Andoni Zubizarreta dürfte zumindest etwas mulmig geworden sein, als er die Schulter von Giorgio Chiellini sah. Gerade hatte Luis Suarez wieder zugebissen. Ausgerechnet der Stürmer, der vor der WM noch großspurig angekündigt hatte, das Bad-Boy-Image ablegen und zum Musterprofi werden zu wollen.
Der Uruguayer sollte Zubizarretas Geschenk für Neu-Coach Luis Enrique sein, der Sommer-Transfer schlechthin, der den FC Barcelona nach einer titellosen Spielzeit zu neuem Glanz verhelfen sollte.
Die Bilder von Chiellinis Schulter gingen um die Welt, die Schmierenkomödie danach ließ Suarez endgültig zum personifizierten Hassobjekt der Fußball-Welt werden. Dabei war er es, der noch fünf Tage zuvor mit zwei Toren gegen England seine triumphale Rückkehr auf den Rasen feierte und von Emotionen überwältigt von seinen Teamkollegen nach dem Abpfiff gestützt werden musste.
Seine Sperre löste in Uruguay eine Welle des Entsetzens aus, nach dem Aus gegen Kolumbien schrieb die Landeszeitung "El Pais": "Uruguay spielte gegen ein großes Team und gegen die Fifa."
Tore vs. Skandale
Wie passt also ein Spieler, der Skandalnudeln wie Joey Barton wie niedliche Schuljungen aussehen lässt, in das Konzept des Saubermann-Klubs FC Barcelona, wo mit Lionel Messi und Andres Iniesta zwei der wohl introvertiertesten Stars der heutigen Zeit spielen?
Wie kann ein Klub freiwillig einen Spieler aufnehmen, der bereits drei Spieler gebissen und mit einem Handspiel bei der WM 2010 den Begriff Fair Play mit Füßen getreten hat? Die einfache Antwort: Weil er auf dem Rasen Klasse hat.
Suarez erzielte in der vergangenen Saison 31 Tore in 33 Spielen, genauso viele wie Cristiano Ronaldo und drei mehr als sein zukünftiger Teamkollege Messi.
Er ist Englands amtierender Fußballer des Jahres und holte gemeinsam mit CR7 den goldenen Schuh für Europas besten Torschützen. Und für die Fans der Azulgrana vielleicht am wichtigsten: Er passt ins System von Luis Enrique.
Abkehr vom Tiki-Taka
Der neue Barca-Coach wollte schließlich einen richtigen Neuner, einen klassischen Strafraumstürmer. Mit dem Ex-Liverpooler bekommt er genau so einen Spielertyp, vielleicht sogar den momentan besten der Welt. Andoni Zubizarreta ist von seinem neuen Schützling überzeugt und hofft, dass seine Versprechen, sich zu bessern, diesmal nicht nur leere Worthülsen sind.
Der Uruguayer soll zur Symbolfigur des neuen Barca werden. Weg vom traditionellen Tiki-Taka, das einst Stars wie David Villa, Zlatan Ibrahimovic und Samuel Eto'o vergraulte. Schön spielen wollen sie in Barcelona schon, aber Tore sollen dabei nun mal auch herausspringen.
Der 44-jährige Enrique bevorzugte in der vergangenen Saison meist ein 4-3-3 oder ein 4-2-3-1. Mit Linksaußen Nolito verfügte er bei Celta Viga über einen torgefährlichen Akteur, der insgesamt 14 Treffer erzielte. Schon beim Amtsantritt machte der ehemalige Barca-Spieler deutlich, dass er vor allem in der Offensive neue Wege gehen möchte.
Durch den Abgang von Alexis Sanchez zum FC Arsenal opfern die Katalanen quasi einen weiteren Kreativspieler in der Offensive zugunsten von Suarez. Denkbar ist, dass Enrique im 4-2-3-1 auf eine Doppel-Sechs um Sergio Busquets und einen offensiv ausgerichteten Iniesta setzt, Neymar und Pedro die Außenbahnen besetzen, während Messi als Spielmacher agieren könnte und die Geschicke der Offensive leiten würde.
