Der 4. Mai 1949 war für den FC Turin, und den gesamten italienischen Fußball ein schwarzer Tag. Vor mehr als 70 Jahren starb eine der besten Mannschaften der Serie-A-Geschichte. Es war ein Team, das die Hoffnungen einer vom Krieg und Faschismus gebeutelten Nation schulterte und mit einem Schlag bei der Flugzeug-Katastrophe von Superga ausgelöscht wurde.
Anlässlich des 148. Derby della Mole gegen den großen Rivalen Juventus (Samstag ab 20.45 Uhr live auf DAZN) blickt SPOX auf die größte Mannschaft der Granatroten zurück.
6. Mai 1949: Mehr als eine halbe Millionen Menschen finden sich auf der Piazza Castello vor dem Palazzo Madama im Herzen von Turin ein. Darunter zahlreiche Spieler und Funktionäre aller Serie-A-Mannschaften. Auch aus dem Ausland sind viele prominente Gesichter des Weltfußballs gekommen.
Sie alle wollen Abschied nehmen von einer der größten Mannschaften in der Geschichte des italienischen Fußballs. Einem Symbol der Hoffnung in einem von Faschismus und Weltkrieg gebeutelten Land. 31 Namen werden an diesem Freitag laut vorgelesen. Es sind Namen, die noch heute jeder eingefleischte Fan des FC Turin im Schlaf auswendig aufsagen kann.
Valerio Bacigalupo, Franco Ossola, Guglielmo Gabetto und natürlich der geniale Valentino Mazzola: Sie prägten eine Ära des italienischen Fußballs, Zeitzeugen verglichen ihren Spielstil später mit dem des niederländischen Voetbal total. Eine Ära, die am 4. Mai 1949 um 17.05 Uhr an der Wand des Superga, einem 675 Meter hohen Berg vor den Stadttoren Turins, auf dessen Gipfel eine bekannte Wallfahrtskirche im barocken Stil steht, zerschellte.
Die 31 Todesopfer an Bord der Fiat-G-212
Funktion | Name |
Spieler | Valerio Bacigalupo, Aldo Ballarin, Dino Ballarin, Emile Bongiorni, Eusebio Castigliano, Rubens Fadini, Guglielmo Gabetto, Ruggero Grava, Giuseppe Grezar, Ezio Loik, Virgilio Maroso, Danilo Martelli, Valentino Mazzola, Romeo Menti, Piero Operto, Franco Ossola, Mario Rigamonti, Giulio Schubert |
Funktionäre | Rinaldo Agnisetta, Ippolito Civalleri, Ernest Egri Erbstein, Leslie Lievesley, Ottavio Cortina, Andrea Bonaiuti (Tour-Organisator) |
Crew | Pierluigi Meroni (Kapitän), Cesare Biancardi (2. Pilot), Antonio Pangrazi (Flugingenieur), Celestino D'Inca (Flugingenieur) |
Journalisten | Renato Casalbore (Tuttosport), Luigi Cavallero (La Stampa), Renato Tosatti (Gazzetta del Popolo) |
Il Grande Torino und Präsident Feruccio Novo: Der Architekt
Begonnen hatte diese Ära Ende der 1930er und Anfang der 1940er Jahre. Obwohl sich Europa da schon inmitten des zweiten Weltkriegs befand, war Fußball in Italien noch immer eine Art Fixpunkt in der Gesellschaft. Etwas, woran sich die Menschen in unsicheren und blutigen Zeiten festhielten.
Zu dieser Ansicht kamen auch die Propagandaberater von Diktator Benito Mussolini, die den Machthaber vom großen Wert von Italiens besten Fußballern zur Unterhaltung des Volkes überzeugten. Zwei Jahre vor dem Kriegseintritt Italiens (1940) übernahm Feruccio Novo als frisch gewählter Präsident die Geschicke von Torino.
Dass der Klub da schon nicht mehr wie 1906 bei der Gründung Torino Calcio Football Club hieß, lag an einer 1936 auf Befehl der Faschisten erlassenen Anordnung, derzufolge italienische Klubs italienische Bezeichnungen und Kürzel tragen sollten. Also hieß der FC Torino fortan Associazione Calcio Torino und wurde unter der Leitung von Novo, der sich vom mittelmäßig begabten Jugendspieler zum Geschäftsmann hochgearbeitet hatte, peu a peu zum Maß aller Dinge im italienischen Fußball.
