Philippe Christanval galt als neuer Star Frankreichs. Für 17 Millionen Euro wechselte er zu Barca - und scheiterte, weil sein Knie nicht mitmachte und seine Psyche auch nicht.
Steil abfallend schlängelte sich der Bach vor Philippe Christanval zwischen Felsen den Berg hinunter. Von dort oben sah es aus, als wäre er viel zu schmal, als dass man ihn mit einem Schlauchboot befahren könne. Wenig später stürzte sich der Franzose mit seinen Mitstreitern in das wilde Nass, das sich mit einer Kraft unter das Boot schob, die er ihm von dort oben niemals zugetraut hätte. Als die wilde Rafting-Fahrt in den französischen Alpen vorbei war, waren zwei seiner Freunde ins Wasser gefallen. Christanval aber stand noch und lachte. "Es war wirklich beängstigend", erzählte er später der Klubseite des FC Fulham. Für den 38-Jährigen kein Grund, die Fahrt den Fluss hinunter nicht zu genießen.
Denn er war immer jemand, der die Action braucht, den Stillstand hasst. Höher, weiter, schneller. Sein Lieblingssport ist Basketball. Er verehrt Michael Jordan und träumte immer davon, ihn einmal zu treffen. Als Kind war er immer draußen auf der Straße, immer in Bewegung, immer das Risiko suchend. Einmal wettete er, einen Dunk auf dem Basketballcourt zu schaffen, dort, wo eigentlich die Großen ihre Matches austragen. Er nahm Anlauf und flog zum Korb hinauf, in den er den Ball stopfte. Riskiert und gewonnen!
1978 wurde er in Paris geboren und brachte das Talent mit, in jedem Sport gut zu sein. Er lotete seine Grenzen ständig neu aus. Er war der Schnellste der Schule, hatte eine Kraft, die man ihm, dem dünnen Schlaks gar nicht zugetraut hätte und spielte so gut Basketball, dass er bereits mit zehn ein Angebot eines größeren Pariser Klubs vorliegen hatte. Er lehnte ab, denn da gab es noch seine zweite Leidenschaft: den Fußball. Zwar gab es für ihn keinen Größeren als Jordan, beim Spielen aber ging er noch mehr beim Fußball auf als beim Basketball.
Aus dem gleichen Banlieue wie Mahrez
Er wuchs in Sarcelles auf, einem Banlieue nördlich der Hauptstadt. Der Großteil der Menschen dort stammt aus Nord- und Schwarzafrika und lange galt der Ort als Symbol für die Isolation der Menschen in den Pariser Vororten und als Realität gewordene soziale Ungleichheit. Dabei liebte es Christanval hier. Er fühlte sich frei, wenn er mit seinen Kumpels stundenlang kickte oder Körbe auf den Hartplatzanlagen warf, neben denen die Älteren Gras rauchten. "Hatte einer einen Ball, pfiff er und wir rannten alle runter", erinnert er sich in einem Interview mit SO FOOT: "Ich hatte einige tolle Freunde und ich liebte es, dort aufzuwachsen."
Immer wieder schaffen es Fußballer aus Sarcelles und der Tristesse der Plattenbauten auf die große Bühne. Zwei prominente Beispiele der jüngeren Vergangenheit sind Wissam Ben Yedder, der beim FC Sevilla spielt, und Riyad Mahrez, der den Kids in seinem Heimatort als Vorbild dient. Dort sprühen sie nun seinen Namen an die Wände. Denn er ist für sie die Hoffnung, es zu etwas Großem zu bringen, berühmt zu werden.
Vor genau 20 Jahren sprühten sie Christanvals Namen auf den Beton. Er hatte es mit zwölf Jahren nach Clairefontaine geschafft, in die legendäre Fußball-Akademie. Dort reifte er an der Seite seines guten Freundes Nicolas Anelka und war bald Kapitän. Er erhielt bei der AS Monaco, wo er 1994 als Jugendlicher hingewechselt war, einen Profivertrag. 1997 debütierte er unter Jean Tigana für die Monegassen und schnell war klar, dass es da diesen einen Spieler aus Sarcelles gab, der etwas ganz Besonderes war.
