Ein Marathon ist die pure Hölle. 42 Kilometer rinnt einem der Schweiß herunter, der Magen rebelliert mindestens einmal, irgendwann dauert jeder einzelne Schritt gefühlt mehrere Sekunden. Die Beine werden schwerer, kleben früher oder später am Boden. Die Schultern sinken nach vorne, das Blickfeld reduziert sich auf ein Minimum.
Ein Schritt noch. Noch einer. Noch einer. Und dann zieht plötzlich ein Konkurrent vorbei. Den Blick nach vorn gerichtet, mit weiten Schritten, geradem Rücken und einem Tempo, das man selbst schon lange nicht mehr halten kann. Dieser Mann trägt ein weißes Trikot. Die Nummer acht prangt auf seinem Rücken. Es ist Toni Kroos.
Mehr Einsätze als Casillas
Er ist 25 Jahre alt. Champions-League-Sieger, Weltmeister, dreimaliger deutscher Meister, zweimaliger Klub-Weltmeister. Er ist einer der besten Mittelfeldspieler der Welt, wurde erst kürzlich mit drei Stimmen vor Lionel Messi zum besten Spielmacher der Welt gewählt. Er ist seit nunmehr über einem Jahr nicht mehr wegzudenkender Bestandteil des weißen Balletts aus Madrid. Er ist ein Marathonmann.
Knapp 13 Marathons ist Toni Kroos in der letzten Saison gelaufen. 9,8 Kilometer riss er im Schnitt pro Spiel ab, so viele wie kein anderer Madrilene. 55 Einsätze absolvierte er im weißen Dress, Stammtorhüter Iker Casillas brachte es selbst nur auf 47.
Nach seinem Wechsel vom FC Bayern München in die spanische Hauptstadt hat Kroos ein unmenschliches Jahr hingelegt und doch ist die Erwartungshaltung noch ein Stück angewachsen.
Pause mit Blick auf neue Saison
Experten sprechen nach einem Marathon von bis zu zwei Monaten Pause, die der Läufer braucht, um sich von seinen Anstrengungen auf physischer wie psychischer Ebene zu erholen. Exakt drei Monate nahm sich Kroos zwischen dem letzten Spiel der vergangenen Saison und dem Auftakt der Königlichen gegen Sporting Gijon (0:0) in diesem Fußballjahr.
Joachim Löw nahm Rücksicht auf die besondere Situation seines Mittelfeldspielers und nominierte den ausgelaugten, sonst eigentlich zum Stammpersonal zählenden, Ex-Bayern gar nicht erst für die Spiele im Juni gegen die USA und Gibraltar. Der Bundestrainer wusste genau, dass seinem Schützling jede Pause willkommen wäre.
Nicht nur mit Blick auf die vergangene Saison unter Carlo Ancelotti, in der Kroos Spieltag für Spieltag über 90 Minuten sein klassisches Spiel ablieferte, auch mit Blick hin auf die neue Saison mit einem neuen Trainer und frischer Konkurrenz die bestmögliche Entscheidung. Als große Konstante in einem wechselhaften Jahr Reals hatte sich der Deutsche jede freie Minute redlich verdient.
"Alle Wettbewerbe gewinnen"
Die lange Pause will er nun nutzen. "Das Ziel von Real ist immer das Gleiche: Alle Wettbewerbe gewinnen", meldete sich Kroos im Trainingslager zurück. Mit Rafa Benitez soll das klappen, was mit Ancelotti zuletzt nicht gut funktionierte.
Doch bis dahin ist ein weiter Weg. Damit dieser für einzelne Spieler nicht zu lang wird und letztlich das große Gesamtprojekt ins Wanken bringt, will der neue Übungsleiter mehr rotieren. Die Transferphase war schon ein deutliches Zeichen - die Königlichen erweiterten ihren Kader weniger in der ersten, sondern vielmehr in der zweiten Reihe.
Einerseits ein gutes Zeichen für Kroos, andererseits auch eine erhöhte Konkurrenzsituation. Die Belastung kann mit Casemiro und Mateo Kovacic als erste Optionen im Mittelfeld nun besser reguliert werden als noch mit dem unerfahrenen Lucas Silva in der letzten Saison. Eine Verletzung, wie die von Luka Modric, wird das Team nicht mehr komplett aus der Bahn werfen, stehen doch Alternativen bereit.
Rotation gegen Espanyol
Wie ernst es Benitez mit der Rotation meint, machte er schon früh in der Saison klar. Schon am dritten Spieltag hieß es für den ehemaligen Marathonmann Kroos: zusehen. Nach seinen beiden Einsätzen für das DFB-Team über 90 Minuten zog der Trainer in Madrid Casemiro vor, der nicht für das brasilianische Nationalteam nominiert worden war.
Ein Szenario, das unter Ancelotti noch undenkbar gewesen wäre, allerdings auch kein Grund zur Unruhe ist. Ist Kroos fit und in normaler Form, ist er weiterhin fester Bestandteil der ersten Elf. Sein Spiel hat sich im Vergleich zum letzten Jahr verändert, seine Aufgaben sind andere und doch ist er nicht wegzudenken aus Madrids bester Mannschaft.
Nach einem Jahr ist er dermaßen etabliert, dass sich gar nicht erst die Frage nach seinem Einsatz stellt. Isco oder James Rodriguez? Danilo oder Dani Carvajal? Das sind die Diskussionen, die man derzeit in der Hauptstadt führt. Kroos steht zu keiner Sekunde auch nur in irgendeiner Weise zur Debatte. Er und Luka Modric, das ist eingespielt, das ist aufeinander abgestimmt und das ist nicht momentan nicht anfechtbar. "Seine Qualität ist unglaublich", lobte Benitez.
Beamter - na und?
Da prallt selbst lautstarke Kritik einfach ab. Als "verschollen" bezeichnete die AS Toni Kroos nach dem 0:0 gegen Sporting Gijon und stellte damit einmal mehr die Schnelllebigkeit der spanischen Medien dar. Hauptkritikpunkt ist die schmalere Rolle, die Kroos im Spielaufbau einnimmt. Modric ist dort derzeit merklich präsenter, Kroos kümmert sich besonders um die Spielverlagerungen und längeren Bälle.
Dass er diese Rolle allerdings vorzüglich ausfüllt und somit eine Schlüsselrolle einnimmt, wenn es darum geht, seine Mitspieler in Szene zu setzen, das bleibt den meisten verborgen. Ersatzmann Casemiro spielt diese langen Diagonalbälle nicht annähernd auf dem gleichen Niveau wie der Weltmeister.
Mancher wollte schon eine Degradierung zum "Beamten" erkennen wollen, ein System, in dem Kroos nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Er spielt vielleicht eine weniger auffällige, aber nicht minder wichtige Rolle.
Die Konkurrenz ist zwar gewachsen, doch diese neue Situation eher eine willkommene Bereicherung als eine Bedrohung. So kann sich Kroos auch mal zurücklehnen, beobachten und - das fehlte im letzten Jahr - in den Topspielen, in den Spielen ab März, seine besten Leistungen abrufen.
Denn für einen oder für zwei Marathons ist Kroos schließlich immer zu haben. Nur 13 müssen es mit Hinblick auf die EM 2016 nicht unbedingt wieder sein.
Toni Kroos im Steckbrief