Novo scharte im Klub nach englischem Vorbild engste Freunde aus dem Torino-Umfeld um sich. Diejenigen, von denen er wusste, dass sie den Klub im Herzen tragen. Er baute Torino trotz der widrigen finanziellen Umstände nach dem Weggang von Unterstützer Marone Cinzano auf einem Fundament aus Vertrauen und Loyalität nach seinen Vorstellungen neu auf.
Verdiente ehemalige Spieler wie Antonio Janni und Giacomo Ellena erhielten ebenso tragende Rollen im Verein wie Roberto Copernico, Besitzer eines Bekleidungsgeschäfts im Herzen der Stadt, und Rinaldo Agnisetta, ein Transportunternehmer und guter Freund von Novo. Sportlich installierte der neue Präsident als Trainer den Ungarn Ernest Egri Erbstein, einen ehemaligen Spieler und Diplom-Physiker - und Sportwissenschaftler, der Novo durch seinen Aufstieg mit der AS Lucchese auf sich aufmerksam machte.
FC TorinoErnest Egri Ebstein und Il Grande Torino: Der Revolutionär
Novo und Erbstein, das passte auf Anhieb. Beide gelten noch heute als Fußballfunktionäre, die in puncto fußballerischer Weitsicht ihrer Zeit voraus waren und taktisch wie organisatorisch unter dem Einfluss des großen FC Arsenal der 1930er Jahre standen. Doch einer von ihnen passte nicht ins Bild der damaligen italienischen Gesellschaft.
Erbstein musste nur sechs Monate nach seiner Ankunft bei Torino aus dem Land flüchten, denn mit dem zweiten Weltkrieg begann auch die europaweite Verfolgung und Auslöschung der Juden. Sechs Jahre lang floh Erbstein mit seiner Familie durch Europa vor Krieg, Mord und Totschlag und hielt dabei dennoch Kontakt mit Novo.
"Nach Erbsteins Flucht saßen sechs verschiedene Trainer auf der Bank von Torino: Ignaz Molnar, Andras Kutik, Angelo Mattea, Tony Cargnelli, Antonio Janni und Luigi Ferrero", schrieb der Autor Dominic Bliss einst über die Seelenverwandtschaft zwischen Erbstein und Novo: "Alle trugen ihren Teil zur Entstehung von Grande Torino bei. Doch mit keinem verfügte Novo über eine solche Bindung wie mit Erbstein."
Nach Ende des Krieges kehrte Erbstein zum schon amtierenden Meister von 1945/46 zurück und änderte unter dem Einfluss des erlebten Grauens seinen Umgang mit den Spielern. Während viele seiner Kollegen einen autoritären Führungsstil hatten, pflegte Erbstein eine freundschaftliche, aber durchaus auch strenge Beziehung zu seinen Spielern.
So führte er als einer der ersten seiner Zunft Vorbereitungs- und Ernährungspläne ein, ließ Abwehr und Angriff separat trainieren und die Spieler vor jedem Spiel ein spezifisches Aufwärmprogramm durchlaufen. Wer sich nicht an die Regeln hielt, musste 50 Lira in die Mannschaftskasse bezahlen.
Fußball war für Erbstein nicht bloß Spiel, sondern moralische Verpflichtung. Es ging ihm nicht nur ums Gewinnen, sondern darum, dass seine Mannschaft mit Stil auftrat, sich auf keine Provokationen des Gegners einließ - sprich: sauberen, eleganten Fußball spielte. Unter Erbstein wurde eine bis 1945 sehr gute Mannschaft zu einer Macht im Weltfußball.
gettyWie Torino zur Nummer eins in Italien wurde: Das WM-System
Anders als sein späterer Erfolgstrainer profitierte Novo - so makaber es auch klingen mag - von den Unruhen des Krieges. Sie begünstigten ihn darin, eine kluge Transferstrategie zu fahren. Während rivalisierende Klubbesitzer in Italien von größeren Investitionen in Spieler absahen, sah Novo die Chance, kostengünstig an personellen Stellschrauben in seiner Mannschaft zu drehen.
