Über Hans Sarpeis und Chuck Norris' vermeintliche und tatsächliche Fertigkeiten gibt es unzählige Sprüche. Selbst der resistenteste Social-Media- und Trash-Verweigerer dürfte den einen oder anderen kennen.
Über Clarence Seedorf gibt es die nicht. Dabei wäre es vermutlich ein Leichtes - wenn man sich die Mühe denn machen wollte -, dem Niederländer die absonderlichsten Talente anzudichten. Doch das wäre wie Eulen nach Athen zu tragen. Außerdem ist Seedorf kein Mann für Triviales.
Dass er auch kein Mann ist, der Herausforderungen scheut, ist ebenfalls klar. Die jüngste lautet ganz bescheiden: Einem der größten Namen des Weltfußballs seine Identität wiederzugeben.
"Es wartet eine Menge Arbeit auf uns, den Klub wieder dahin zu bringen, wo er hingehört", formulierte der 37-Jährige sein Programm beim Amtsantritt als neuer Chefcoach des AC Milan.
Und: "Ich habe Milan im Mai 2012 am Ende einer Ära verlassen. Mein Job ist es, eine neue zu beginnen."
Die Fans sind vergrätzt
Seedorf spricht von Arbeit und von Titeln, denn dort "wo Milan hingehört", ist dem Selbstverständnis des neuen Trainers nach nicht irgendwo, sondern ganz oben. In Italien und in Europa. Sphären, die für Seedorf in seiner aktiven Zeit bei Milan mit zwei Champions-League-Titeln und zwei Meisterschaften der Status Quo waren.
Mit der Einschätzung, dass viel Arbeit auf ihn warte, liegt er freilich richtig. Milan hinkt dem eigenen Anspruch meilenweit hinterher. Ein flüchtiger Blick auf die Tabelle der Serie A zeigt, dass diese Einschätzung noch geschmeichelt ist: Acht Punkte sind es bis Platz 17 und Sassuolo Calcio, 30 bis Tabellenführer Juventus.
Die Fans sind vergrätzt. Das Giuseppe-Meazza-Stadion war vielleicht halbvoll bei Seedorfs Debüt gegen Hellas Verona am vergangenen Sonntag, das mit einem späten 1:0 durch Mario Balotellis Elfmetertreffer immerhin ein Schritt in die richtige Richtung war.
Immer einen mehr...
Arbeit ist ein gutes Stichwort und Arbeit könnte statt Clyde Seedorfs zweiter Vorname sein. Aber auch Ehrgeiz, Wissbegierde, Erfolgshunger oder Diskurs.
Seine Strebsamkeit verdankt er seinen Eltern. Als Immigranten aus dem südamerikanischen Suriname hatten sie es schwer, in den Niederlanden eine neue Existenz aufzubauen. Clarence lernte von ihnen Disziplin und Fleiß, der die Grundlage seiner Karriere werden sollte.
Mit 14, als er in die weltberühmte Ajax-Akademie in Amsterdam ging, träumte er nicht etwa davon, den Sprung ins Profiteam zu schaffen oder - ganz verrückt - von Meisterschaft und Elftal. "Ich wollte damals schon die Champions League dreimal gewinnen. Mein Idol Frank Rijkaard hatte zwei Titel und ich wollte einen mehr als er."
"Einen mehr" blieb das Motto, selbst als er seinen Kindheitstraum wahr gemacht und Rijkaard überflügelt hatte. 2003 war es soweit. Mit Milan gewann er in Manchester die Champions League gegen Juve. Seinen Hunger konnte aber auch nicht stillen, dass er als erster und bis heute einziger Profi die Königsklasse mit drei verschiedenen Klubs (1995 mit Ajax, 1998 mit Real Madrid) gewonnen hatte.
"Wenn man ehrgeizig ist, dann ist auch das Gewinnen nicht genug", sagt er. "Wenn ich drei Titel habe, dann will ich den vierten. Wenn ich vier habe, will ich den fünften. Ich kann genießen, aber nur für ein paar Monate. Wenn die neue Saison dann beginnt, kann ich nur daran denken, es noch einmal zu tun."
Eine Explosion von Emotionen
Diese Einstellung trat vielleicht in der Saison 2007 am deutlichsten zu Tage. Mit Seedorf als Antreiber, Regisseur, Stratege und Torjäger in Personalunion wurde eine Saison, die mit einem massiven Punktabzug in Folge des Manipulationsskandals "Calciopoli" begonnen hatte, zum großen Triumph in der Champions League.
Milan hatte sich durch die Vorrunde gewurschtelt und ein widerborstiges Celtic nach Verlängerung bezwungen.
Dann war Schluss mit den Arbeitssiegen: Milan war zu abgezockt für den FC Bayern im Viertelfinale und deklassierte Manchester United im Halbfinale. Im Finale in Athen folgte gegen den FC Liverpool die Revanche für die Schmach von Istanbul zwei Jahre zuvor.
Unvergessen ist der Schnappschuss eines strahlenden Clarence Seedorf, der, den Cup eng umschlungen haltend, übers Spielfeld hüpft. Er nannte es eine "unglaubliche Explosion von Emotionen".
Abstecher nach Brasilien
Dieser Titel markierte die Krönung seiner sportlichen Laufbahn. 2011 kam noch die Meisterschaft, ehe er 2012 von Milan schied und nach Rio de Janeiro weiterzog zu Botafogo, einem im Vergleich zu Fluminense oder Corinthians eher mausgrauen Klub ohne gehobene Ambitionen.
