManUtd oder Arsenal spielen, aber ansonsten sehe ich einige ganz, ganz schlechte Spiele - aber die Atmosphäre im Stadion ist immer top. Deshalb muss in Italien die Atmosphäre rund um das Spiel geändert werden. Wenn man sich die Spiele der Serie A genauer anschaut, merkt man meiner Meinung nach, dass sie um einiges schöner sind, als oft gesagt wird. Das Umfeld ist enorm wichtig.
SPOX: Ganz etwas anderes: Sagt Ihnen eigentlich der Name Markus Babbel etwas?
Guidolin: Ja, ich erinnere mich an ihn, er war ein Fußballer.
SPOX: Er ist jetzt Cheftrainer von Hertha BSC.
Guidolin: Ah, er ist der Trainer?
SPOX: Ja. Ich frage Sie deshalb, da Sie in einem Interview von der Hertha geschwärmt haben. Wie kommt es dazu?
Guidolin: Das ging folgendermaßen: Ich werde in Italien immer wieder gefragt, wieso ich noch nie einen Topklub, also Milan, Juve oder Inter, trainiert habe. Da habe ich gesagt: Das ist für mich nicht mehr so wichtig, mich könnten andere Projekte heute mehr begeistern. Wie zum Beispiel Mannschaften im Ausland, die momentan eine schwierige Phase durchmachen, aber große Tradition haben und ein seriöses Projekt bieten. Da habe ich die Hertha als Beispiel angeführt, die ja damals in der 2. Liga war, aber ein großer, traditionsreicher Verein ist. Außerdem ist Berlin eine tolle Stadt. Da ich nicht mehr der Jüngste bin, würde mir so ein Projekt gefallen - vielleicht noch mehr, als einen Topklub zu trainieren. In meinem Alter bin ich auf der Suche nach spannenden Herausforderungen.
SPOX: Apropos Herausforderung: Haben Sie schon mit den potenziellen Gegnern in der CL-Qualifikation beschäftigt?
Guidolin: Leider ja. (lacht) Da sind ja einige Kracher dabei. Wir könnten auf Arsenal, die Bayern, Villarreal, Lyon oder Benfica treffen - alles sehr harte Brocken. Erstmal haben wir es aber so weit geschafft. Jetzt genießen wir die Ferien, dann werden wir uns mit den möglichen Gegnern beschäftigen und sie genauer kennenlernen.
SPOX: Haben Sie sich die Bayern bereits näher angeschaut?
Guidolin: Zuletzt nicht explizit, aber ich habe sie oft in dieser Saison gesehen. Ich habe sie mir angeschaut, wann immer ich konnte, aber nicht weil ich an ein potenzielles Qualifikationsduell gedacht habe. Ich habe die Bundesliga prinzipiell aufmerksam verfolgt, auch Borussia Dortmund.
SPOX: Jetzt können Sie sich aber erstmal wieder Ihrem Rennrad widmen. Wie viele Kilometer haben Sie seit Saisonende schon abgespult?
Guidolin: Oh, schon sehr viele. Der Radsport ist meine große Passion. Nach dem Saisonende trainiere ich am meisten, so komme ich wieder runter und lade die Batterien auf.
SPOX: Wie viele Kilometer machen Sie in einem Jahr?
Guidolin: Zwischen 8000 und 10.000 sind es schon noch. Als ich noch jünger war, kam ich auch auf 12.000 bis 13.000, aber in Form bin ich immer noch. Wenn ich mit dem Trainerdasein aufhöre, werde ich die Tour als Fan und Beobachter täglich begleiten und auch Teile der Etappen abfahren.
Francesco Guidolin im Steckbrief