1941 kam in Romeo Menti und Franco Ossola die später gefürchtete Flügelzange zu Torino. Besonders Ossola galt schon in jungen Jahren als kommender Star. Gleiches galt auch für Guglielmo Gabetto, der gemeinsam mit Felice Borel vom Erzrivalen Juventus kam. Und obwohl jener Borel lediglich ein Jahr bei Torino blieb, ist sein Name aufs Tiefste mit der Geschichte von Grande Torino verwurzelt.
Als Borel im Mai 1939 mit der italienischen Nationalmannschaft in Mailand gegen England antrat, überraschten die Three Lions die Squadra Azzurra mit einer für damalige Verhältnisse revolutionären Formation, dem sogenannten WM-System, das Herbert Chapman mit dem FC Arsenal in den 1930er Jahren so erfolgreich entsonnen hatte.
In dieser 3-2-2-3-Formation bildete die Defensive mit drei Verteidigern und zwei defensiven Mittelfeldspielern ein großes W. Umgekehrt bildeten die zwei offensiven Mittelfeldspieler mit den Flügeln und dem Stoßstürmer ein M. Einerseits versprach das WM-System mit einem zentralen Verteidiger und zwei Außenverteidigern, die die gegnerischen Flügelstürmer decken konnten, mehr defensive Stabilität. Andererseits brachte sie die individuellen Stärken der Offensivspieler besser zur Geltung.
Borel war beeindruckt, galt das klassische 2-5-3 - genannt Metodo - doch schon damals als leicht ausrechenbar. Doch weil nun mal jeder in Italien so spielte, hatte keine Mannschaft dadurch einen Vorteil. Als Borel zu Torino wechselte, erzählte er dem für Innovationen stets offenen Novo von dieser neuen Art, Fußball zu spielen. Nach stundenlangen Diskussionen in der Nacht zum 18. Dezember 1941, die bis in die Morgenstunden angedauert haben sollen, lenkten Novo und Roberto Copernico ein.
Torino wurde Vizemeister hinter der AS Rom und Novo rüttelte nur noch ein einziges Mal an dieser Taktik. Weil Italiens Nationalmannschaft nach wie vor im 2-5-3 spielte (immerhin wurde Italien damit 1934 und 1938 Weltmeister) und die Torino-Spieler eine immer gewichtigere Rolle in der Squadra Azzurra spielten, ließ sich Novo von Nationaltrainer und Ex-Torino-Meistertrainer Vittorio Pozzo ins Gewissen reden und stellte um.
Die ersten zwei Saisonspiele 1942/43 gingen verloren, doch das dritte konnte, durfte und wollte Novo nicht verlieren - schließlich war es das Derby gegen Juve. Gegen den Klub, der den italienischen Fußball eine Dekade zuvor dominiert hatte. Also vertraute er wieder dem WM-System und Torino fegte mit 5:2 über den Stadtrivalen hinweg. Das Derby markierte die endgültige Umkehrung der fußballerischen Machtverhältnisse in Turin.
Valentino Mazzola bei Il Grande Torino: Das letzte Puzzleteil
Doch das 2:5 war nicht die erste herbe Pleite, die Juventus 1942 gegen Torino hinnehmen musste. Schon in der Sommerpause des Jahres hatte Novo dem Stadtrivalen einen historischen Dämpfer verpasst - und das auch noch in der Stunde einer eigentlichen Niederlage. Am 31. Mai reiste Torino in froher Hoffnung auf den ersten Scudetto nach 14 Jahren zum AC Venedig. Die AS Rom war noch in Reichweite und Venedig hatte man schon in der Hinrunde geschlagen.
An diesem Tag aber lief alles anders. Der Meisterschaftsanwärter aus Turin wurde von Venedig hergespielt. Genauer gesagt von Ezio Loik und einem gewissen Valentino Mazzola, denen in der Legendenbildung dieses Spiels aufgrund ihres blinden Verständnisses telepathische Kräfte nachgesagt wurden. Juve wollte beide Spieler haben, ließ sich jedoch in dem Glauben, die einzig interessierte Partei zu sein, Zeit. Novo grätschte dazwischen und handelte mit dem unter Druck geratenen Venedig-Präsidenten Aldo Bennato einen Fabeldeal über 1,2 Millionen Lira plus zwei Torino-Spieler im Tausch aus.
Mit Loik und Mazzola wurde Torino 1943 zum ersten Mal nach 15 Jahren wieder italienischer Meister und besonders Mazzola wurde in den kommenden Jahren bei den Tifosi aufgrund seiner Athletik, seine Leaderfähigkeiten, seiner überragenden Technik und seiner Fähigkeit, die ganz engen Spiele im Alleingang entscheiden zu können, wie ein Gott verehrt.
