Wirft man jetzt am Saisonende mal einen Blick auf die Torschützenlisten der europäischen Topligen, stößt man auf vertraute Namen. Von Cristiano Ronaldo über Lionel Messi, Luis Suarez bis hin zu Zlatan Ibrahimovic ist vorne alles mit dabei, was Rang und Namen hat. Italien bildet die Ausnahme: Dort liegt Ciro Immobile vom FC Turin mit 22 Treffern an der Spitze - ein bislang unbeschriebenes Blatt.
Der 24-Jährige hat in seiner jungen Karriere bereits Pflichtspiele für sechs Profiteams absolviert. Doch folgte hoffnungsvollen Spielzeiten stets der baldige Einbruch. Ausgebildet bei Sorrento Calcio in seiner heimatlichen Region Kampanien an der Westküste Italiens zog es ihn 2008 zunächst zu Juventus Turin.
Vergleich mit Inzaghi
Dort debütierte er in Serie A und Champions League, hielt den hohen Anforderungen bei der Alten Dame aber nicht Stand und wurde ab 2010 nur noch ausgeliehen: Die Spielzeit 2010/2011 verbrachte er in Siena und Grosseto, durfte 20 Mal spielen und schoss drei Tore.
Weiter ging es ein Jahr später zu Delfino Pescara 1936 in die 2. Liga, wo Immobile plötzlich eine Sahnesaison hinlegte. Der tschechische Coach Zdenek Zeman formte eine 90-Tore-Offensive der Extraklasse: Marco Verratti (heute Paris St.-Germain) gelangen neun Treffer, Lorenzo Insigne (heute Neapel) traf 18 Mal.Fast ein Drittel aller Buden erzielte aber Immobile, der mit 28 Toren erstmals seinen Namen auf der italienischen Fußball-Landkarte markierte. "Zeman war ein Meister in allen Belangen, von ihm habe ich viel gelernt", sagt Immobile. Pescara schaffte letztlich den nie erwarteten Sprung in die Serie A, Sportdirektor Delli Carri pries Immobile mit den Worten: "Nur Pippo Inzaghi war mit 24 Jahren so stark!"
Schon in Siena unter Conte
Der Torschützenkönig, der in Italiens U 21 insgesamt acht Tore bei 16 Einsätzen markierte und im letzten Jahr im EM-Finale in Israel stand, zog weiter zum FC Genua. Die Inkonstanz, die man vor Pescara von ihm kannte, kehrte dort wieder zurück. Immobile landete häufig auf der Ersatzbank, schoss nur fünf Saisontore und hatte eine Saison später im FC Turin schon wieder einen neuen Arbeitgeber.
Diese Intermezzi, die viele Leihspieler in Italien durchmachen müssen, sind keine Seltenheit. Meist werden die Spieler ohne Einfluss auf die Transfergebaren ihrer Vorgesetzten von einem Klub zum nächsten weitergereicht. Der Grund für Immobiles schweren Stand bei Juventus ist unter anderem Trainer Antonio Conte. Er und Immobile brachten bereits in Siena kein harmonisches Verhältnis zustande.
Die Saison in Turin lief bislang so wie damals unter Zeman in Pescara: Immobile genießt das volle Vertrauen des Vereins, explodiert förmlich und erzielt Tore wie am Fließband - und das, ohne die Elfmeter zu schießen. Immobile steht seitdem auf den Zettel von Borussia Dortmund ganz oben.
Immobile, der Turiner torello
Sollte der BVB den Italiener für sich gewinnen können, bekommt er einen arbeitenden Angreifer, der beidfüßig, flink und dennoch robust ist. Immobile ist sowohl im Zentrum als auch auf den Flügeln einsetzbar, hat einen großen Aktionsradius, ist laufstark und eiskalt beim Torabschluss.
Dass Immobiles Vorzüge derzeit so konstant zur Geltung kommen, ist auch den Rahmenbedingungen bei Torino geschuldet: Das Mannschaftsgefüge funktioniert, Trainer Giampiero Ventura vertraut ihm und mit Sturmpartner Alessio Cerci versteht sich Immobile blind. Beide schossen 34 der 55 Turiner Tore und lassen den FC Turin von der Europa League träumen.
