Angelos Charisteas hat in seinem Leben schon etliche Menschen in Begeisterung versetzt. Mit 27 Bundesligatreffern etwa die Fans von Werder Bremen und vom 1. FC Nürnberg. Und, natürlich, Millionen Griechen. Im Frühsommer 2004 war das, als Charisteas die Hellenen mit seinem Treffer im EM-Finale gegen Portugal zum wohl überraschendsten Europameister der Geschichte machte.
Am 12. Dezember 2015 war dann wieder so ein Moment gekommen. Charisteas konnte zwar eigentlich nichts dafür, aber er hielt den Grund für die Begeisterung immerhin in seinen Händen. Und der hieß "Poland". Sekunden zuvor zog Charisteas eine Kugel aus einem Lostopf, von der die deutsche Delegation wohl genauso inständig hoffte, dass auf dem darin versteckten Zettelchen nicht "Italy" stehen würde, wie alle anderen Beteiligten sich genau das wünschten.
Nur ja nicht Italien aus dem zweiten Topf zugelost bekommen; nur ja nicht bereits in der Gruppenphase der EM 2016 auf die Squadra Azzurra treffen. "Wir wollten Italien unbedingt vermeiden", sagte DFB-Sportdirektor Oliver Bierhoff danach. Ob er den einhergehenden lautstarken Erleichterungs-Stöhner tatsächlich abgab, oder man ihn sich als aufmerksamer Zuschauer nur einbildete, ist nicht mehr zu klären.
Schmerzhafte Erinnerungen
Fakt aber ist: Bierhoff, Bundestrainer Joachim Löw und ganz Fußball-Deutschland waren mehr als froh, es nicht schon in der Gruppenphase mit Italien zu tun zu bekommen. Keine Fußballnation fügte der DFB-Mannschaft geschichtlich betrachtet so viel Schmerz zu wie Italien: Mario Balotelli und Fabio Grosso in der jüngeren Vergangenheit; Paolo Rossi und Gianni Rivera in der entfernteren. Alleine die Namen sorgen bis heute für Angstschweiß.
Der überbordende Respekt vor der aktuellen Mannschaft ist aber eigentlich etwas unbegründet. Die Squadra Azzurra verfügt im Moment nicht über die ganz großen Namen, sie zählt nicht zu den heißesten Anwärtern auf den EM-Titel. Die Squadra Azzurra ist im Umbruch. Und das eigentlich bereits seit zehn Jahren, seitdem Fabio Cannavaro den WM-Pokal in den Berliner Himmel reckte. Die EM 2012 war ein Zwischenhoch, das durch die 0:4-Pleite im Finale gegen Spanien ein jähes Ende erfuhr.
"Es steckt ein Biest in ihm"
Seit dem Vorrundenaus beim vergangenen Weltturnier darf sich Antonio Conte als Trainer der Italiener probieren. Auf den letztlich erfolglosen Gentleman Cesare Prandelli folgte damals, im Sommer 2014, der temperamentvolle, ja der fast wilde Conte. Viel ging seitdem nicht weiter - außer, dass auf der Trainerbank nun ein Kontrastprogramm herrscht. Prandelli gilt als ruhiger Vertreter seiner Zunft, bedacht seine Worte wählend und für wenig Wirbel abseits des Platzes sorgend.
Conte ist diesbezüglich anders gestrickt. "Es steckt ein Biest in ihm", sagt einer, der es wissen muss: Sein langjähriger Regisseur Andrea Pirlo. "Ich habe ihn in Halbzeitpausen in der Umkleidekabine erlebt, wo wir auf der Siegerstraße waren, aber er trotzdem mit vollen Wasserflaschen um sich geworfen hat, weil wir einen Fehler gemacht hatten."
Nimmermüdes Rumpelstilzchen
An der Seitenlinie und in der Kabine mimt Conte gerne das nimmermüde Rumpelstilzchen, in der Mixed Zone tut er seine Meinung mehr als deutlich kund. Als sein Kapitän Gianluigi Buffon nicht auf der Shortlist zur jüngsten Weltfußballerwahl auftauchte, boykottierte Conte kurzerhand die Abstimmung. Als Mario Balotelli nach der EM-Gruppenauslosung, die Italien Belgien, Irland und Schweden bescherte, gestand, er könne das Turnier nicht erwarten, stichelte Conte: "Er kann was kaum erwarten? Die EM im Fernsehen zu sehen oder sie zu spielen?" Seit der WM in Brasilien lief Balotelli nicht mehr für Italien auf.
Darüber hinaus gab Conte schon bald nach seinem Amtsantritt zu, dass ihm "das tägliche Training fehlt", er also eigentlich viel lieber wieder als Vereinstrainer arbeiten würde. Mittlerweile ist sein Abschied nach der EM Gewissheit. Conte wird wohl den FC Chelsea übernehmen. Themen wie diese sorgen in der hysterischen italienischen Fußballwelt nicht unbedingt für Ruhe. Hinzu kommen die leidigen Manipulationsvorwürfe aus seiner Zeit als Trainer des AC Siena, die gewissermaßen eine stete Begleitmusik seiner Amtszeit sind. Bis zum 10. Mai soll nun ein Urteil fallen.