"Il quarto d'ora granata", zu deutsch: "Die Viertelstunde der Granata", nannten die Toro-Anhänger ein bestimmtes Ritual von Mazzola. Immer dann, wenn es nicht lief und Torino einem Rückstand hinterherlief, krempelte sich der Ausnahmefußballer demonstrativ die Ärmel hoch, Torino drehte auf und den Spieß im Spiel meistens noch um.
imagoValentino Mazzola: Liebling der Fans und der Mitspieler
Die Fans liebten ihren Valentino, weil er trotz seines Standings einer von ihnen geblieben war und die freundschaftliche Nähe der Tifosi suchte. Nach den Spielen ging er mit ein paar Teamkollegen gerne in die Bar Fiorio, um Radio zu hören und sich mit den Fans zu unterhalten.
Vor den Spielen lud er als Mannschaftskapitän regelmäßig die gegnerische Mannschaft zum Essen ins Il Cervo ein. Mazzola war ein Gentleman, ein im Privatleben sehr stiller Mensch, der seinen Sohn Sandro (gilt bis heute als einer der besten Inter-Spieler aller Zeiten) über alles liebte, der aber ohne den Ball als Muße überfordert schien.
Als im Laufe der goldenen Jahre zwischen 1945 und 1949 Gerüchte aufkamen, dass Mazzola Torino verlassen könnte, baten Torino-Spieler Novo darum, ihrem Anführer doppelt so viel zu bezahlen wie ihnen. Dennoch wollte Mazzola am Ende der Saison 1948/49 gehen, weil Inter Mailand ihm ein Angebot gemacht hatte, dass ihm und seiner Familie finanzielle Sicherheit versprach. Zehn Millionen Lira hatte Inter Mazzola angeboten, doch Novo hatte andere Pläne und ließ seinen Superstar nicht ziehen.
Es kam zum Streit und Mazzola warf Novo in einem Brief an den italienischen Sportjournalisten Nino Oppio Egoismus vor. Novo hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass Mazzola seine gesamte Karriere bei Torino verbringen solle und ging dafür sogar auf Konfrontationskurs mit dem beliebten Kapitän. Novos Wunsch sollte sich am 4. Mai 1949 auf tragische Weise erfüllen.
imagoGrande Torino und die Nationalmannschaft: Squadra Granata
Sechs Jahre vor dem Unglück von Superga geriet der Fußball in den Hintergrund. Am gleichen Tag, an dem Torino 1943 durch ein Tor von Mazzola Meister wurde (25. April), landeten die Alliierten Streikräfte in Sizilien. Der Weltkrieg war endgültig in Italien angekommen und der offizielle Ligabetrieb wurde für zwei Jahre unterbrochen.
Gespielt wurde zwar noch, allerdings nur noch auf regionaler Ebene in einem selbst organisierten Turnierformat, das Torino trotz nur zweier Niederlagen in 26 Spielen nie gewann. Nach Kriegsende brach jedoch endgültig die Ära von Grande Torino an.
Erbstein kehrte von seiner Flucht vor den Nazis zurück, Novo verstärkte nochmals die Mannschaft und holte Verteidiger Aldo Ballarin, Mittelfeldmann Mario Rigamonti, Virgilio Maroso, Eusebio Castigliano und Torhüter Valerio Bacigalupo, der bis heute den Beinamen "der Mann mit den Flügeln" trägt.
In den Jahren nach 1945 bestimmte Torino den italienischen Fußball und wurde sowohl sportlich als auch organisatorisch zum Vorbild für alle anderen Klubs in der Serie A. Ein 7:0 über die AS Rom im April 1946 geriet zur Geburtsstunde einer großen Mannschaft. Torino führte bereits nach 19 Minuten mit 6:0 gegen die Roma, die ebenfalls als Titelfavorit galt.
Die Dominanz in der heimischen Liga mit zwei Scudetti in Folge ging nicht spurlos an der italienischen Nationalmannschaft vorbei - zu diesem Zeitpunkt immerhin noch amtierender Weltmeister.
