"Antonio Conte ist die pure Entschlossenheit"

Von Interview: Christian Bernhard
Stephan Lichtsteiner (l.), Rechtsverteidiger bei Juventus, hat sich in Turin bestens eingelebt
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SPOX: Andrea Pirlo war der Königstransfer des Vereins. Was macht ihn so wichtig für das Juve-Spiel?

Lichtsteiner: Ganz einfach: Es ist unglaublich, wie er der Mannschaft im spielerischen Sinn hilft. Er verteilt die Bälle super und kann sich aus zwei, drei Gegenspielern befreien. Man muss sich nur 20 Minuten eines Spiels anschauen, um zu sehen, welche Qualität er hat. Andrea ist in der Kabine extrem wichtig, denn er hat schon alles gewonnen, arbeitet aber wie ein Tier und macht jeden Lauf im Training mit. Er ist einfach ein Vorbild für alle.

Andrea Pirlo: Ein Ufo im Juve-Dress

SPOX: Sie hatten ein spezielles Erlebnis mit ihm im Sommer-Trainingslager in Bardonecchia.

Lichtsteiner: Ich war erst seit zwei Wochen da, als er mir sagte: 'Du kannst mir den Ball wirklich spielen, auch wenn ich mehrere Gegner um mich rum habe.' Ich dachte mir: Das kannst du nicht machen, du bringst ihn ja in Schwierigkeiten und er macht eine schlechte Figur. Dann habe ich ihn aber doch angespielt, denn er hat mir noch einmal gesagt, ich solle mir keine Gedanken machen. Da sah ich, wie er sich aus der Bedrängnis befreite und die Seite wechselte - und seitdem mache ich mir überhaupt keine Sorgen mehr. (lacht) Das war beeindruckend - die ganze Art und Weise, wie er auf mich zugekommen ist.

SPOX: Pirlo ist eher ein stiller Leader, keiner, der auf dem Feld groß aus sich herausgeht.

Lichtsteiner: Das stimmt, aber ein Leader muss ja nicht immer den Mund offen haben. Bei Gianluigi Buffon ist es genau so, auch er ist eine wichtige Leaderfigur. Für mich ist er immer noch der beste Torhüter der Welt, seine Qualitäten und seine Persönlichkeit sind unglaublich. Und Kapitän Alessandro Del Piero ist ein weiterer Anführer.

SPOX: Ein weiterer Neuzugang, der sich sehr gut eingefunden hat, ist Arturo Vidal.

Lichtsteiner: Arturo ist extrem wichtig für uns - auch in der Kabine, denn er ist ein sehr lustiger Kerl. Er hat sich super eingelebt, was nicht selbstverständlich ist, denn er kam aus einer fremden Liga und sein Italienisch ist auch noch nicht perfekt. Seine Qualitäten hat man von Anfang an gesehen, er ist in unserem Spiel ein extrem wichtiger Faktor. Dazu macht er was die Persönlichkeit angeht weiter Fortschritte. Manchmal unterhalten wir uns auf Deutsch, aber meistens sprechen wir italienisch, denn so lernt er die Sprache schneller.

SPOX: Sie sind unumstrittener Stammspieler, laut "Gazzetta dello Sport" einer der notenbesten Verteidiger der Liga und standen auch schon in "Europas Top 11 des Wochenendes" der "Equipe". Trotzdem stehen Sie als Abwehrspieler nicht im Rampenlicht. Stört Sie diese fehlende Aufmerksamkeit?

Lichtsteiner: Nein. Natürlich ist es so, dass ein Angreifer mehr Anerkennung bekommt. Er verdient meistens mehr und muss auch weniger laufen als wir. (lacht) Aber das ist einfach so. Man sieht im Fernsehen öfter ein Tor, als wenn ein Treffer verhindert wird. Das sehen meistens nur die Experten. Eifersüchtig bin ich deshalb aber überhaupt nicht. Mir macht es Spaß und ich bin froh, wenn die Stürmer vorne den Unterschied ausmachen und wir hinten einen ruhigen Abend haben.

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SPOX: Sie hatten auf dem Weg zum Profi immer wieder Hürden zu überwinden, beispielsweise eine Fußdeformation. Hat Sie das zu dem Menschen und Spieler gemacht, der Sie heute sind?

Lichtsteiner: Ich habe es nie als Hürde empfunden. Für mich hat der Fußball immer sehr viel Spaß bedeutet, jede freie Minute habe ich damit verbracht. Es gibt im Leben manchmal auch Situationen, in denen man nicht so glücklich ist oder sich viele Gedanken macht. Wenn man dann aber nur ein bisschen nachdenkt, dann muss man sich eingestehen: Wir haben ein extrem schönes Leben. Natürlich gab es auch für mich schwierigere Zeiten, aber das gehört dazu. Von dem her ist es sicher auch das, was mich stark gemacht hat. Dazu kommt, dass ich eine tolle Jugend hatte und ein sehr gutes Familienleben habe. Das ist heute auch nicht mehr selbstverständig.

SPOX: Sie waren im Sommer 2009 für das Hilfswerk "Solidarmed" in Mosambik.

Lichtsteiner: Das war für mich eine Erfahrung fürs Leben. Ich ging da hin und dachte mir davor: Oh, diese Menschen haben ja nichts - und das ist auch so. Aber was sie aus diesem Wenigen machen, das hat mich so wahnsinnig beeindruckt. Diese Menschen haben mehr gelacht, als wir in der Schweiz, wo wir alles haben. Die Fußbälle bastelten sie sich aus Einkaufssäcken, die Steinschleudern aus Kondomen. Diese Lebensfreude hat mich berührt. Für mich war wichtig, dass wir der Schweiz und Europa zeigen, dass es viele Leute gibt, die auf unsere Hilfe angewiesen sind. Man muss darüber sprechen und den Leuten klar machen: Hey, es gibt noch ein anderes Leben auf der Welt - Menschen, denen es nicht so gut geht. Das kann auch eine Lehre für uns sein: Seit mit dem, was ihr habt, wirklich glücklich - auch wenn ihr eine schwere Zeit durchlebt. Denn wir haben wirklich alles. Alles. In Mosambik ist es schon Luxus, wenn du nicht mehr als vier Kilometer laufen musst, um Wasser zu holen.

SPOX: Nach solchen Erfahrungen relativiert sich einiges.

Lichtsteiner: Genau. Manchmal schäme ich mich auch selbst, wenn ich einen schlechten Tag habe oder sauer bin. Es ist beinahe eine Frechheit, dass man sich über Dinge aufregt, die andere Leute gar nicht kennen.

SPOX: Gibt Ihnen diese Erfahrung auch Kraft?

Lichtsteiner: Und wie. Es relativiert alles und holt einen auf den Boden zurück. Ich sage mir dann: Reiß dich zusammen, es gibt Leute auf der Welt, die haben kein so schönes Leben wie du. Das ist immer wieder eine Motivation und hilft auch, unser Leben zu rechtfertigen - denn der Unterschied ist so groß, den muss man mit eigenen Augen gesehen haben.

Stephan Lichtsteiner im Steckbrief