Der seltsame Fall des Tomas Rincon

Pascal De Marco
25. Januar 201717:57
Tomas Rincon spielte von 2009 bis 2014 beim HSVgetty
Werbung

2014 war die Zeit von Tomas Rincon in Deutschland beendet. Die venezolanische Kampfmaschine verließ den stark abstiegsgefährdeten Hamburger SV nach erfolgreicher Relegation in Richtung Italien. Nach zweieinhalb Jahren im Mittelfeld der Serie A verkündete im Januar plötzlich Juventus Turin die Verpflichtung des Mittelfeldspielers. Da drängt sich doch die Frage auf: Was will Juve eigentlich mit dem inzwischen 29-Jährigen?

Andrea Pirlo, Paul Pogba, Arturo Vidal und Claudio Marchisio. Als Juventus Turin in der Saison 2014/15 das Champions-League-Finale erreichte, war die Stärke des Teams in keinem der Mannschaftsteile derart konzentriert wie in der Mittelfeldzentrale. Selbst in seiner ruhmreichen Geschichte konnte man beim Klub aus dem Piemont nur selten ein derart überlegenes und spielstarkes Geflecht bei der Arbeit beobachten.

Sami Khedira, Miralem Pjanic, Stefano Sturaro und Claudio Marchisio. Nur zwei Jahre später kann das Mittelfeld des Rekordmeisters schon nicht mehr unter der Kategorie Weltklasse rubriziert werden. Der Abgang Pogbas konnte auch trotz Einnahmen von über 100 Millionen Euro nicht kompensiert werden. Zwar kam mit Pjanic ein technisch hochbegabter Akteur, doch ist er mit den defensiven Aufgaben, die der teuerste Transfer der Fußball-Geschichte neben seiner Brillanz im offensiven Bereich noch zur vollen Zufriedenheit erfüllte, überfordert.

Tomas Rincon spielte von 2009 bis 2014 beim HSVgetty

In Florenz, in Genua und bei beiden Reisen nach Mailand ließ man die gewohnte Leidenschaft auf kämpferischer Ebene vermissen und zum anderen alle Punkte liegen. Ohne diese zwölf Zähler steht die alte Dame zwar auch in dieser Saison an der Tabellenspitze, doch wirkt das Team nur im Juventus Stadium gewohnt selbstbewusst. Der Scudetto scheint nach Jahren der schwarz-weißen Einsamkeit an der Spitze nun auch wieder für die Konkurrenz aus Rom und Neapel in greifbarer Nähe.

Auf der Suche nach einem General

Was Massimiliano Allegri in seinem diesjährigen Konstrukt abgeht, ist die Freude an der Zweikampfführung und der Wille, auch schwierige Spielsituationen durch unangenehme Arbeit und unbändigen Kampfgeist überstehen zu können. Als sich seine Elf Ende November in Genua nach einer halben Stunde bereits mit einem Drei-Tore-Rückstand konfrontiert sah, wurde dem Juve-Coach wohl genau der Spieler präsentiert, der die fehlenden Eigenschaften verkörpert.

Der "General", wie er seit seiner Zeit in Hamburg aufgrund der militärischen Vergangenheit des Vaters genannt wird, und Anführer des Gegners im Marassi war Tomas Rincon. Hierzulande bekannt aus fünfeinhalb Jahren teilweise erfolgreicher, hauptsächlich aber von unglücklichen Momenten geprägter Zeit in der Hansestadt.

128 Spiele absolvierte der Venezolaner für die Rothosen, ohne je einen Torerfolg verbuchen zu können. Von der Europa League bis hin zur Bundesliga-Relegation war er Teil der sportlichen Achterbahnfahrten des HSV und sah mehr Schatten als Licht. SPOX

"Die Raute immer mit Stolz getragen"

Rincon war nicht der Spieler, der für Torgefahr sorgen konnte und auch nicht der Spieler, der Gegenspieler im Eins-gegen-Eins ausspielte. Er war nicht der Spieler, der Traumpässe gespielt hat und auch nicht das Symbol, dem die Jugend nacheiferte. "Ich habe die Raute immer mit Stolz und Respekt getragen", erklärte Rincon im Abschiedsbrief an die Hamburger Fans, bei denen er stets ein gutes Standing genoss.

Dieses Standing ist auf andere Faktoren zurückzuführen. Rincon war es nämlich, der auch bei unzumutbaren Mannschaftsleistungen durch Kampfgeist und Leidenschaft herausstach. Die Fans konnten sich sicher sein, dass er sich in jeden Zweikampf schmeißen und alles aus seinem kompakten Körper herausholen würde.

Es waren auch diese Eigenschaften, die Rincon inzwischen zum Kapitän der venezolanischen Nationalmannschaft machten, mit der er bei der Copa America 2011 den vierten Platz erreichte. Nie war sein Land erfolgreicher. Und Rincon? Er wurde in die Mannschaft des Turniers gewählt.

Aus den Augen, aus dem Sinn

Trotz seines vorbildlichen Charakters, den man beim damaligen HSV nicht unbedingt bei jedem Profi so vorfand, wurde sein Vertrag nicht verlängert und er zog in Richtung Serie A ab. Beim FC Genua verlor sich seine Spur für die meisten deutschen Fußball-Beobachter mehr oder weniger im Nichts.

In der wenig von den Medien beachteten ligurischen Hafenstadt gewöhnte er sich in Ruhe an die Spielweise der Serie A und erweiterte sein Repertoire vor allem im taktischen Bereich. Zu seiner ausgeprägten Lust am Kampf Mann gegen Mann gesellte sich ein immer besseres Stellungsspiel.

Das steigende Spielverständnis für Italiens höchste Spielklasse machte Rincon nach drei Jahren beim Cricket and Athletic Club Genua zum echten Leader, zu einem der konstantesten "Achter" der Liga und auch zur Option für Top-Klubs. Dass es die geborene Kampfmaschine nach 21 gelben Karten in 82 Serie-A-Spielen allerdings gleich zum Serien- und Rekordmeister schaffen würde, war sicherlich nicht zu erwarten.

Vier Monate Bewährungszeit

Eine geborene Kampfmaschine war allerdings genau das, was Allegri kurzfristig als Baustein in seinem Mittelfeld-Konstrukt brauchte, eben einen Spieler, der gerade in kniffligen Spielsituationen mit seiner selbstlosen und schnörkellosen Art neue Impulse geben und eine mentale Wendung einleiten kann. Außerdem sollte der gesuchte Spieler auf der Bank sitzen können, ganz ohne Unruhe zu stiften.

Ob Rincon, der mit seinen 29 Jahren nun nicht mehr zur jungen Garde gehört, mehr als eine kurzfristige Option bei der alten Dame ist, ist zweifelhaft, aber nicht ausgeschlossen. Immerhin hat sich Juventus die Dienste des Mittelfeldarbeiters acht Millionen Euro kosten lassen. Und dann sind da die Konkurrenten: Hernanes, Mario Lemina und Sturaro heißen diese.

Vier Monate hat Rincon nun, um sich gegenüber den Mitstreitern in den Vordergrund zu spielen. Es ist die womöglich größte Chance seiner Karriere. Die Chance, sich bei einem europäischen Top-Klub zu etablieren, nur drei Jahre nach dem unfreiwilligen Ende im Hamburger Chaos. Was wäre das für ein Aufstieg...

Tomas Rincon im Steckbrief