Christian Nowack"Ohne Superga einen WM-Titel weniger auf dem Konto"
Am 11. Mai 1947 beim Freundschaftsspiel gegen Ungarn - ein paar Jahre später das Maß aller Dinge im Weltfußball - standen zehn Torino-Spieler in der Startaufstellung. Die Squadra Azzurra wurde zur Squadra Granata und gewann mit 3:2 durch einen Treffer von Mazzola in der letzten Minute.
"Ohne Superga hätten Uruguay und Deutschland heute einen WM-Titel weniger auf dem Konto", so die gängige Annahme unter den Tifosi, die Oreste Comiglio, ein Toro-Edelfan der ersten Stunde, vor Jahren gegenüber dem Spiegel äußerte. Nach dem tragischen Tod eines Großteils der ersten Elf schied Italien bei Uruguays WM-Triumph 1950 in der Vorrunde aus.
Vier Jahre später ging eine deutsche Mannschaft in die Geschichte ein, die als Außenseiter den Titel holte und einer vom Weltkrieg schwer gebeutelten Nation neues Leben einhauchte. Die Hoffnung Italiens auf ein ebensolches Ereignis starb am 4. Mai 1949 in einer Propellermaschine vom Typ Fiat G-212.
Torinos Trip nach Brasilien: Vorboten einer Katastrophe
Bis dahin hatte sich Torino längst den Ruf als absolute Heimmacht erarbeitet. Sechs Jahre lang verlor der Klub kein einziges Spiel im legendären Filadelfia-Stadion, das 1998 aufgrund seines maroden Zustands abgerissen wurde, und wurde nach Kriegsende viermal hintereinander Meister.
Der Erfolg in Italien und besonders die Rekordsaison von 1947/48, als Torino mit 16 Punkten Vorsprung und 125 geschossenen Toren erneut Meister wurde, machte die Mannschaft weltberühmt. Zahlreiche Teams wollten sich mit dem Serienmeister messen und so kam es, dass Torino als eine der ersten Mannschaften zu Freundschaftsspielen nach Brasilien reiste.
Der Hin- und Rückflug wurde für Mazzola und Co. durch schwere Turbulenzen und dem erbärmlichen Zustand der Maschinen zur Tortur. Nach ihrer Rückkehr in Turin wurde bekannt, dass einen Tag zuvor eine Maschine aus Sao Paolo mit 71 Menschen an Bord in den Atlantik gestürzt war. Daraufhin schworen sich einige Spieler, nie wieder fliegen zu wollen.
Nur ein Jahr später brachen sie diesen Schwur für ein von Mazzola vereinbartes und von Novo erst später aufgrund des fast sicheren fünften Scudetto abgesegnetes Freundschaftsspiel in Lissabon.
Benfica-Legende Francisco Ferreira hatte während eines Länderspiels zwischen Italien und Portugal bei seinem guten Freund Mazzola für das Spiel angefragt, um einen großen Gegner für das letzte Spiel seiner Karriere zu haben. Eigentlich sollte das der FC Bologna sein, der zwischen 1936 und 1941 viermal italienischer Meister wurde. Doch Ferreiras Freundschaft zu Mazzola und seine Verehrung für Il Grande Torino änderten die Pläne für das Abschiedsspiel, das zum letzten Auftritt einer großen Mannschaft wurde.
Der Kaffee, der nie getrunken wurde
Vor 40.000 frenetischen Zuschauern verlor Grande Torino mit 3:4, doch das Ergebnis war angesichts des unterhaltsamen Spiels und der brillanten Stimmung reine Nebensache. Mazzola, Bagicalupo und Co. verließen Lissabon am Morgen des 4. Mai nach einer rauschenden Abschiedsfeier für Ferreira in voller Vorfreude auf das Wiedersehen mit Familien und Freunden - und dem fünften Scudetto in Folge.
Am Nachmittag hingen schwere Wolken über Turin und heftiger Regen setzte ein. Vittore Catella, in den 1960er Jahren Präsident von Juventus Turin und zuvor Testpilot im zweiten Weltkrieg, hatte soeben zur Landung auf dem Aeritalia Flugfeld in Turin angesetzt und anschließend zwei Kaffee bestellt.
Einen für ihn selbst und einen für seinen Freund Pierluigi Meroni. Den hatte er noch während seines Testflugs mit einer G46 via Funk bezüglich eines gemeinsamen Kaffees kontaktiert - wohlwissend, dass Kapitän Meroni wenig später ebenfalls in Turin landen würde, mit der Mannschaft von Grande Torino an Bord. Meroni hatte Catella erzählt, dass er soeben den Appenin "bei bester Sicht" passiert habe.
