Gunnar Nordahl gilt für viele immer noch als bester Stürmer der schwedischen Geschichte. Der bescheidene Kraftprotz mit dem knallharten Schuss ist bis heute Rekordtorschütze des AC Milan und musste vor seinem Erfolg ordentlich ackern. Diese Woche wäre "Il Bisonte" 95 Jahre alt geworden. Seine alte Liebe trifft am Wochenende auf Juventus (Sa., ab 20.45 Uhr live auf DAZN und im LIVETICKER)
Fußball und Schweden - zwei Worte, die seit zehn Jahren im Grunde nur eine Assoziation zulassen: Zlatan Ibrahimovic. Der vorlaute United-Star besitzt im skandinavischen Königreich mittlerweile eine solche Omnipräsenz, dass selbst ausgewiesene Experten bei der letzten EURO Probleme hatten, mehr als fünf Teamkollegen von Ibrahimovic aufzuzählen.
Ibra spricht, Ibra trifft, Ibra zlataniert. Angesichts der Wunderdinge, die der Sohn bosnischer Einwanderer regelmäßig vollführt, hat der Kicker inzwischen einen Status in der Heimat erreicht, dass 'Ibrakadabra' schon fast schwedischer ist, als ABBA, Astrid Lindgren und Kötbullar zusammen.
Zlatan aus grauer Vorzeit
Dabei existieren im schwedischen Fußballkosmos zwei Wörter, die so manch laute Jubelarie auf Ibrahimovic verstummen lassen. Genauer gesagt ein Name, der gerade die ältere Generation immer noch ins Schwärmen bringt: Gunnar Nordahl - der treffsicherste Stürmer der schwedischen Geschichte. Milan-Legende.
Als Gunnar Nordahl am 19. Oktober 1921 in der schwedischen Provinz auf die Welt kam, gab es nur vereinzelt Berufssportler auf dem europäischen Festland. Fast jeder große Name außerhalb Großbritanniens kickte allein für ein wenig Zubrot gegen den Ball. Hans Kalb etwa, Deutschlands damaliger DFB-Kapitän, bekam gerade genügend Geld vom 1. FC Nürnberg, um während seines Medizinstudiums über die Runden zu kommen.
Arbeiten für eine Ein-Zimmer-Wohnung
Gleichzeitig erschien im nordschwedischen Hörnefors ein Leben als professioneller Fußballspieler ungefähr so weit entfernt wie die Wärme der Südsee. Zwischen viel Schnee und Kälte arbeitete Papa Nordahl in einer Zellstofffabrik und musste für Sohn Gunnar und seine neun Geschwister täglich Essen auf den Tisch bringen.
spoxNebenbei halfen die fünf Brüder bei den Schmiedearbeiten mit, die zusätzlich etwas Geld in die Familienkasse spülten. Trotzdem reichte es nur für eine ärmliche Ein-Zimmer-Wohnung. Ein Umstand, der Gunnars bescheidenes Wesen zeitlebens prägen sollte.
Stand keine Arbeit für die Jungs an, gab es allerdings ohnehin kein Platzproblem. Denn die Brüder Bertil, Göran, Gösta, Knut und Gunnar verbrachten jede freie Minute mit ihrer Kugel aus alten Lederfetzen auf dem Bolzplatz. Die gesamte Familie war mit überdurchschnittlichem Talent gesegnet. Sie alle traten irgendwann dem örtlichen Hörnefors IF bei, der in der Folge den Jugendfußball in der Region dominieren sollte.
Wer ist dieser 16-Jährige?
Vor allem Gunnar stach mit seiner bulligen Erscheinung und seinem feinen Torriecher bereits in jungen Jahren auf jedem Fußballfeld heraus. Spätestens mit seinem finalen Aufstieg zu den Herren von HIF verbreitete sich die Nachricht über einen groß gewachsenen Stürmer, der angeblich nie sein Ziel verfehlte, über das gesamte Land.
Der damalige schwedische Top-Stürmer Bertil Ericsson kehrte 1937 von einer kleinen Freundschaftsspiele-Tour aus Nordschweden nach Stockholm zurück und berichtete von einem "breitschultrigen 16-Jährigen", der alles kurz und klein schoss.
