Emanzipation der Aufmüpfigen

Mario Mandzuic wechselte vom FC Bayern zu Atletico Madrid
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Atletico Madrid drohte nach dem Champions-League-Finale der Ausverkauf. Einige Stars verließen den Meister, doch der große Aderlass blieb aus. Stattdessen investierte man wie lange nicht und erwartet weitere Topstars. Der Präsident spuckt große Töne und spricht von zwei Titeln. Aktuell werden die Grundlagen geschaffen, dass die Ausnahme zur Gewohnheit wird.

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Sie kennen die Geschichte am Rio Manzanares nur zu gut. Die Geschichte von den übermächtigen Vereinen, die mit den scheinbar unerschöpflichen finanziellen Mitteln, den kleinen Klubs die Spieler wegkaufen. Eine Story, die sich bei Atletico mit unterschiedlichen Hauptdarstellern in aller Regelmäßigkeit wiederholt. Mit Fernando Torres. Mit Diego Forlan. Mit Sergio Aguero. Mit Falcao. Und zuletzt mit Diego Costa.

Während bei den meisten europäischen Klubs ein Aufschrei durch das Fanlager gehen würde, lässt der Aufstand im Süden Madrids jährlich mit jedem weiteren Abgang ab. Den Abschied ihres Topstürmers in diesem Sommer nahmen die Anhänger der Rojiblancos schon fast mit einem Achselzucken hin. So ist das System nun mal. Dort die übermächtigen Vereine um Real und Chelsea, hier das kleine Atletico.

Die Fans sehen sich im Schatten von Real gerne in dieser Opferrolle, doch intern hat die erste Meisterschaft nach 18 Jahren dem Verein mächtig Rückenwind gegeben. Die ganz persönliche "Decima" mit der zehnten Meisterschaft der Klubhistorie und das Erreichen des CL-Finales war nicht nur sportlich die Belohnung jahrelanger Arbeit, sondern hob den Verein in der nationalen und internationalen Wahrnehmung auf ein anderes Level.

Plötzlich berichten die bekanntesten spanischen Sportzeitungen "Marca" und "AS", die Atletico über Jahre hinweg stiefmütterlich behandelten, mit neuer Tiefe und größerem Umfang von den Rojiblancos. Die Gerüchte um potenzielle Neuzugänge verdrängten nicht selten die Geschichten rum um Real von der Titelseite.

Geldsegen durch die Champions League

Finanziell war die zurückliegende Saison ein Segen für Atletico. Noch vor 2011 war die Finanzwirtschaft des Klubs geprägt von zahlreichen dubiosen Geschäften und Steuerhinterziehung. Auch wenn dies offiziell nie bestätigt wurde, sprach man hinter vorgehaltener Hand immer wieder von Verbindlichkeiten in Höhe von einer halben Milliarde Euro. Auch von Verstrickungen mit dem Staat, der dem Klub trotz der Misswirtschaft zum Ärgernis zahlreicher anderer Vereine Sonderkonditionen beim Abzahlen der Steuerschuld gewährte, ist die Rede.

Durch die Champions League sind Einnahmen in Höhe von rund 50 Millionen Euro in die Kassen gewandert, mit denen vorher niemand rechnen konnte und die in dieser Höhe nicht eingeplant waren. Erstmals seit Jahren scheint der Verein finanziell zumindest auf dem Weg der Besserung, wohlwissend, dass man ähnlich wie die meisten anderen Klubs in La Liga weit weg von einer soliden finanziellen Basis ist.

Präsident Cerezo selbstbewusst

Mit dieser zumindest ordentlichen Lage im Rücken und mit dem Selbstverständnis eines spanischen Meisters, absolvierte Atletico-Präsident Enrique Cerezo seine Auftritte in der Öffentlichkeit. Während die meisten Spieler bei jeder Gelegenheit die Einzigartigkeit des Meistertitels in der letzten Saison unterstrichen, präsentierte der Klubchef bei einer öffentlichen Fragerunde das neue Selbstverständnis der Rojiblancos.

"Wir wollen in der nächsten Saison zwei Titel holen", sagte Cerezo. Auch die zahlreichen Abgänge lächelte er weg: "Keine Angst. Wir werden im nächsten Jahr ein noch besseres Team haben wie in der letzten Saison. Wenn jemand daran zweifelt, ist er kein Atletico-Fan."