Auch hier galt sein Prinzip, das Maximale herauszuholen. Botafogo schaffte mit Seedorf erstmals seit 1996 die Qualifikation für die Copa Libertadores.
Unter Tränen nahm er im Januar nach anderthalb Jahren Abschied von seiner letzten Station als aktiver Profi, nachdem ihn der Ruf aus Mailand erreicht hatte.
Er kann auch noch singen
Über 20 Jahre spielte Seedorf auf höchstem Niveau Fußball mit großem Erfolg und noch größerer Hingabe. Mit der gleichen Hingabe schärfte er sein Profil auch außerhalb des Platzes.
Sein soziales Engagement für die Rechte von Kindern und gegen Rassismus stieß auf weltweites Echo und brachte ihn in Kontakt mit Nelson Mandela, Desmond Tutu und Kofi Annan. Er firmiert erfolgreich als Geschäftsmann und stieß mit seinen journalistischen Exkursen für die "BBC" auf begeisterte Resonanz.
Er bloggte intensiv für die New York Times, spricht sechs Sprachen, studierte Business-Management und erwarb die UEFA A-Lizenz. Wem das nicht genügt: Seedorf ist ein sehr passabler Sänger und als 14-Jähriger räumte er bei der niederländischen Version von "Der Preis ist heiß" einen Fernseher ab.
Dreist? Arrogant? Cholerisch?
Wie er das alles unter einen Hut bekommt und dabei seinem Grundsatz gerecht wird - neben dem Verzicht auf Alkohol, Zigaretten, Drogen und Kaffee -, genügend Schlaf zu bekommen, sei dahingestellt. Aber Seedorf kann. Weil er will.
Natürlich ist seine Biographie keine bloße Aneinanderreihung von Erfolgen auf und neben dem Platz. Ein Blick auf seine nicht eben ruhmreiche Geschichte als Nationalspieler, die begleitet wurde von sportlichem Misserfolg, teaminternen Konflikten, Schwierigkeiten mit Trainern und Liebesentzug seitens der niederländischen Öffentlichkeit, reicht, um das festzustellen.Seedorf ist intelligent und offen, rhetorisch gewandt und diskussionsfreudig, bisweilen cholerisch. Nicht jedem gefällt sein Sendungsbewusstsein, mancher empfindet ihn als zu forsch oder gar dreist und arrogant. Wobei man vorsichtig in der Beurteilung sein muss. Seedorf ist kein Provokateur, es sei denn, Provokation dient einem höheren Zweck. Es werden keine Wetten darauf angenommen, dass mancher Weggefährte es nicht mit ihm aufnehmen konnte oder wollte.
Capello und Eriksson
Legendär ist eine Konfrontation in der Real-Madrid-Kabine mit Fabio Capello. Der italienische Trainer, bekannt für seinen autoritären Führungsstil , soll sein Jackett nach Seedorf geworfen haben, als dieser anfing, in der Halbzeit eines Spiels über die Taktik zu diskutieren, und gebrüllt haben: "Wenn Du alles so genau weißt, dann mach Du doch den Coach!" Seedorf selbst will die Episode nicht bestätigen, räumt aber ein, dass man sich schon mal angebrüllt habe.
Er habe ein gutes Verhältnis zu Capello, verrät er rückblickend, wie auch zu vielen anderen Trainern, unter denen er gespielt hat. Sven-Göran Eriksson räumt er dabei einen Ehrenplatz ein.
Der Schwede war sein Coach bei seiner ersten Auslandsstation in Genua, sei wie ein Vater gewesen und habe ihm lebenswichtige Unterstützung dabei geleistet, mit der italienischen Mentalität im Allgemeinen und dem italienischen Fußball im Besonderen zurecht zu kommen.
Seedorf hat von allen seinen Trainern gelernt: Neben Capello und Eriksson gehörten Carlo Ancelotti, Guus Hiddink, Marcello Lippi, Jupp Heynckes und Louis van Gaal dazu.
"Welche Farbe soll die Scheiße haben?"
Ob ihn dies alles befähigt, selbst ein großer Trainer zu werden, ist Spekulation, doch die Voraussetzungen könnten augenscheinlich nicht besser sein.
"Er sprach zu zehn Prozent wie ein Spieler, zu 70 Prozent wie ein Trainer und zu 20 Prozent wie ein General Manager", sagte Bruno De Michelis, Milans ehemaliger Teampsychologe vor ein paar Jahren über Seedorf. "Ich habe nie eine stärkere Persönlichkeit gesehen."
Gegenüber Seedorfs Biographen veranschaulichte De Michelis: Wenn der Trainer seinen Spielern sagen würde, sie sollen auf den Platz scheißen, würden sie es einfach tun. Seedorf würde fragen: ‚Natürlich, Trainer. Aber welche Farbe soll die Scheiße haben?'
Seedorf reflektiert, analysiert, fragt nach. Er kommt nicht wie die Jungfrau zum Kinde zu seinem Trainerposten bei Milan. Schon vor Jahren unterhielt er sich mit Vereinspatron Silvio Berlusconi über das Danach. Er kennt Milan in- und auswendig und wird die Entwicklung gerade nach seinem Abschied genauestens verfolgt haben.
Er wird wissen, worauf er sich eingelassen hat, wie viel Milan an Substanz und Strahlkraft eingebüßt hat und versuchen, eine Mannschaft nach seinen Vorstellungen aufzubauen und dem Klub seinen Geist einzuimpfen.
Sein Job sei es, sagt er, Milan wieder an die Spitze zu bringen. Und sein Naturell verlangt, den nächsten Titel zu gewinnen. Immer einen mehr, immer einen mehr.
Clarence Seedorf im Steckbrief