Der FC Barcelona und Cheftrainer Luis Enrique gehen zum Saisonende getrennte Wege. Das wirft nicht nur in Katalonien einige Fragen auf. SPOX beantwortet die wichtigsten.
Wie überraschend kam der Rücktritt Enriques?
Nicht sonderlich überraschend. Enrique sprach bereits lange vor der 0:4-Niederlage gegen Paris Saint-Germain in der Champions League davon, den Klub eventuell am Saisonende verlassen zu wollen. Das kam damals durchaus überraschend, die endgültige Mitteilung seiner Entscheidung deutete sich allerdings seit geraumer Zeit an.
Nicht nur, dass der Trainer selbst von seinem Rücktritt sprach, verschiedene Medien Spaniens hatten auch immer wieder über getrennte Wege zum Ende der Saison oder gar früher spekuliert. Das geschah manchmal aufgrund einer Niederlage, manchmal auch aufgrund möglicher interner Differenzen.
Noch immer in den Erinnerungen der Katalanen etwa ist die Niederlage gegen Real Sociedad im Januar 2015, die den Klub für einige Wochen komplett auf den Kopf stellte. Sportdirektor Andoni Zubizarreta wurde entlassen, Präsident Josep Maria Bartomeu rief wenig später Neuwahlen aus, um sich im Amt bestätigen zu lassen.
Schon damals wurde über ein Ende Enriques spekuliert, er hielt sich jedoch im Amt. Damals soll es die belastete Beziehung zu Lionel Messi gewesen sein, die dem Trainer beinahe den Kopf kostete. Letztlich nicht mehr als Schall und Rauch, davon aber mehr als genug, um für Unruhe zu sorgen.
Enriques Zeit in Katalonien war aus verschiedenen Gründe stets ein Wandern auf Messers Schneide. Das zehrte sichtlich an seinen Nerven. Sein Rücktritt kommt also nicht von ungefähr, sondern dürfte ein nur logischer Schritt nach langen Jahren der Belastung sein.
Wie geht es im Laufe der Saison weiter?
Verändern wird sich wenig bis gar nichts. Enrique hat seinen Rücktritt verkündet und wer seine Pressekonferenzen sieht, weiß: Er wird bis zum 30. Juni 2017 darüber kein Wort zu viel verlieren. Der 46-Jährige redet nicht gerne über sich selbst und wird das auch in den letzten Monaten seiner Amtszeit nicht ändern.
Vielmehr wird es im Interesse von Trainer wie Mannschaft sein, aus der Saison noch das Maximum herauszuholen. Das bedeutet den Gewinn der Meisterschaft sowie des Pokals und eine starke Leistung vor heimischem Publikum gegen Paris Saint-Germain, die entweder zur Aufholjagd genügt oder zumindest den Fans das Gefühl gibt, alles versucht zu haben.
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Die Ziele haben sich durch den Rücktritt Enriques nicht verändert, ebenso wenig wird er seine Gangart oder seine Spielidee noch verändern. Enrique ist ein Trainer mit Ecken und Kanten, das musste mancher Spieler schon am eigenen Leib erfahren. Verbiegen wird sich der Barca-Coach auf keinen Fall, auch nicht so kurz vor dem Abtritt.
Obendrein wird auch der Ex-Profi versuchen, sich weitere Titel und Erfolge in sein Portfolio zu schreiben. Grund zum Nachlassen gibt es auf gar keinen Fall, der FC Barcelona hat entscheidende Monate vor sich. Des beinhaltet das Duell mit Sevilla in der Liga ebenso wie den Clasico im April.
Im Endspiel der Copa del Rey geht es für Barcelona zwar gegen den krassen Underdog Deportivo Alaves, doch das Finale Ende Mai ist und bleibt ein Finale. Auch die Spieler werden keinen Schritt zurückschalten, werden doch auch die Leistungen unter Enrique für die Kaderplanung im Sommer entscheidend sein.
Wer ist als Nachfolger im Gespräch?
Derzeit jeder Trainer, der bei drei nicht auf dem Baum ist. Die spanischen Medien schlachten jedes noch so kleine Gerücht aus und achten dabei nur wenig auf mögliche Realisierung oder passende Spielidee. Die Gerüchte gehen von Jürgen Klopp über Laurent Blanc bis hin zu Jorge Sampaoli.
Letztlich hat Barcelona aber enorme Ansprüche an den eigenen Cheftrainer, wohl noch deutlich größere als sie andere Vereine in dieser Güteklasse haben. Enrique war in vielen Dingen ein grenzwertiger Schritt, noch weiter weg von der Philosophie Johan Cruyffs wird der Verein sich nicht entfernen.
Somit fallen Namen wie Eduardo Berizzo oder Jürgen Klopp heraus. Beide passen, die schwierige Realisation mal ausgeklammert, von ihrere Spielidee überhaupt nicht nach Barcelona. Eusebio von Real Sociedad hat mit dem Präsidium als ehemaliger B-Trainer kein gutes Verhältnis, Ernesto Valverde wird sei Jahren in Barcelona gehandelt, passiert ist jedoch nie etwas.
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Am Ende dürften sich die Verantwortlichen wohl zwischen Jorge Sampaoli, Carlos Unzue und Ronald Koeman entscheiden. Sampaoli hat mit Sevilla ein enormes Bewerbungsschreiben abgegeben und sendete durchaus das ein oder andere Signal nach Katalonien.
