Wissam Ben Yedder ist beim spanischen Tabellenführer FC Sevilla der Experte für die schnellen und wichtigen Tore. Eigentlich. Im Finale des Supercups Mitte August verballerte er nämlich in der Schlussminute einen entscheidenden Elfmeter gegen den FC Barcelona. Ein Makel, den er im Spitzenspiel am Samstag im Camp Nou (ab 20.45 Uhr im LIVETICKER und LIVE auf DAZN) unbedingt ausradieren will. Es wäre nicht der erste überwundene Rückschlag. Eine Geschichte über eine kuriose Karriere.
Pablo Machin kann sich noch gut an den 12. August 2018 erinnern. Es lief die Schlussminute im Finale des spanischen Supercups, seinem ersten Pflichtspiel als Cheftrainer des FC Sevilla, als sich Wissam Ben Yedder nach einem Foul von Marc-Andre ter Stegen an Aleix Vidal im Strafraum den Ball schnappte und zum Elfmeter antrat.
Zu diesem Zeitpunkt stand es 2:1 für die Katalanen. Ben Yedder, gerade erst eingewechselt, hatte die Möglichkeit, Sevilla in die Verlängerung zu bringen. Seine Mitspieler vertrauten ihm, schließlich wussten sie um seine Kaltschnäuzigkeit. Doch Ben Yedder scheiterte. Und wie.
Als Ben Yedder minutenlang weinte
Ein nicht einmal platzierter Rückpass statt eines kraftvollen Schusses kam auf den Kasten von ter Stegen. Der deutsche Nationaltorhüter vereitelte den kläglichen Versuch problemlos, begrub die Kugel fest unter sich und feierte kurz darauf mit seinen Teamkollegen den ersten Titel der Saison. Ben Yedder war "am Boden zerstört", erzählt sein Trainer Machin heute, der 28-Jährige habe nach dem Abpfiff "minutenlang" in der Kabine geweint.
Ausgerechnet Ben Yedder. Der, der als Spezialist für die schnellen und wichtigen Tore bei den Andalusiern gilt, verlor im entscheidenden Moment die Nerven. Sicherlich auch, weil es ihm zu jener Zeit an Selbstvertrauen mangelte.
Ein Sommer voller Rückschläge
Der französische Nationalspieler hatte einen Sommer voller Rückschläge hinter sich. Erst verzichtete Didier Deschamps bei der Weltmeisterschaft auf ihn, dann machte ihm sein neuer Coach in Sevilla deutlich, er nehme in seinen Planungen keine wichtige Rolle ein und dürfe den Klub bei einem passenden Angebot verlassen.
Danach sah es - spätestens nach Ben Yedders Elfmeter-Fauxpas gegen Barca - auch aus. Olympique Marseille bot übereinstimmenden Medienberichten zufolge 22 Millionen Euro für ihn. Der Stürmer saß mehr oder weniger schon auf gepackten Koffern, schrieb die spanische Presse - bis Joaquin Caparros dazwischen grätschte. Caparros, jahrelang Trainer bei diversen spanischen Vereinen und im Mai als Sportdirektor von Sevilla verpflichtet, verwarf Machins Gedanken.
Sevilla-Sportdirektor lässt Wechsel platzen
"Warum soll jemand nicht gut genug für diesen Klub sein, der mehr als 20 Tore pro Saison schießt und mit ein bisschen mehr Glück mit dem Weltmeister zur WM gefahren wäre?", entgegnete Caparros kurz vor dem Ablauf der Transferperiode einem Journalisten, der ihn zur Zukunft von Ben Yedder befragte.
Nur ein "verdammt gutes Angebot" hätte Caparros umgestimmt. Das kam aber nicht. Und so war die Tür für einen Wechsel plötzlich geschlossen. Dennoch stellte sich Anfang September die Frage, ob und wie Machin überhaupt mit Ben Yedder plant. Seinen Wunschspieler, den Portugiesen Andre Silva, hatte er bekommen.
Neben der Leihgabe vom AC Mailand sollte der Kolumbianer Luis Muriel auf Torejgad gehen. Der dritte Mittelstürmer im Kader, Ben Yedder, wurde von Medienvertretern und Experten eine Spielzeit auf der Bank prophezeit. Es sollte anders kommen.
Nur Alcacer und Mbappe treffen schneller
Heute, etwas mehr als eineinhalb Monate später, hat der Abgeschriebene Muriel im 4-4-2 von Machin verdrängt. Nach sechs Spielen in LaLiga stehen für ihn fünf Tore und ein Assist zu Buche. Er trifft im Schnitt alle 69 Minuten. Bestwert in Spanien.
Im Vergleich zu Europas Top-Ligen haben nur Paco Alcacer (Borussia Dortmund/trifft alle 14 Minuten), Alfred Finnbogason (FC Augsburg/trifft alle 43 Minuten), Reiss Nelson (TSG Hoffenheim/trifft alle 47 Minuten), Kylian Mbappe (Paris Saint-Germain/trifft alle 51 Minuten) und Ante Rebic (Eintracht Frankfurt/trifft alle 65 Minuten) die Nase vor ihm.