Umbruch light

Zumindest bei genauerer Betrachtung scheinen die Aussagen des Präsidenten keine hohlen Phrasen zu sein. Noch nach dem verlorenen Finale war vom totalen Ausverkauf des Teams die Rede, zahlreiche Horrorszenarien wurden ausgemalt. Dieser Zerfall des Teams blieb bislang größtenteils aus.

Zahlreiche Stützen des Teams schworen dem Verein sogar die Treue. "Es war nicht die richtige Zeit für einen Wechsel. Dies ist mein zu Hause und der Klub musste mich nicht verkaufen. Warum sollte ich Atletico während der besten Zeit verlassen?", sagte Koke, der unter anderem ein Angebot vom FC Barcelona ausschlug.

Dass man Diego Costa mit seiner Torquote nicht halten konnte und der Leihvertrag mit Thibaut Cortouis nicht verlängert wird, war abzusehen. Mit Jose Ernesto Sosa, Diego und Adrian verließen zwar weitere namhafte Spieler den Klub, diese spielten in der letzten Saison jedoch keine tragende Rolle im Team.

Atletico kauft munter ein

Lediglich Felipe Luis und David Villa hinterlassen bislang unerwartete Lücken im Team. Doch anders als in den letzten Jahren konnte Coach Diego Simeone in dieser Saison erstmals mächtig Geld in die Hand nehmen, um sein Team nach den Abgängen wieder zusammenzuflicken. Eine neue Situation für den Trainer, der das Team im Winter 2011 übernahm und auf große Einkäufe bislang verzichten musste.

In diesem Sommer wurden dagegen die kompletten 80 Millionen Euro, die der Verein durch die Abgänge eingenommen hat, wieder ausgegeben. Antoine Griezmann und Mario Mandzukic sollen im Angriff die Löcher von Costa und Villa stopfen, Guilherme Siqueira soll das neue linke Bauteil der zuletzt stabilsten Viererkette Spaniens werden. Jan Oblak und Miguel Angel Moya streiten sich um die Nachfolge von Keeper Courtois.

Ein weiterer Topstar soll kommen

Für alle Abgänge wurden ordentliche Alternativen gefunden, der große spielerische Verlust blieb auf dem Papier zumindest aus. Zudem sind zwei bis drei weitere Transfers, die sich ebenfalls im zweistelligen Millionenbereich abspielen werden, von Vereinsseite bereits angekündigt. Hochkarätige Namen wie Javier Hernandez, Santi Cazorla und Ezequiel Lavezzi sind im Gespräch.

Nach Jahren des Hinterherhinkens ist mit der Meisterschaft zumindest punktuell der Anschluss zu Real und Barca gelungen. Es scheint, als wolle sich Atletico die Chance, weiter im Konzert der Großen mitspielen zu können, mit aller Gewalt erhalten. Die Kosten sind erstmal zweitrangig.

"Wir haben durch unsere Neuzugänge Optionen, die wir in der letzten Saison nicht hatten. Uns haben sowohl physisch als auch gedanklich schnelle Spieler verlassen. Das haben wir vor dem Hintergrund unserer finanziellen Rahmenbedingungen versucht, zu kompensieren", sagte Simeone.

"Wir haben die Strukturen"

Auch für den Argentinier wird sich einiges ändern. Seit dem Winter 2011 arbeitete Simeone nahezu durchgehend mit demselben Personal und musste meist nur einzelne Spieler ersetzen. Nicht wenige sagen, dass das Geheimnis des Erfolges von Atletico genau darin lag, dass das Team über mehrere Jahre hinweg gewachsen war und das Kollektiv stets über den Einzelinteressen der Spieler stand.

Auch aktuell weist Simeone gebetsmühlenartig auf die immense Bedeutung des Teamspirits hin: "Wir haben hier die gleichen Strukturen, die wir in den letzten drei Jahren hatten. Wir müssen in der Vorbereitung mit dem großen Potenzial, das uns zur Verfügung steht, in erster Linie ein Team formen und den neuen Spielern unsere Idee vom Fußball beibringen."

Simeone ist klar, dass ihn eine Mammutaufgabe erwartet. Wenn sie am Rio Manzanares in der nächsten Sommerpause aber wieder den Spieler nachweinen, weiß er auch, dass er seine Aufgabe nicht schlecht gemacht hat.

Atletico Madrid im Steckbrief