Natürlich wusste Julen Lopetegui, was ihn bei Real Madrid erwarten würde. Er ist kein Trainernovize und hat mit seinen 51 Jahren schon einiges erlebt. Keinesfalls war er so naiv zu denken, dass seine neue Aufgabe einfach werden würde.
Die Schlagzeilen nach seinem ersten Pflichtspiel an der Seitenlinie von Real Madrid hätte er sich dennoch anders vorgestellt, etwas angenehmer. Die Sport schrieb etwa vom "ersten Schuss vor den Bug" und einer "Demütigung in der Verlängerung".
Ganz unberechtigt waren die kritischen Töne nicht. Tatsächlich hätte der Beginn der neuen Zeitrechnung günstiger laufen können. In zweieinhalb Jahren unter Zinedine Zidane hatte Real kein einziges Mal vier Gegentore in einem Pflichtspiel kassiert. Unter Nachfolger Lopetegui passierte das bereits in der ersten Partie. Die Mannschaft, die in den letzten Jahren mit einer unglaublichen Selbstverständlichkeit jedes ihrer Finals gewann, verlor tatsächlich mal wieder ein Endspiel um einen Titel. Auch das war unter Zidane nie passiert. Genauer gesagt war es das erste verlorene internationale Finale der Königlichen seit November 2000. Damals ging das Weltpokal-Finale gegen die Boca Juniors mit 1:2 verloren.
Atletico Madrid besiegt seinen Real-Komplex
Und jetzt war es auch noch ausgerechnet Lokalrivale Atletico, der diese Serie beendete. Das Atletico, das in den letzten Jahren einen brutalen Real-Komplex entwickelt hatte.
Ein Traumeinstand sieht anders aus.
Vor der Siegerehrung durch das Spalier des Gegners durchzugehen und sich Silbermedaillen abzuholen, sind die Königlichen nicht mehr gewöhnt. Kein Wunder, dass der neue Trainer auf seiner ersten Post-Match-PK bei Real geknickt war: "Ich bin traurig und frustriert", sagte Lopetegui: "Wir müssen uns verbessern - und zwar in allen Bereichen. Wir haben heute Fehler gemacht, die wir so nicht sehen wollen. Wir müssen an allem arbeiten, nicht nur an den individuellen Fehlern."
Lopetegui: Vorgeschmack auf die Aufgabe Real Madrid
Für Lopetegui waren der Mittwochabend und dessen Nachwehen nur ein Vorgeschmack darauf, wie schwierig die bevorstehende Aufgabe tatsächlich werden dürfte.
Nach mehreren Trainerstationen, bei denen er konstant die Karriereleiter hinaufkletterte, ist er jetzt ganz oben angekommen. Bei einem der, wenn nicht dem prestigereichsten Verein der Welt. In der aktuellen Situation ist Lopeteguis Job allerdings auch der vielleicht undankbarste aller Trainer im Weltfußball.
Er folgt auf Zinedine Zidane, der drei Champions-League-Titel hintereinander gewonnen hat. Den Henkelpott, den vor ihm noch überhaupt niemand verteidigt hatte, verteidigte er gleich zweimal. Viel mehr geht nicht.
Champions League: Die Titelgewinner der letzten fünf Jahre
Jahr | Sieger |
2018 | Real Madrid |
2017 | Real Madrid |
2016 | Real Madrid |
2015 | FC Barcelona |
2014 | Real Madrid |
Zusätzlich zu diesem ohnehin schwer wiegenden Erbe muss Lopetegui einen riesigen Umbruch moderieren. Denn er ist Trainer in Jahr eins nach Cristiano Ronaldo. Der Portugiese prägte Real in den letzten neun Jahren wie zuvor maximal Alfredo di Stefano. Er pulverisierte alle Rekorde und hatte schwindelerregende Torquoten. Ronaldo war Real Madrid.
Lopetegui hoffte bei seiner Vorstellung auf Verbleib von Cristiano Ronaldo
Bei seiner Vorstellung hatte Lopetegui noch seine Hoffnung auf einen Verbleib von CR7 kundgetan: "Cristiano ist der Spieler, den ich immer an meiner Seite haben möchte", sagte er damals. Es kam anders. Ronaldo wechselte noch vor seiner ersten Trainingseinheit unter dem neuen Trainer zu Juventus Turin. Seinen Abgang zu kompensieren, ist ein Mammutprojekt.