In Sevilla überrascht das niemanden. Ben Yedder hat seine Treffsicherheit schon häufig unter Beweis gestellt. Allein in der vergangenen Champions-League-Saison erzielte der quirlige Angreifer acht Tore. Nur Cristiano Ronaldo (15) und das Liverpool Sturm-Trio Mohamed Salah, Roberto Firmino und Sadio Mane (jeweils 10) waren erfolgreicher.
All diese Spieler erreichten aber auch das Finale und waren in ihren Teams immer gesetzt. Ben Yedder hingegen kam - wie bei seiner Doppelpack-Show im Achtelfinale gegen Manchester United - oft von der Bank und schied mit Sevilla bereits im Viertelfinale gegen den FC Bayern aus.
Machin: "Es geht nicht immer nur um Tore"
Vielen Außenstehende drängt sich daher die Frage auf: Warum befindet sich Ben Yedder erst jetzt auf dem Weg zum Stammspieler? "Es geht nicht immer nur um die Tore", sagt sein Trainer Machin.
Der Franzose mit tunesischen Wurzeln habe mittlerweile vor allem verstanden, dass er genauso hart arbeiten müsse wie seine Kollegen, um von Anfang an zu spielen.
Ben Yedder wurde in Sevilla oft nachgesagt, nicht mit der notwendigen Ernsthaftigkeit zu trainieren. Er ist einer dieser französischen Jungs mit Migrationshintergrund, aufgewachsen in bescheidenen Verhältnissen in einem Pariser Vorort, in dem der Straßenfußball eine der wenigen Möglichkeiten bietet, sich von Armut und Gewalt abzulenken.
Ben Yedder: Vom Straßenkicker zum Futsal-Nationalspieler
"Meine Kindheit war recht schwierig. Nur die wenigsten schaffen es, ich kenne viele talentierte junge Spieler und viele mit riesigem Potenzial, doch in dieser Gegend hält kaum einer nach Spielern Ausschau. Das ist wirklich hart, denn es gäbe viele, denen nur ein kleines Erfolgserlebnis fehlt", sagt Ben Yedder.
Er selbst wurde in Sarcelles, eine der rauesten Gegenden rund um die französische Hauptstadt geboren. Später zog er mit seiner Familie ins nahe gelegene Garges-les-Gonesse, wo er lange auf Käfigplätzen spielte. Die meisten Tricks brachte sich der Rechtsfuß selbst bei. Er war schon als Teenager trickreich. Verdammt trickreich. Das reichte aber nicht.
Ihm und auch einem gewissen Riyad Mahrez, damals einem seiner besten Freunde und heute einer der Schützlinge von Pep Guardiola bei Manchester City, wurde zu verstehen gegeben, körperlich zu schwach zu sein, um "richtigen" Fußball zu spielen.
Also entschied er sich für den technisch anspruchsvolleren, aber weniger lukrativen Futsal. Er schaffte es sogar bis in die französische Nationalelf (zwei Länderspiele, ein Tor).
Mit 19 denkt Ben Yedder um
"Ich bin froh, Futsal gespielt zu haben", sagt Ben Yedder heute. Er habe dadurch seine Reaktionszeit und sein Ballgefühl verbessert. "Das Wichtigste", das er gelernt habe, sei jedoch, "vor dem Tor eiskalt zu sein." So eiskalt, dass er sich 2009, im Alter von 19 Jahren, doch noch einmal auf dem Rasen versuchte. Zunächst beim Viertligisten UJA Alfortville.
Sein Talent am Ball, seine Unberechenbarkeit im Eins-gegen-Eins und seine Abschlussstärke waren unverkennbar. Kein Wunder also, dass er sich rasch in den Fokus größerer Vereine spielte. Kein Jahr nach seinem Debüt für Alfortville entdeckten ihn Scouts des FC Toulouse.
Durchbruch bei Toulouse, Wechsel nach Sevilla
Schon am 16. Oktober 2010 gab er sein Debüt in der Ligue 1 gegen Paris Saint-Germain. Der Beginn eines steilen Aufstiegs. Schritt für Schritt entwickelte sich Ben Yedder in Toulouse zum Stammspieler und Goalgetter. In der Saison 2013/14 belegte er sogar den zweiten Platz der Torjägerliste in Frankreich.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurden auch andere europäische Klubs auf ihn aufmerksam. Ben Yedder zog zunächst aber vor, in seiner Heimat zu bleiben und weiter zu reifen.
Erst im Sommer 2016, nach 174 Pflichtspielen und 71 Toren für die Südfranzosen, schnappte sich der FC Sevilla den 1,70 Meter großen Stürmer für knapp zehn Millionen Euro. Eine gut investierte Summe, schließlich erzielte Ben Yedder seitdem 49 Tore in 98 Spielen.
Weitere werden folgen. Vielleicht ja schon im Spitzenspiel am Samstag gegen Barca. Mit den Katalanen hat er seit August bekanntlich noch eine Rechnung offen.