Prototyp des modernen Verteidigers
Denn in einer Zeit, in der viele Verteidiger grobschlächtige Ausputzer waren, agierte er elegant, ballsicher und bewies ein gutes Auge. Das war bei ihm immer intuitiv. So wie er sich gegen die feinen, wendigen Techniker auf den Bolzplätzen behauptet hatte, traf er nun auch als Profi auf dem Platz seine Entscheidungen, ohne groß darüber nachzudenken. Dieses Talent macht ihn zum Prototypen der modernen Verteidiger von heute. Mit seinen 1,89 Metern Körpergröße und seinen dennoch geschmeidigen Bewegungen sowie seines Blicks für Situationen erinnerte er an Jerome Boateng.
1997 gewann er die französische Meisterschaft noch, ohne einen Einsatz gehabt zu haben. In der Folgesaison wurde er zum Stammspieler und zu einem der spektakulärsten Verteidiger der Ligue 1. 2000 führte er Monaco dann zum erneuten Titel. An seiner Seite waren Stars wie Fabian Barthez, John Arne Riise, Willy Sagnol, Rafael Marquez, Ludovic Giuly und David Trezeguet, die der heutige Leicester-Trainer Claude Puel zu einem Champion formte. Er galt als kommender Großer im Weltmeisterland.
Für 17 Millionen zum FC Barcelona
Kurz nach dem EM-Titel der Equipe Tricolore debütierte er für das Nationalteam, das in der Abwehr mit Laurent Blanc, Marcel Desailly und Lilian Thuram über drei Schwergewichte verfügte. Dennoch schrieb die wichtigste Sport-Zeitung L'Equipe : "Christanval gehört die Zukunft. Er wird Laurent Blanc nicht nur beerben, sondern eine neue Ära einleiten." Mit 23 stand ihm die ganze Welt offen. Immer höher, immer weiter, immer schneller. Er wollte das nächste Level. Als der FC Barcelona anklopfte, ging alles ganz schnell. Für die damals immens hohe Summe von 17 Millionen Euro wechselte er nach Katalonien. Damals war er der siebtteuerste Spieler der Vereinsgeschichte.
Barca war drei Jahre lang nicht mehr Meister geworden und wertete den sowieso schon starken Kader neben Christanval mit den sündteuren Talenten Javier Saviola und Giovanni auf. Der Plan misslang, Zwar spielte er meistens, am Ende wurde man aber nur Vierter. Zu wenig für ein Team, dessen Säulen auf die Namen Rivaldo, Xavi, De Boer, Kluivert und Enrique hören. Im Sommer 2002, Christanval stand kurz vor seinem 24. Geburtstag, begann der Absturz des Mannes, der die Rasanz so liebte und der doch so bodenständig war, und sich lieber Wohnungen als teure Schlitten kaufte, um ein zweites Standbein zu haben.
Der Beginn der Tortur
Er riss sich das Kreuzband, spielte nur noch fünfmal für die Blaugrana, wo er im Sommer 2003 keine Perspektive mehr sah. Es war nicht nur das Sportliche, das ihn zu einer Rückkehr in seine Heimat bewegte, sondern vor allem das Emotionale. Denn, sich durch die Reha zu quälen, nicht spielen zu können, nicht mehr nach dem nächsten Level zu streben, sondern zurückgeworfen worden zu sein, war für ihn, der immer nur die Richtung vorwärts kannte, eine Qual.
So wechselte er zu Olympique Marseille, wo er unter anderem auf Didier Drogba traf, der einmal sagte. "Mein bester Gegenspieler war Christanval. Jedes Training, in dem ich gegen ihn spielte, war eine große Herausforderung." Im Süden seiner Heimat wurde er mit 24 Kapitän, ein Zeichen für seine herausragenden Anführer-Qualitäten. Doch auch hier setzte die Tragik so manchen Fußballer-Schicksals ein. Das Knie streikte, er kam aus dem Tritt, verletzte sich nach mageren 13 Spielen so schwer, dass er monatelang aussetzen musste. Der emotionale Fall wollte nicht enden. Sein Körper, der ihm bis dato so treue Dienste geleistet hatte und auf den er sich blind verlassen konnte, sorgte dafür, dass sein Stern, der gerade erst leuchtend hell am Firmament erschienen war, rasend schnell verglühte.