Als "torello", junger Stier, wird der privat jedoch ruhige 24-Jährige seitdem am Stiefel bezeichnet - und freut sich über diese Metapher: "Das gefällt mir, es steht stellvertretend für meine Spielweise", sagt Immobile, dessen Vorbild Wayne Rooney ist.
Prandelli: "Er macht sich gut"
International bewiesen aber hat sich Immobile mangels Gelegenheit noch nicht. Im März feierte er beim 0:1 gegen Spanien immerhin seine Premiere in der Squadra Azzurra. Francesco Graziani, Weltmeister von 1982, trommelt nach dessen starker Saison für Immobiles Nominierung in den WM-Kader. Als Stürmer mit "speziellem" Stil bezeichnet er ihn, "nicht besonders ästhetisch, aber sehr konkret." Die WM sei sein Ziel, sagt auch Immobile. Die Aussage von Nationaltrainer Cesare Prandelli lässt ihn hoffen: "Er macht sich gut. Wir verfolgen seine Entwicklung."
Wohl auch deshalb haben sich Michael Zorc und Hans-Joachim Watzke dieser Tage nach Turin aufgemacht, um in der Juve-Geschäftsstelle ein erstes Sondierungsgespräch zu führen. Die Borussia hat Immobile als Nachfolger von Robert Lewandowski auserkoren und wäre wohl sehr zufrieden, wenn die Verhandlungen noch vor der Endrunde in Brasilien ein Ende finden würden.
Am vergangenen Donnerstag reisten die Dortmunder Verantwortlichen per Privatflieger nach Turin und kamen mit Spielervermittler Giacomo Petralito, Immobile-Berater Marco Sommella und Juves sportlichem Leiter Beppe Marotta zusammen. Laut italienischen Medien soll die Borussia ihrem Wunschspieler einen Fünf-Jahres-Vertrag mit einem Nettogehalt von zwei Millionen Euro jährlich plus Prämien angeboten haben.
Verstrickte Vertragslage
Immobile möchte laut Watzke angeblich unbedingt nach Dortmund wechseln, hielt sich zuletzt aber noch bedeckt: "Daran denke ich nicht, ich weiß nichts über diese Dinge. Ich denke daran, Europa mit dem FC Turin zu erreichen."
Billig dürfte ein Deal für die Dortmunder nicht werden, Immobliles Ablösesumme wird auf über 20 Millionen Euro taxiert. Der BVB soll dem Vernehmen nach bereit sein, 18 Millionen hinzublättern. Auch Atletico Madrid bietet mit und soll laut "Kicker" das bessere Angebot abgegeben haben.
Das größte Problem stellt aber die wie schon bei Henrikh Mkhitaryans Transfer im vergangenen Sommer verstrickte Vertragslage dar: Beide Turiner Vereine halten 50 Prozent der Transferrechte, haben aber höchst divergierende Vorstellungen. Juventus scheint seinem Leihstürmer keine Steine in den Weg legen zu wollen, Torino möchte ein Mitspracherecht und die höchstmögliche Ablösesumme haben.
FC-Geschäftsführer Urbano Cairo war angesäuert, dass sich Zorc und Watzke bislang nur mit Juve trafen und erklärte: "Da hat der FC Turin am Tisch gefehlt. Deshalb haben wir auch keine Einigung mit Juve erzielt. Ich werde alles dafür tun, dass Immobile bleibt, aber natürlich ist auch wichtig, was Ciro will. Ich bin überzeugt, dass es für seine Entwicklung besser ist, weiter in Turin zu spielen."
Es ist das übliche Säbelrasseln und wird wohl noch weiterer Gesprächrunden bedürfen, bis Immobile in Dortmund landet. Dass er es tut, scheint sehr wahrscheinlich. Dass ihn der Weg zu seinem neuen Arbeitgeber über Brasilien führt, auch.
Ciro Immobile im Steckbrief