Ein Blitz nach dem anderen schießt aus den Zuschauerrängen in Yokohama hervor, die Fans in Japan knipsen auch in der 67. Minute noch im Sekundentakt. Wer jetzt die Kamera draufhält, fängt ein Stück Fußballgeschichte ein.
Es ist Dietmar Hamann, der vor dem eigenen Strafraum gegen Ronaldo den Ball verstolpert und damit den Anfang vom Ende einleitet: Ronaldo legt ab, Rivaldo hält drauf, Kahn lässt prallen - der Rest ist bekannt.
Der Mann, dessen Dreiecksfrisur ebenso legendär war wie sein Torriecher, besorgte wenig später noch das 2:0 und besiegelte damit Brasiliens WM-Sieg 2002 im Finale gegen Deutschland. Und ganz nebenbei prägte sich sein Doppelpack für immer in den Kopf eines damals 14-jährigen Fußballfanatikers ein, der seiner Zeit bereits in der Jugend von Osasuna kickte.
"Die beiden Tore von Ronaldo gegen Kahn", erzählt Javi Martinez heute, waren das erste WM-Ereignis, an das er sich erinnern kann. Das ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass er nur vier Jahre später beim Erstligisten Athletic Bilbao als zweitteuerster Neuzugang der Vereinsgeschichte unterschrieb.
Martinez verzaubert alle
Für sechs Millionen Euro sicherten sich die Basken 2006 die Dienste des damals jüngsten Zweitligaspielers aller Zeiten, dessen Werdegang bei Osasuna schon über Jahre verfolgt wurde. Dort hatte er alle in seinen Bann gezogen. Einerseits mit seinen faszinierenden Kartentricks, die er jederzeit gerne vorführte, andererseits mit seiner Spielweise.
"Ich habe Patrick Vieira in der Mannschaft", frohlockte sein Jugendcoach Jose Angel Ziganda, nachdem er Martinez zum ersten Mal gesehen hatte. Angesichts seiner körperlichen Spezifikationen eine naheliegende Parallele. Doch auch den sportlichen Vergleich muss Martinez nicht scheuen, zumal der Spanier sogar früher als Vieira den Durchbruch schaffte.
Wie einst Xavi und Raul
Schon in seiner Debütsaison bei Athletic gelang dem 1.90-Meter-Hühnen umgehend der Sprung in die Startelf - aus denkbar einfachen Gründen: "Mit 17 Jahren habe ich zum ersten Mal in der Primera Division gespielt und ich habe mich etabliert, weil ich im Training immer Vollgas gegeben habe", sagt Martinez rückblickend.
Dabei konnte Bilbao 2007 nur knapp die sportliche Katastrophe abwenden. Doch nach dem Klassenerhalt ging es stetig bergauf - mit dem Erreichen des Europa-League-Endspiels 2012 als vorläufigem Höhepunkt.
BLOGWer ist dieser Javi Martinez?
Auch Martinez' Entwicklung schritt weiter voran, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit wuchs. So wurde dem Spanier 2010 der "Premio Don Balon" für den besten Nachwuchsspieler verliehen, den bereits Legenden wie Raul (1995) oder Xavi (1999) erhalten hatten.
Und nicht erst seit dieser Auszeichnung standen Europas Top-Klubs Schlange, um Martinez einen Wechsel schmackhaft zu machen.
Mou: "Ich habe die Kohle schon bereit"
Ganz vorne reihte sich Real Madrid ein, das sich im Mai 2010 bereits auf die Übernahme durch Jose Mourinho vorbereitete. So sollte Martinez für die vakante Position im defensiven Mittelfeld neben Xabi Alonso verpflichtet werden, 30 Millionen Euro wurden als Ablöse gehandelt. Doch ein Wechsel kam nie zustande - und neben Alonso zieht heute Sami Khedira seine Kreise.
Ungeachtet dessen flackerte das königliche Interesse unlängst wieder auf, nachdem auch die internationale Konkurrenz ihr Werben um den 23-Jährigen intensiviert hatte und auch der FC Bayern München plötzlich als Abnehmer gehandelt worden war.
So soll Mourinho laut "Voz Populi" nach Madrids Gastauftritt in Bilbao Anfang Mai Martinez angesprochen haben: "Willst du zu uns kommen?", fragte Mou. "Wieviel bist du wert? 40 Millionen? Ich habe die Kohle schon bereit. Du musst nur noch Ja sagen." Blöd nur, dass just in diesem Moment Josu Urrutia, seines Zeichens Athletic-Präsident, die Szenerie betrat und Martinez sich mit dem scheuen Verweis "Das müssen sie ihn fragen" aus dem Staub machte.