BBC 2.0
Eine andere Möglichkeit wäre ein 4-3-3, in dem Suarez, flankiert von Neymar und Messi, stürmt. Solch eine Offensivreihe dürfte ähnlich für Furore sorgen, wie es ausgerechnet das als BBC berühmt gewordene Trio Gareth Bale, Cristiano Ronaldo und Karim Benzema von Erzfeind Real Madrid im vergangenen Jahr getan hat.
Mit der Rückkehr zum klassischen Strafraumstürmer geht Barca auch mit dem Trend. Real (Benzema), die Bayern (Mario Mandzukic), Paris Saint-Germain (Zlatan Ibrahimovic) und Atletico Madrid (Diego Costa) verfügten im vergangen Jahr alle über einen klassischen Mittelstürmer.
Auf dem Papier klingt das neue Star-Trio Messi, Neymar und Suarez für jedes gegnerische Team furchterregend. Kaum auszudenken, wie viele Tore Suarez machen könnte, wenn er von zwei absoluten Weltklasse-Spielern bedient wird. Bis die drei aber erstmals gemeinsam auf dem Platz zu sehen sein werden, dürfte die Saison bereits weit vorangeschritten sein.
Mit seinem Biss gegen Italien manövrierte sich der Uruguayer selbst in die wohl ungünstigste Position für einen Vereinswechsel. Bis zum 26. Oktober darf Suarez weder im Camp Nou anwesend sein, noch am Mannschaftstraining der Katalanen teilnehmen.
System ohne Superstar
Damit stellt er auch Enrique vor eine unangenehme Aufgabe. Der Ex-Teamkollege von Pep Guardiola muss praktisch ein System, das auf Suarez zugeschnitten sein soll, installieren, ohne dass der Superstar in den ersten zwei Monaten der Saison überhaupt spielen darf. Natürlich wird sich Suarez abseits der Mannschaft fit halten, taktische Erklärungen gibt es vorerst aber nur auf dem Notizblock.
Wer in seiner Abwesenheit die Rolle des Mittelstürmers ausfüllt, ist noch unklar. Am wahrscheinlichsten scheint noch, dass Messi wie bereits im letzten Jahr als Mittelstürmer aufläuft. Der Argentinier interpretiert die Mittelstürmer-Position aber ganz anders als Suarez, der alleine durch seine Kopfballstärke dem Spiel eine ganz andere Dynamik verleiht.
Neben der Systemfrage muss Enrique auch den schwierigen Charakter des Uruguayers in den Griff kriegen. Natürlich hat Suarez versprochen, sich zu bessern. Die treuen Barcelona-Fans dürften ihrem Top-Neuzugang aber dennoch skeptisch gegenüber stehen.
Suarez: Vampir im Schafspelz
Der Bad Boy aus Uruguay passt so gar nicht zum Saubermann-Image des Klubs. Hier überzeugen die Spieler mit Leistungen auf dem Platz und leisten sich keine Skandale. Auch Neymar ist zwar der Meister der Selbstinszenierung, gibt auf dem Platz aber alles für den Verein und fällt nicht negativ auf.
Die Rüpel findet man in Spanien woanders. Immer wieder verweisen die Fans auf ihren Erzrivalen aus Madrid, wo mit Pepe und Sergio Ramos zwei Hitzköpfe regelmäßig im Clasico negativ auffallen. Kaum auszudenken, zu welchen Aktionen sich ein Suarez im Eifer des Gefechts hinreißen lassen könnte. Zu oft hat der Stürmer schon bewiesen, dass von seinen Versprechungen meist wenig in die Tat umgesetzt wird.
Suarez soll als Symbolfigur für die Rückkehr zum Erfolg herhalten, könnte aber auch erneut negativ auffallen. Es bleibt zu hoffen, dass er sich in der Zukunft dafür entscheidet, mehr durch Tore als durch Skandale aufzufallen. Barcelona kommt mit ihm einen Vampir im Schafspelz. Welche Seite er raushängen lässt, liegt einzig und allein an Luis Suarez.
Luis Suarez im Steckbrief