Koeman hat in der Premier League überdurchschnittliche Jahre verbracht und bringt Erfahrung als Spieler Barcelonas mit. Unzue war lange ebenso Spieler, dann Torwarttrainer unter Pep Guardiola und Co. sowie seit dem Amtsantritt von Enrique Co-Trainer. Gerüchte legen nahe, dass er einen großen Anteil an der Arbeit des Cheftrainers mitträgt.
Sicher ist nur, dass die Suche nach einem Enrique-Erben erst mit Bekanntgabe des Abschieds begann. Barcelona betreibt kein Trainerscouting und wurde auch nicht von den Andeutungen des eigenen Trainers aufgeschreckt. Dabei ist die Wahl des Trainers auf sehr vielen Ebenen absolut essenziell.
Wie fällt die Bewertung Enriques aus?
Die Zeit von Enrique in Barcelona hat einmal mehr unter Beweis gestellt, wie vielfältig die Aufgaben des Übungsleiters bei den Katalanen ist. Als Ex-Spieler brachte Enrique durchaus Renomee mit, dennoch wurde jeder Schritt genau beäugt, beurteilt und diskutiert.
In einem Land, in dem die TV-Sender Lippenleser beschäftigen, ist der Trainerjob der Job, der am kritischsten beobachtet wird. Enrique gefiel dabei in seiner Rolle oft als Puffer. Er verteilte die Aufmerksamkeit geschickt, ließ Journalisten und deren provozierende Fragen mit Humor ins Leere laufen und arbeitete hinter dieser Fassade ruhig mit der Mannschaft.
Intern gab sich Enrique als strenger Anführer. Seine Strafenkataloge fanden in jeder Saison den Weg an die Öffentlichkeit und verdeutlichten, auf welche minutengenaue Disziplin der Trainer setzt. Dennoch gewährte er den Spieler stets ihre Freiräume abseits des Platzes.
Die Dosierung dessen war mitentscheidend für den Erfolg. Enrique verschanzte das Team derart, dass in öffentlichen Trainingseinheiten fast ausschließlich Rondos gezeigt wurden, um die Angriffsfläche so klein wie möglich zu halten. Er schuf eine Wir-Gegen-den-Rest-Mentalität, die in den regelmäßigen Äußerungen der Spieler deutlich wurde. spox
Schwerer zu beurteilen fällt die sportliche Weiterentwicklung der Mannschaft. Enrique übernahm das vorhandene Grundgerüst und holte im Grunde mit einer angepassten Mannschaft nochmals das Beste aus der goldenen Generation heraus. Das beinhaltete Anpassungen aber keine Weiterentwicklung.
Dies muss man dem 46-Jährigen durchaus anlasten. Weder schaffte er es, Talente aus La Masia einzubauen, noch konnte er das Team taktisch auf ein anderes Niveau heben. Barcelona konnte - oder kann derzeit - vieles gut, aber nichts in Perfektion, wie es etwa unter Pep Guardiola geschah.
Das Aufbauspiel sah sich zuletzt von Atletico Madrid zerpresst, das Ballbesitzspiel im letzten Drittel von Leganes auf die Probe gestellt. Zu oft war Enrique abhängig von der individuellen Qualität seiner Offensive. Verbesserungen erreichte er besonders im Defensivverhalten und ganz besonders bei offensiven wie defensiven Standards.
Letztlich muss jedoch festgehalten werden, dass Enrique Titel gewann und damit seine Methoden rechtfertigte. Diese mögen nicht jedem gefallen haben und nicht immer auf die Idealvorstellung der Barca-Fans gepasst haben, letztlich hat er seine Aufgabe jedoch erfüllt.
Wie entwickelt sich der Verein langfristig?
Mit Pep Guardiola arbeitete vor Luis Enrique ein Entwickler beim FC Barcelona. Mit diesem tritt nun kein Entwickler ab, sondern ein mehr auf den Erfolg als auf den Fortschritt der Mannschaft bedachter Mann. Einen solchen wird man in Katalonien nun aber brauchen, soll der begonnene Umbruch weiter fortgesetzt werden.
Der "Summer of 22", so wurde die letzte Transferperiode genannt, brachte mit Samuel Umtiti, Andre Gomes, Paco Alcacer, Denis Suarez und Lucas Digne genug Spieler im jungen Alter nach Barcelona, die das Team in der Zukunft tragen können und sollen, dafür aber den richtigen Trainer brauchen.
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Barca hat weitere Spieler in der Rückhand. Munir macht sich nicht schlecht beim FC Valencia, Sergi Samper ist nicht vergessen. Marlon wird im nächsten Jahr die Innenverteidigung verstärken - gerade diese Spieler setzen aber voraus, dass sich der Trainer auf sie einlässt.
Diese Umgebung muss nun geschaffen werden. In den letzten Jahren fiel es dem Trainer immer schwer, junge Spieler zu entwickeln, war die Qualität der ersten Mannschaft sowie deren Ersatzspieler derart hoch, dass eigentlich kein Platz vorhanden war. Zudem kommt die Konkurrenzsituation in allen Wettbewerben, die eine größere Rotation nahezu unmöglich macht.
Letztlich wird Barcelona nach einer eierlegenden Wollmilchsau suchen, diese aber nur schwerlich finden. Vielleicht müssten die Ansprüche vorerst zugunsten der Spielerentwicklung etwas zurückgeschraubt werden. Doch das lässt sich nicht mit der Darstellung des FC Barcelona als Unternehmen vereinbaren. So oder so wartet eine entscheidende Periode auf die Katalanen.