Ein schlachterprobtes Trio, ein schlachterprobterer Buffon
Aber nicht nur abseits des Platzes ist Conte gewissermaßen auf Krawall aus. Er verlangt von seinen Spielern eben diesen auch auf dem grünen Rasen. Bereits als Trainer von Juventus Turin ließ Conte einen Kraft-Fußball spielen. Mit einer massierten Defensivstaffelung den Gegner in der eigenen Hälfte aggressiv attackieren. Den Ball erobern. Blitzartig umschalten. Das ist das Schema, das Conte auch der italienischen Nationalmannschaft überzustülpen versucht.
Unterschiede zwischen seinem Ex-Verein und seiner heutigen Auswahlmannschaft gibt es aber trotzdem. Bei Juve verfügte Conte über ein perfekt eingespieltes Kollektiv; bei Italien fehlen ihm speziell im Offensivbereich die nötigen Spielertypen. Conte probiert, experimentiert und Conte rotiert viel.
In der EM-Qualifikation stand nie zweimal hintereinander die gleiche Startelf auf dem Platz. Auch hinsichtlich der Grundordnung scheint sich Conte noch nicht sicher zu sein. In den ersten fünf Qualifikationspartien vertraute er dem für ihn typischen 3-5-2-System, dann stellte er auf eine Viererkette um. Mal mit zwei, mal mit drei Stürmern.
Wenn ein Mannschaftsteil keine Sorgen bereitet, dann ist es der Defensivbereich. Hinter dem ewigen Trio, dem schlachterprobten Triumvirat bestehend aus Giorgio Chiellini (zur Zeit zwar angeschlagen, für die EM aber fix eingeplant), Andrea Barzagli und Leonardo Bonucci steht der noch ewigere, der noch schlachterprobtere Buffon zwischen den Stangen. Spieler, denen Conte seit seiner Zeit bei Juventus blind vertraut.
Pirlo, Verratti und die große Frage
Spätestens dann, wenn die Mittellinie überschritten wird, beginnen aber bereits die Sorgen. Das Kernproblem dieses Bereichs ist eigentlich eine ganz einfache Ja/Nein-Frage. Und diese lautet: Andrea Pirlo? Der Altmeister lässt seine Karriere derzeit in New York ausklingen. Fraglich, ob er noch einmal im Stande ist, ein kräftezehrendes Turnier zu absolvieren. In der Qualifikation spielte Pirlo dreimal; Conte hat sich noch nicht abschließend entschieden. Gegen Deutschland wurde der Altmeister nicht berufen. Vielleicht ein Fingerzeig.
Sein designierter Nachfolger steht in Marco Verratti eigentlich schon bereit. "Der Übergang von Pirlo zu Verratti hat begonnen, hoffentlich wird er uns weitere Freude bescheren", schrieb der Corriere dello Sport nach dem 3:1-Sieg in Aserbaidschan im vergangenen Herbst, bei dem der Mittelfeldmann von Paris Saint-Germain glänzte und für Italien die EM-Teilnahme fixierte.
Spätstarter und ein Rückkehrer
Die Abteilung Sturm und Drang besetzten bei dieser entscheidenden Partie Eder und Graziano Pelle. Ein Duo, das exemplarisch für Italiens Nachwuchsproblem steht. Eder, 29, von Inter Mailand und Pelle, 30, vom FC Southampton, debütierten beide erst in den vergangenen eineinhalb Jahren im Nationalteam. Es ist durchaus problematisch, zwei Spieler im bereits gehobenen Fußballeralter als Hoffnungsträger zu verkaufen. Mangels Alternativen bleibt Conte jedoch nichts anderes übrig.
Auch für die Halbpositionen und die Flügel fehlen Italien die großen Namen mit den großen Fähigkeiten. Marco Parolo. Antonio Candreva. Roberto Soriano. Stephan El Shaarawy. Furchteinflößend ist anders. Im Angesicht der Verzweiflung probiert Conte weiter.
Für den Test gegen Deutschland verhalf Conte so Jorginho vom SSC Neapel und Federico Bernardeschi vom AC Florenz zu ihren ersten Nominierungen. Darüber hinaus steht erstmals seit der WM in Brasilien wieder Thiago Motta im italienischen Kader. Mit 33 Jahren. Das sagt vieles.
Spiel mit Herz als Identität
Mit seinen 77 Jahren ist Giovanni Trapattoni noch einmal um einiges älter als Motta. Weisheit und Erfahrung hat die Trainerikone also genügend. Wohl sogar mehr als Chiellini, Bonucci, Barzagli und Buffon zusammen. Und das soll was heißen. Etwas altersmilde sagte Trapattoni zuletzt also: "Wir besitzen keine Spieler wie Messi oder Ronaldo. Wir sollten mit dem zufrieden sein, was verfügbar ist. Wir spielen mit Herz. Das ist unsere Identität."
Diese Identität zeichnet Italien seit Jahrzehnten aus und bescherte der Squadra Azzurra zahlreiche Erfolge. Nicht immer brauchte es dafür die ganz großen Namen. Fabio Grosso debütierte mit 25 Jahren im Nationalteam. Als er zur WM 2006 aufbrach, stand er gerade bei US Palermo unter Vertrag. Was er in Deutschland tat, ist bekannt. Mit Italien ist immer zu rechnen.
Die italienische Nationalmannschaft im Überblick