Auch um 17.02 Uhr sagte Meroni in einem Funkspruch den aufgrund der Wetterbedingungen besorgten Flughafenmitarbeitern, dass alles in Ordnung sei und er den Landeanflug auf Turin einleite. Auf die darauffolgenden Wetterwarnungen antwortete Meroni nicht mehr. Um 17.05 Uhr zerschellte die G212 an einer Felswand des Superga gleich hinter der Wallfahrtskirche, die auf dem Gipfel des Berges steht.
imagoMazzola schaute gen Himmel: "Alles endete mit Superga"
Alle 31 Passagiere starben beim Aufprall: 23 Spieler und Funktionäre von Grande Torino, ein Tour-Organisator, drei Sportjournalisten, darunter der Gründer der Tuttosport Renato Casalbore und die vier Crewmitglieder um Kapitän Meroni.
Präsident Novo, der aufgrund einer Operation die Reise nach Lissabon nicht hatte antreten können, und Spieler Sauro Toma, der wegen einer Knieverletzung ebenfalls in Turin geblieben war, trafen als eine der ersten Klubrepräsentanten am Unglücksort ein.
Toma konnte noch seinen Kapitän Mazzola identifizieren, dessen Gesicht als eines der wenigen noch zu erkennen war und gen Himmel schaute, ehe er weinend zusammenbrach und Gott anflehte, ihn aus diesem Albtraum aufzuwecken. Später sagte Toma, dass seine Jugend unter dem Wrack begraben worden sei: "Alles endete mit Superga."
Einen Großteil der schaurigen Bürde, die Spieler zu identifizieren, musste Italiens Nationaltrainer Vittorio Pozzo schultern. Die meisten der Toten waren nur anhand persönlicher Besitztümer, die sie bei sich trugen, identifizierbar. Mario Rigamonti beispielsweise, der anhand des Rings an seinem Finger erkannt wurde. Oder Aldo Ballarin, dessen Pass noch in der Jackentasche steckte. Oder Torhüter Bacigalupo, der ein Foto von Sentimenti IV, seinem Konkurrenten in der Nationalmannschaft, in der Brieftasche bei sich hatte.
imagoEine Katastrophe braucht ihren Schuldigen
Bereits kurz nach dem Unglück mutmaßte der erfahrene Flieger Catella, dass ein Pilotenfehler zum Unglück geführt haben musste. Ganz aufgeklärt wurde der Absturz nie, da das Flugzeug keine Black Box besaß. Die gängigste Variante ist, dass Kapitän Meroni aufgrund der schlechten Wetterlage und des aufkommenden Nebels die Höhe des Flugzeugs und die Lage seines anvisierten Fixpunktes - die Kirche auf dem Gipfel des Hügels - falsch einschätzte und deshalb kollidierte.
Warum Meroni trotz des schlechten Wetters und der Warnungen unbedingt in Turin landen wollte und nicht auf den Malpensa-Flughafen in Mailand auswich, war für viele die entscheidendere Frage. Eine mögliche Erklärung ist, dass Meroni das Gelände rund um das Militärflugfeld Aeritalia genau kannte und am gleichen Tag mehrere Flugzeuge problemlos gelandet waren.
Die Frage lieferte dennoch Nährboden für teils hanebüchende Gerüchte. So gab es beispielsweise Spekulationen um Vittorio Pozzo und eine illegale Fracht an Bord der G-212, die nur in Turin aufgrund fehlender Sicherheitschecks unbemerkt hätte entladen werden können.
Der Selbstmord eines in Turin bekannten Cafebesitzers wurde unmittelbar mit diesen Spekulationen und der Superga-Katastrophe in Verbindung gebracht. Pozzo äußerte sich Zeit seines Lebens nicht dazu, die Ermittlungsbehörden dementierten, wo es nur ging und beteuerten, dass eine solche Fracht in den Trümmern nie gefunden wurde.
Der Name des Unglückspiloten, Pierluigi Meroni, sollte auch nach Superga noch eine gewichtige Rolle in der Geschichte von Torino spielen. Denn in den 1960ern sorgte erneut ein gewisser Luigi "Gigi" Meroni für Schlagzeilen in der piemontesischen Hauptstadt.