1940 wechselte er zu Degerfors IF in die erste schwedische Liga Allvenskan, wo er ebenfalls Tore am Fließband lieferte. Mittlerweile maß Gunnar 1,85 Meter und wog fast 90 Kilo pure Muskelmasse. Er profitierte dabei auch von seiner Arbeit als Bierlieferant, bei der er bereits als Teenager täglich schwere Bierfässer wuchten musste.
Kanonen statt Füße
Der endgültige Aufstieg zum Top-Stürmer gelang beim IFK Norrköping, wo Gunnar wieder auf drei seiner Brüder traf. In der Folge dominierte Gunnar vor allem mit seinen Geschwistern Knut und Gösta den schwedischen Fußball. Dazu kam Außenstürmer Nils Liedholm, mit dem Nordahl zeitlebens eine enge Freundschaft verbinden sollte. Nordahl war der Star der Truppe und wurde besonders für seinen knallharten Schuss gefürchtet.
Es gab zahlreiche Sammelkarten und Poster, die den schussgewaltigen Stürmer anstatt seiner Füße mit Kanonen zeichneten. Dieser Darstellung lag besonders ein Spiel in Malmö zugrunde, als Nordahl die Kugel mit einer solchen Wucht in die Maschen peitsche, dass diese nicht im Netz landete, sondern es einfach durchschlug und der Ball in die Zuschauermenge flog.
Auch sein Gespür für Lücken und freie Räume hob Nordahl von anderen Stürmern dieser Zeit ab. Vier Meisterschaften und vier Torjäger-Kanonen später galt Gunnar als bester Spieler des Landes. Und während er nebenbei als Feuerwehrmann arbeitete, um das verbotene Profidasein in Schweden zu umgehen, schrieb er mit dem Nationalteam ein kleines Fußballmärchen.
Olympia wird zum Märchen
Das Olympische Fußballturnier 1948 beendete die lange Zwangspause internationaler Großturniere nach dem 2. Weltkrieg. Auch Schweden gehörte zum Teilnehmerfeld in London, war angesichts der Konkurrenz aus Italien, Frankreich und Großbritannien aber allenfalls Außenseiter - auch weil die schwedische Allvenskan als zweitklassige Liga angesehen wurde.
Doch mit einem Torverhältnis von 19:2 pflügte Schweden durchs Turnier, räumte unter anderem Dauerrivale Dänemark aus dem Weg und traf im Finale auf Jugoslawien, das zuvor Gastgeber Großbritannien ausgeschaltet hatte. Innerhalb von 67 Minuten war die Partie entschieden. Nordahl traf mit seinem siebten Turniertreffer zum vorläufigen 2:1 und freute sich neben einer Goldmedaille über die Torjägerkrone. Bis heute der einzige internationale Titel der Schweden.
Das Turnier genoss seiner Zeit eine enorme Aufmerksamkeit, weshalb Nordahl als Star der Veranstaltung zu Hause von einem überquellenden Briefkasten empfangen wurde: Halb Europa riss sich um die Dienste des Torjägers. Der Zuschlag ging schließlich an den AC Milan.
Mailand eine andere Welt
In Italien hatte sich mittlerweile bis in die zweite Liga der Profifußball durchgesetzt und das Lire-Paradies lockte mit beeindruckenden Verdienstmöglichkeiten. Gleichzeitig wehrte sich der konservative AC Milan lange gegen die Verpflichtung von Legionären, wodurch Nordahl nicht nur als erstem Profifußballer Schwedens eine Vorreiterrolle zukommen sollte.
Der Druck war enorm: "Das war für mich eine andere Welt", meinte der Skandinavier rückblickend. "Ich war mir nicht sicher, ob ich mich dort eingewöhnen könnte." Das extrovertierte Wesen der Italiener, die teure Kleidung, der Nationalstolz, die laute Metropole - das alles schüchterte Nordahl ein.