Über Marseille und Fulham zum bitteren Ende
Er trainierte zeitweise mit der zweiten Mannschaft, das Geschäft machte weiter, die Zeitungen, die ihm hymnische Preisungen gewidmet hatte, vergaßen ihn. Neue Verteidiger erschienen auf der Bildfläche. Christanval galt bald als gescheitert - und war zu reflektiert, um das einfach so hinzunehmen. Er quälte sich mit Was-hätte-sein-können-wenn-Gedanken. Er wechselte nach England zum FC Fulham, spielte dort auch regelmäßig, das Leichte, Mutige und Innovative blitzte aber nur noch selten in seinem Spiel auf.
Immer wieder hatte er Kniebeschwerden oder aus dem Nichts auftauchende Hüftschmerzen. In der Saison 2007/08 brachte er es mit 29 nur zu einem einzigen Einsatz und wurde danach fallen gelassen. Er erhielt Angebote von Klubs, die sich mit dem Ruhm eines ehemaligen Nationalspielers und Megatalents schmücken wollten. Und in seinem Kopf kreisten immer weiter dunkle Gedanken, die ihm an manchen Tagen sogar das Aufstehen aus dem Bett unmöglich machten. Also zog er die Reißleine und beendete mit 30 Jahren seine Karriere. Sieben Jahre, nachdem ihm die Welt zu Füßen gelegen hatte, lag er nun selbst auf dem Boden, unfähig, aus eigener Kraft aufzustehen.
Durch eine Reise zur Rettung
Er ließ alles hinter sich und reiste um die Welt. Er las keine Zeitung, ließ den Laptop daheim. Es war eine Reise, die seine ganz persönliche Katharsis wurde. "Ich wollte mich vom Rest der Welt trennen. Der ganze Druck war verschwunden und es war so wichtig für mich, emotional und physisch wieder auf die Beine zu kommen. Es hatte die Jahre zuvor eine immerzu andauernde Müdigkeit eingesetzt. Ich brauchte diese Zeit, um mich selbst wieder zu erkennen", sagte er SO FOOT .
Er kehrte nie wieder in das Business zurück, das ihn groß gemacht hatte und dann fallen ließ. "Fußball ist ein Geschäft. Es geht um Leistung und finanzielle Werte der Spieler und nicht um ihre Persönlichkeit", sagte er. Heute arbeitet er als Immobilienmakler, hat ein Büro, eine Familie. Das Leben ist langsamer geworden. Nebenbei betreibt er eine Fußballschule für Waisen in Dakar. Der Grund: "Im Senegal geht es den Leuten noch viel schlechter, als es uns in Sarcelles ging, obwohl auch wir es nicht immer leicht hatten."
Action nur noch ganz selten
Er trägt Verantwortung. Für seine Kunden, seine Familie, die Kinder in Dakar. Er wird gebraucht. Und hat längst aufgegeben, immer nach dem höher liegenden Ast zu greifen. Der Traum, den er als Kind hatte, in der NBA mit Michael Jordan zu dunken und das Gefühl zu haben, fliegen zu können, hat er aufgegeben. Denn er musste lernen, dass es im Leben zwei Richtungen gibt.
Manchmal aber nimmt er sich eine Auszeit und sucht den kurzen Nervenkick. Dann springt er aus Flugzeugen und kann tatsächlich für einen Moment fliegen oder stürzt sich in Schlauchbooten Wildwasser-Flüsse hinunter. Dann ist es wieder kurz da, dieses Gefühl, das ihn immer begleitete und dessen plötzliches Ausbleiben die wahre Tragik seiner Karriere darstellt. Dann schließt er die Augen und spürt das Kratzen am Limit wieder. Immer höher, immer weiter, immer schneller.