Mit dem Aufnahmegerät in der Unterhose
Zur Erinnerung: Er war der Erste, der Piccolo als möglichen Stalker ausgemacht hatte und derjenige, der konstanten Kontakt zu dem Polizisten pflegte. Vittorio wird von den Fahndern instruiert, einen Termin zu fixieren, unter dem Vorwand, sich über die neuesten Entwicklungen im Fall seines Sohnes zu informieren.
Piccolo beißt an, lädt Vittorio zu sich nach Hause ein. Er, den alle Beteiligten als schüchternen, einfachen Mann beschreiben, dem nichts ferner läge als die Rolle des verdeckten Ermittlers einzunehmen, soll das Gespräch mit einem Diktiergerät aufzeichnen. De Riso zufolge habe Vittorio den Apparat in der Unterhose versteckt. Alles läuft nach Plan, Piccolo merkt nicht, dass jedes Wort von ihm mitgeschnitten wird.
Er versucht, die Quagliarellas gegen De Riso auszuspielen, weist sie an, den Freund der Familie zu meiden. Weil das DDA immerhin gegen diesen ermittele, das könne seinen Sohn ebenfalls in Verbindung mit der Mafia und somit in die Bredouille bringen. "Er sagte: 'Nehme dich vor De Riso in Acht, er ist kein guter Mensch', erinnert sich De Riso. "Stelle sicher, dass Fabio über Giulio Bescheid weiß."
Piccolo sitzt in der Falle
Noch reichen die Indizien nicht aus, um einen richterlichen Durchsuchungsbefehl zu erhalten. Berrino benötigt mehr Belastungsmaterial. Der Polizeichef heckt einen neuen Plan aus, um Piccolo endlich hochgehen zu lassen. "Die Ermittler gaben uns exakte Anleitungen, wie wir weiter verfahren sollten. Im Falle einer erneuten anonymen SMS, sollte ich sie auf der Stelle informieren. Im Anschluss war mein Auftrag, Piccolo auf seinem Handy anzurufen, damit sie ihn orten konnten. Sie fanden heraus, dass sich sein Mobiltelefon direkt bei der Telefonzelle befand, von der die SMS an mich gesendet wurde", gibt De Riso zu Protokoll.
Im November 2010 klingelt Berrino an Piccolos Tür. In der Hand hält er den lang ersehnten Durchsuchungsbefehl. Was die Kriminalisten, die mehrere Computer sicherstellen, finden, sprengt jegliche Vorstellungskraft. Piccolo hatte im Laufe der Jahre nicht nur Barile, De Riso und Quagliarella das Leben zur Hölle gemacht, sondern Menschen aus allen Gesellschaftsschichten mit der gleichen Verfahrensweise gepeinigt. Einen Arzt, einen Restaurantbesitzer, den Inhaber eines Elektrogeschäftes, um nur ein paar Beispiele herauszugreifen.
"Ich war nur die Spitze des Eisberges", sagt Quagliarella. "Mich hat er ausgenutzt, um an Tickets und Trikots zu kommen, hat vor seinen Freunden damit geprahlt, wie einfach es für ihn sei, weil er einen Fußballstar kenne. Einen anderen Mann, der ein Unternehmen auf Capri besitzt, hat er für seine Zwecke missbraucht, um ständig Urlaub dort zu machen, ohne dafür bezahlen zu müssen. Und meinen Kumpel Giulio hat er benutzt, um kostenlos an Handys oder Ladegeräte zu gelangen."
Erst im Februar 2017 ist das Verfahren gegen Piccolo abgeschlossen. Das Gericht spricht eine Freiheitsstrafe von vier Jahren und acht Monaten gegen den Mann aus, der das Leben so vieler Menschen mutmaßlich in einen Dauer-Albtraum verwandelt hatte, genau wusste, dass niemand, der sich den ungeheuerlichen Vorwürfen wie Pädophilie, Drogenmissbrauch oder Mafia-Verbindungen ausgesetzt sah, gerne damit hausieren gehen würde. Aus Scham, aus Angst, von den Menschen an den Pranger gestellt zu werden.