"La Farfalla Granata", der granatrote Schmetterling, wie Meroni in Anlehnung an seine fußballerische Eleganz von den Toro-Fans genannt wurde, galt als eines der vielversprechendsten Talente im italienischen Fußball und wurde oft mit George Best verglichen. Wenige Tage vor einem Derby gegen Juventus im Oktober 1967 wurde Meroni jedoch beim Überqueren einer Straße überfahren und verstarb.
Der Unfallfahrer, in seiner Tragik kaum zu überbieten, war glühender Fan Meronis, kleidete sich wie er und trug die gleiche Frisur. Später wurde der damals 19-jährige Attilio Romero gar Präsident Torinos - und führte den Klub in die Pleite.
imagoDer letzte Marsch von Il Grande Torino
Als um 20 Uhr am Abend des Unglücks die Radionachrichten das italienische Volk über den Tod der Meister- und Nationalmannschaft informierten, stand ein ganzes Land unter Schock. In den Trümmern der G-212 war an diesem Tag im Mai nicht nur ein Großteil des damaligen italienischen Fußballs und eine großartige Mannschaft gestorben, sondern auch der von ihr verbreitete neue Optimismus einer Gesellschaft nach den Schrecken des zweiten Weltkriegs.
Auf dem Weg zu ihrer letzten Ruhestätte begleiteten 500.000 Menschen die Spieler in einer Prozession durch Turin. Zweimal wurde auf dem letzten Marsch von Il Grande Torino andächtig Halt gemacht: Das erste Mal in der Via Roma vor der Bar Vittorio, die Gabetto und Ossola gemeinsam betrieben hatten. Das zweite Mal vor dem Torino-Hauptsitz in der Via Alfieri.
Die Saison 1948/49 spielte Torino mit der Jugendmannschaft zu Ende - und gewann alle vier ausstehenden Spiele. Genoa, Sampdoria, Florenz und Palermo boten in den Begegnungen ebenfalls ihre Jugendmannschaften auf. Der fünfte Scudetto in Folge aber konnte das tiefe Loch im Herzen des Torino Football Club, das der Tod seiner größten Mannschaft gerissen hatte, nicht füllen.
Nichts konnte das. Weder der Meistertitel 1975/76, noch der Gewinn der Coppa Italia 1993. Denn anders als Manchester United nach dem Flugzeugabsturz von München im Februar 1958 erholte sich der Klub bis heute nicht von der Katastrophe von Superga.
imagoTorino und die Geburt einer Fahrstuhlmannschaft
Während die Red Devils zehn Jahre nach dem Verlust der Busby Babes den Europapokal holten und immer noch eine Macht im europäischen Fußball sind, wurde aus Torino im Laufe der Zeit eine finanziell schwer angeschlagene Fahrstuhlmannschaft zwischen Serie A und Serie B. 2005 folgte der Lizenzentzug und bald darauf die Insolvenz.
Der Schuldenberg wurde einfach zu hoch, aber dennoch schaffte der neugegründete Klub den Aufstieg. Erst seit der Saison 2012/13 hat sich der FC Turin aber wieder in Italiens Oberhaus etabliert, spielte sogar in der Saison 2014/15 erstmals seit 1993 wieder international und stieß bis ins Achtelfinale vor. Von den Triumphen des Erzrivalen Juventus sind die Granatroten jedoch Lichtjahre entfernt.
Auf einen Sieg gegen Juve warten die Torino-Anhänger seit fünf Jahren. Nicht nur deshalb hatte das bis dator letzte Derby della Mole im Mai diesen Jahres einen besonderen Stellenwert. 24 Stunden vor dem 70. Jahrestag und den Gedenkfeierlichkeiten an der Basilica di Superga, bei der die gesamte Mannschaft anwesend war und Kapitän Andrea Belotti traditionell die Namen der Opfer verlas, schenkte das Team den Helden von einst immerhin einen Punktgewinn gegen Juventus. Jenen Helden, deren Namen noch heute jeder Torino-Fan kennt.
"In den Augen derer, die an sie glauben, bleiben Helden für immer unsterblich. Für die Kinder ist Grande Torino an diesem Tag nicht gestorben. Sie sind nur zu einem Auswärtsspiel gefahren", schrieb der italienische Journalist und Schriftsteller Indro Montanelli.