Mourinho sparte sich die Frage, wohl im Wissen, dass die Antwort von Urrutia im Fall Martinez stets die gleiche ist: "Wir sind kein Verkaufsverein", wiederholte er erst kürzlich. Selbst wenn ein Spieler Wechselabsichten hegt, müsse erst einmal ein Verein "die im Vertrag festgesetzte Ablöse bezahlen". Und diese steht seit Martinez' jüngster Vertragsverlängerung im Mai bei stolzen 40 Millionen Euro.
Von Vieira gelernt
Doch was macht Martinez eigentlich dermaßen wertvoll? In erster Linie ist es wohl die außergewöhnliche Mischung, die Martinez in einem sportlich höchst attraktiven Gesamtpaket vereint.
Einerseits ist er dank seiner Kopfballstärke und dem robusten Zweikampfverhalten ein Innenverteidiger der alten Schule mit großen Abräumerqualitäten. Doch fast schon widersprüchlich zur Körpergröße ist Martinez unerwartet flink und wendig, dazu verfügt er über eine hervorragende Ballbehandlung. Sein intelligentes Aufbauspiel rundet die Symbiose unterschiedlichster Spielertypen ab.
All dies hat Martinez stets versucht von seinem großen Idol zu adaptieren: Patrick Vieira. "Ich habe Vieira immer bewundert", schwärmt der 23-Jährige. "Er hat alles gemacht: Er hat attackiert, verteidigt, Bälle erobert, Bälle verteilt, den Abschluss gesucht. Er war ein kompletter Spieler."
Doch Martinez' enorme Vielseitigkeit ist nicht nur eine gelungene Imitation prominenter Vorgänger. Bis ihn Marcelo Bielsa zu Beginn dieser Saison endgültig zum Innenverteidiger ernannte, hatte er besonders in der Jugend die unterschiedlichsten Positionen besetzt: "Ich habe früher oft im rechten Mittelfeld gespielt. Später wurde ich auch mal als Außenstürmer oder im offensiven Mittelfeld eingesetzt. Ich habe von allem etwas gemacht und mich dabei immer wohl gefühlt", erzählt Martinez.
Allroundkünstler und Kartensammler
Heute ist seine Variabilität ein großes Plus - zumindest auf den ersten Blick. Doch sie wird nicht ausschließlich positiv gesehen. Schon Spaniens Nationalcoach Vicente del Bosque bemängelte: "Er muss sich selbst definieren." Welches Schicksal einem Allroundtalent ohne eindeutige Paradeposition in der Furia Roja drohen kann, zeigt allein die Situation eines Cesc Fabregas.
Der 25-Jährige absolvierte trotz seiner unbestrittenen fußballerischen Qualität in den letzten drei Jahren nur ein einziges Spiel in der Nationalelf über die volle Distanz - weil sich die Konkurrenz im Laufe der Zeit auf fixen Positionen etabliert hatte. So zu sehen bei der EURO: Während im Mittelfeld alle Plätze fest an die immer gleichen Spieler vergeben waren, musste sich Fabgregas als "falsche Neun" mit Mittelstürmer Fernando Torres abwechseln.
Doch die Vielseitigkeit ist nicht das einzige Merkmal, das Martinez in entscheidenden Situationen zum Nachteil gereichen könnte. Auch seine Kämpfermentalität ist nicht immer hilfreich. Martinez ist ein Leader - mit allen dazugehörigen Schattenseiten.
Durch seine impulsive und resolute Art lernt er Schiedsrichter besonders schnell kennen und sammelt entsprechend viele Karten. In seiner Zeit bei Athletic kassierte er bereits fünf Platzverweise und 70 Verwarnungen. Die Bezeichnung "Aggressive Leader" findet bei Martinez ihre wörtliche Bedeutung wieder.
Bayerns teuerster Neuzugang aller Zeiten?
Der letzte Aggressive Leader des FC Bayern, der eine ähnliche Kartenquote aufweisen konnte, war zweifelsohne Mark van Bommel. Damit Martinez in dessen Fußstapfen treten kann, muss der FCB allerdings erst einmal 40 Millionen locker machen.
Ihm selbst ist seine beträchtliche Ausstiegsklausel höchst unangenehm: "Ich bin nie im Leben 40 Millionen Euro wert. Kein Fußballer ist so viel Geld wert, erst recht nicht ich", sagt Martinez in aller Bescheidenheit.
Dennoch deutete sich zuletzt an, dass Bayern im Notfall sogar bereit wäre, den vollen Betrag an die Basken zu überweisen. Damit würde Martinez abermals ein Stück Vereinsgeschichte schreiben.
So wie er einst in Bilbao als zweitteuerster Neuzugang aller Zeiten verpflichtet wurde, wäre er Bayerns teuerster Transfer der Vereinsgeschichte. Und als solcher könnte er sich eines Yokohama-ähnlichen Blitzlichtgewitters sicher sein.
Die Vereinkarriere von Javi Martinez