Quagliarella bricht in Tränen aus
Im Anschluss an Piccolos Schuldspruch bricht Quagliarella in einem Interview mit Sky Sport Italia in Tränen aus, darf der Welt schließlich die wahren Beweggründe für seinen Wechsel zu Juventus sieben Jahre zuvor verraten. "Alle urteilen über dich, aber du musst wegen der laufenden Ermittlungen schweigen. Ich bin ja nicht eines Tages aufgewacht und wollte weg aus Neapel", schwört er. "Ich war nach zwölf Jahren endlich wieder daheim, fühlte mich pudelwohl. Es war ein vier, fünf Jahre andauernder Albtraum. Ich konnte abseits des Fußballs nicht mehr unbeschwert leben. Mir und meiner Familie ging es schlecht, wir konnten unser Haus nicht mehr verlassen."
Dass sein mutmaßlicher Stalker nun endlich, zehn Jahre nachdem er Quagliarella erstmals belästigt hatte, hinter Gitter gebracht wurde und die Familie nie mehr behelligen kann, beruhigt den ehemaligen Nationalspieler, der mittlerweile bei Sampdoria unter Vertrag steht. "Es fällt eine riesige Last von meinen Schultern. Wenn sie einem Polizisten vier Jahre und acht Monate geben, bedeutet das schon etwas."
Piccolo auf freiem Fuß - Stand jetzt
Tut es das? Die Wahrheit ist, Piccolo sitzt mitnichten im Gefängnis. Nicht nur das, er arbeitet weiterhin als Polizist, wurde lediglich an eine andere Dienststelle versetzt. Das ergeben Recherchen von Bleacher Report im Zuge der Quagliarella-Story. Die Reporter machen den mutmaßlichen Stalker an seinem neuen Arbeitsplatz in Cava de Tirreni, einem beliebten Küstenort in Kampanien, ausfindig, stellen ihn zur Rede. Er beharrt auf seiner Unschuld, hofft, dass alles bald ans Licht kommt, wie er sagt.
"Sie (die Polizei, Anm. d. Redaktion) haben mir eine andere Position gegeben", ruft er dem Journalisten zu. "Ich erledige nur Papierkram. Sobald der Fall aufgeklärt ist, kann ich endlich in meinen alten Job, in mein altes Leben." Er habe den Menschen immer nur helfen wollen, schwört er weiter.
Dass Piccolo trotz des Schuldspruchs in erster Instanz seiner Arbeit nachgehen kann, hängt mit dem Rechtssystem zusammen. Zweimal hat man die Möglichkeit hat, ein gesprochenes Urteil anzufechten, um seine Unschuld zu beweisen. Heißt: In diesem Falle würde ein Verfahren über maximal drei Instanzen laufen, bis der Schuldspruch de facto vollzogen wird. Nach der Verurteilung im Februar 2017 legte Piccolo Berufung ein, zog vor den Appellationsgerichtshof (italienisch: Corte d'appello, Anm. d. Red.), der das Verdikt erst Anfang des Jahres bestätigte. Dem vermeintlichen Quagliarella-Stalker bleibt nunmehr noch die Chance, die Richter vor dem Corte di Cassazione in Rom, dem höchsten Gericht des Landes, zu überzeugen.
Und Quagliarella? Der steht heute endlich wieder auf der Sonnenseite des Lebens. Im Stadio Diego Armando Maradona wegen seines Wechsels zu den unliebsamen Bianconeri löste seine unglaubliche Geschichte doch gleichermaßen große Betroffenheit und Reue für die einstigen Schmähungen bei einem Großteil der Neapel-Anhänger aus.
"Wir haben ihn so sehr gehasst", sagt ein Camorristi. "Wir haben schlimme Lieder gegen ihn gesungen: 'Du bist ein Haufen Müll, ein Arschloch, Du hast Dich verkauft!' Aber als wir die Wahrheit erfahren haben, war klar, dass wir das begraben müssen. Es ist unsere Pflicht, uns dafür zu entschuldigen. Wir würden uns wünschen, dass er irgendwann zurückkommt. Wir tragen ihn im Herzen."
Und so wurde kurz nach Bekanntwerden des Ganzen eigens für ihn ein Banner der Napoli-Fans präsentiert, das die Aussöhnung schöner nicht hätte skizzieren können: "Du hast die Hölle mit enormer Würde durchlebt. Wir werden dich wieder in die Arme schließen, Fabio, Sohn dieser Stadt."
Balsam für eine geschundene, jahrelang gegeißelte Seele.