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Die persönlichen Zweifel verflogen jedoch binnen kürzester Zeit. In der Winterpause 1949 in Italien gelandet, feuerte Gunnar sofort aus allen Rohren, erzielte in 15 Partien 16 Treffer. Diese Zahlen brachten die Rossoneri dazu, ihn nach nur sechs Monaten von der Unterzeichnung eines neuen Vertrages zu überzeugen und gleich noch zwei Schweden in Richtung Lombardei zu locken.
Gre-No-Li rockt die Serie A
Der Verein verpflichtete noch Kumpel Liedholm sowie den schwedischen Ballkünstler Gunnar Gren und das Trio überrollte unter dem Namen "Gre-No-Li" die Serie A. Während der ehemalige Zehnkämpfer Liedholm der Sage nach erst in der zweiten Saison unter Standing Ovations seinen ersten Fehlpass im San Siro spielte, war Gren - genannt "Der Professor" - für die Ordnung der wilden Sturmläufe verantwortlich.
Der bescheidene Nordahl wusste um die Bedeutung seiner Kollegen: "Als ich nach Italien kam, wurde mir sofort klar, dass die Spieler in Schweden beweglicher sind. Also habe ich versucht, diese Tatsache auszunutzen und Lücken zwischen den Abwehrspielern aufzutun. [Liedholm und Gren] haben mich immer mit perfekten Hereingaben bedient, so dass ich es im Abschluss oft leicht hatte."
"Il Bisonte" (das Bison) stellte in der folgenden Saison 1949/50 einen Rekord auf, der erst in der Saison 2015/16 von Gonzalo Higuain gebrochen werden sollte: 35 Saisontore, davon elf durch Volleyschüsse, erzielte Nordahl. Der Stürmer wurde zu einer der populärsten Personen der Italienischen Republik, während er im Inneren weiter der Junge aus Hörnefors blieb.
Ein Junge aus Nordschweden
Trotz mehrmaligem Angebot der Milan-Bosse verzichtete Nordahl auf sein vornehmes Apartment im schicksten Viertel Mailands und mietete sich lieber eine bescheidene Wohnung am Stadtrand. Seine bodenständige Ader kannte auch auf dem Fußballplatz keine Pause.
Bei einem Spiel gegen Juventus landete ein gegnerischer Verteidiger nach einem Sprintduell mit Nordahl mit dem Gesicht voraus unsanft auf dem Rasen. Der Weg zum Tor war frei. Aber völlig überraschend stoppte der Milan-Stürmer, spielte den Ball ins Aus und eilte zurück, um seinem Gegenspieler wieder auf die Beine zu helfen. Das ganze Stadion jubelte.
Der Jubel im San Siro riss zwischen 1949 und 1956 einfach nicht ab. Nordahl schwang sich mit 221 Treffern in 268 Spielen zum Milan-Rekordschützen auf, fünfmal führte er am Ende der Saison die Torschützenliste an. Irgendwann fragten Milan-Fans, die bei Spielen nicht zugegen waren, nicht mehr, ob Nordahl getroffen hatte, sondern wie oft.
Nie wieder für Tre Kronor
Die überragenden Fähigkeiten des Schwedens sollte seiner Heimat nichts mehr nützen. Durch sein Profidasein war Nordahl aus der Nationalmannschaft ausgeschlossen, weshalb er als einer der besten Spieler aller Zeiten gilt, der nie an einer EM- oder WM-Endrunde teilnahm.
Für Kollege Gren gibt es an den Qualitäten seines ehemaligen Kollegen dennoch keinen Zweifel: "Er schoss den Ball selbst mit seinem schwächeren Fuß mit einer solchen Wucht, er erzielte Abstauber und spektakuläre Treffer. Er brachte sich selbst in Positionen in Stellung, von denen andere gar nicht wussten, dass sie existierten. Er war einer der besten Spieler, die es je gab."
Beim AC Milan gilt Nordahl derweil als Wegbereiter für all die anderen großen Legionäre der Vergangenheit. Selbst ein Andriy Shevchenko hielt dem Vergleich mit der Ikone nicht stand. Nach seinem hundertsten Serie-A-Treffer sprach ein älterer Fan nach dem Spiel süffisant: "Jetzt müssen wir die Tore nur noch verdoppeln, noch mal eine Ladung draufsetzen und er erreicht womöglich irgendwann 'Il Cannoniere'."