Bislang sieht es nicht so aus, als bekäme Lopetegui an Ronaldos Statt einen namhaften Weltstar ins Team. Das große Transferbeben blieb noch aus. Eden Hazard ist noch bei Chelsea, Neymar und Kylian Mbappe tragen noch das PSG-Trikot, Robert Lewandowski spielt noch für den FC Bayern.
Also eine interne Lösung? Zwar hat Lopetegui durch seine Zeit als spanischer Nationaltrainer ein gutes Verhältnis zu Marco Asensio, Lucas Vazquez oder Isco, die Lücke mit Personal aus den eigenen Reihen zu füllen, ist grundsätzlich schon möglich. Aber: Ronaldo ist eben Ronaldo. Er ist nicht nur einer der beiden besten Fußballer der Welt, der pro Saison um die 50 Pflichtspieltore garantiert. Er steht auch für etwas, ist Marke und Repräsentant. Diese Größe haben Asensio, Vazquez oder Isco freilich noch nicht. Und ob Gareth Bale die Funktion nach fünf Jahren der ständigen (größtenteils überzogenen) Kritik nun plötzlich einnehmen kann, darf bezweifelt zu werden. Er kann ein Leistungsträger sein, sein Bild hat dennoch stark gebröckelt.
Intern hat Lopetegui laut AS durchaus noch Verstärkungen für alle Mannschaftsteile gefordert, öffentlich hält er sich zurück. Er schwankt zwischen Aussagen wie "Im Laufe des Monats treffen wir eine Entscheidung" oder "Unsere Planungen haben sich durch die Niederlage gegen Atletico nicht verändert". Allgemeinplätze, die alles bedeuten können.
Neymar, Hazard oder Mbappe könnten Lopetegui Zeit verschaffen
Ein Megadeal auf dem Transfermarkt könnte zumindest etwas Druck vom Kessel nehmen, Lopetegui etwas Zeit verschaffen. Schließlich wären dann erst einmal alle Augen auf Hazard/Neymar/Mbappe gerichtet. Die Diskussionen würden sich eine Zeitlang eher um Sinn oder Unsinn des Transfers drehen. Darum, ob derjenige die immense Summe von 100, 200 oder 300 Millionen Euro wert gewesen sei. Dahinter könnte sich Lopetegui zwar nicht verstecken, er wäre jedoch wenigstens im Deckungsschatten. Wenn auch nur für ein paar Spiele.
In diesem ist er derzeit nicht. Im Gegenteil: Nach der bitteren Niederlage im europäischen Supercup sind erste kritische Stimmen laut geworden, ob er der Richtige sei, den Umbruch zu moderieren. So schnell geht es bei einem Verein wie Real Madrid.
Lopetegui: "Das Wort Druck gehört zu Real Madrid"
Lopetegui wusste schon vorher, was ihn erwarten würde: "Das Wort Druck gehört zu Real Madrid. Dieser Verein hat die Verpflichtung, alles zu gewinnen", sagte er bereits bei seiner Vorstellung. Dass dem wirklich so ist, merkt er spätestens jetzt.
Als erste Aufgabe hat sich der Neue auf die To-Do-Liste geschrieben, die Diskussionen um eine angebliche Sattheit seines Teams zu bekämpfen. Dabei kitzelt er vor allem den Ehrgeiz seiner Spieler, in der am Wochenende beginnenden spanischen Liga anzugreifen und den Erzrivalen Barcelona wieder vom Thron zu stoßen: "Natürlich haben sie in den letzten Jahren dreimal hintereinander die Champions League gewonnen, aber in der Liga waren die Ergebnisse nicht so, wie sie es erwartet hatten. Wir müssen jetzt nach dieser Niederlage wieder aufstehen und fokussiert arbeiten, um auch in LaLiga wieder dort hinzukommen, wo wir hingehören."
Ein hehres Ziel. Ein anspruchsvolles Ziel. Aber nur so ging Lopetegui die Aufgabe Real Madrid an.
Um diesen stolzen Verein neu aufzustellen und sein Spielsystem zu implementieren, braucht Lopetegui vor allem eines: Zeit. Bei Real Madrid bekommt er aber vermutlich vor allem eines nicht: Zeit. So reizvoll der Trainerstuhl im Santiago Bernabeu ist, so undankbar ist die Aufgabe in Jahr eins nach Zidane und Ronaldo. Vielleicht ist es derzeit die undankbarste im Weltfußball. Höchste Ansprüche verzeihen zeitlichen Verzug nun mal nicht. Aber es hat ja auch niemand gesagt, dass es einfach werden würde.