Marc-André ter Stegen: Der ewig Wartende war seinem großen Ziel nie so nah

Von Justin Kraft
Marc-Andre ter Stegen, Kevin Trapp, Manuel Neuer, DFB, Primera Division, FC Barcelona, Real Madrid, Hansi Flick
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Marc-André ter Stegen vom FC Barcelona ist beim DFB der ewig Wartende. Vor dem Clásico gegen Real Madrid wird über viele Themen gesprochen - aber zu wenig darüber, dass der ehemalige Gladbacher aktuell einer der besten, vielleicht sogar der beste Torwart der Welt ist. Und so könnte aus dem ewig Wartenden bald der werden, der Manuel Neuer endgültig beerbt.

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Marc-André ter Stegen ist derzeit der beste Torwart der Welt. Vor dem Clásico gegen Real Madrid am Donnerstag (21 Uhr) wird zwar viel über die Feldspieler gesprochen. Der Ausfall von Robert Lewandowski, die individuelle Qualität der Königlichen in der Offensive, Barças spielstarkes Mittelfeld - viel zu wenig wird derzeit aber darüber gesprochen, dass ter Stegen sich womöglich in der Form seines Lebens befindet - und gute Karten hat, nach Jahren des geduldigen Wartens Manuel Neuer im Tor des DFB-Teams zu verdrängen.

Dass der ehemalige Gladbacher ein herausragender Torhüter ist, ist nicht neu. Und doch ist sein Standing in Deutschland eher überschaubar. Angesichts der Leistungen, die ter Stegen seit Monaten, eigentlich sogar seit Jahren zeigt, ist das verwunderlich. Meist werden jene Momente mit ihm in Verbindung gebracht, in denen er für die Nationalmannschaft patzte. Es stimmt: Die wenigen Chancen, die sich ihm boten, konnte er zu oft nicht nutzen.

Wenn man ehrlich ist, hätten ihm aber auch tadellose Leistungen keinen Stammplatz eingebracht. Zu dominant und gut war Neuer in der Vergangenheit, zu unumstritten war er selbst dann, als er leistungsmäßig ins Straucheln geriet. Selbst sein durchwachsener und bisweilen schwacher Auftritt bei der Weltmeisterschaft hätte ihm unter Hansi Flick wohl kaum den Platz zwischen den Pfosten gekostet. Die schwere Verletzung aber, die er sich im Skiurlaub zuzog, mischt die Karten neu.

Marc-André ter Stegen: In Deutschland viel zu oft unter dem Radar

"Wir haben uns zu diesem Thema schon öfter geäußert und unsere Reihenfolge ganz klar aufgezeigt", sagte der Bundestrainer am Dienstag bei einem Termin zur EM 2024 in Köln. Ter Stegen war stets an zweiter Stelle im Kader gesetzt, wird nun also höchstwahrscheinlich aufrücken.

Es ist der einzig logische Schritt. Und doch zeigt sich in der Debatte rund um die deutschen Torhüter abermals, dass das Standing des Barcelona-Profis in der Heimat überraschend schlecht ist. Anders lässt sich kaum erklären, dass ernsthaft darüber diskutiert wird, ob Kevin Trapp von Eintracht Frankfurt nicht die bessere Wahl sei.

Auch Trapp ist gewiss ein sehr guter Torhüter, der dem DFB-Team mit seiner Art und Erfahrung hilft. Aber er ist bei allem Respekt nicht auf dem Level, das ter Stegen hat. Trapp hatte den Vorteil, in der Europa League mit Eintracht Frankfurt eine besondere Geschichte geschrieben zu haben, die vor allem hierzulande für viel Aufmerksamkeit sorgte. Ter Stegen aber spielt auf einem Level, das auf der Welt maximal zwei oder drei andere überhaupt erst erreichen können. Allein ein Blick auf die Zahlen zeigt, wie groß die Unterschiede zwischen den beiden sind - und wie einzigartig der Barça-Torwart im internationalen Vergleich ist.

Schon bald könnte Marc-André ter Stegen in der Mitte sitzen.
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Schon bald könnte Marc-André ter Stegen in der Mitte sitzen.

Marc-André ter Stegen: Konkurrenzlos in Deutschland - und auch in Europa?

In Europas Top-Ligen gibt es derzeit keinen Torwart, der bei parierten Schüssen auch nur annähernd an die Quote von ter Stegen herankommt. 88,7 Prozent aller Schüsse auf sein Tor hat der Deutsche pariert. Yehvann Diouf (Reims, 84,4 %), Gerónimo Rulli (Villarreal, 82,1 %), Thibaut Courtois (Real Madrid, 81,4 %) und Frederik Rönnow (Union Berlin, 80,6 %) folgen.

Trapp schafft es nicht mal in die Top 20, steht mit einer Quote von 61,8 Prozent sogar nur auf Platz 101. Zur Einordnung ist es dennoch wichtig, auf Qualitätsunterschiede hinzuweisen. Das betrifft einerseits die spanische Liga, die in den vergangenen Jahren stark abgebaut hat - wie nicht zuletzt das Abschneiden Barcelonas in den europäischen Wettbewerben zeigt. Andererseits wurde Trapp vor allem in der Anfangsphase der Saison von seinen Mitspielern deutlich häufiger im Stich gelassen.

Marc-André ter Stegen im Vergleich mit den Torhütern aus Europas Top-5-Ligen

Spieler (Klub)Abgewehrte Schüsse in Prozent
1. Marc André ter Stegen (FC Barcelona)88,7 %
2. Yehvann Diouf (Reims)84,4 %
3. Gerónimo Rulli (FC Villarreal)82,1 %
4. Thibaut Courtois (Real Madrid)81,4 %
5. Frederik Rönnow (Union Berlin)80,6 %
7. Yann Sommer (Gladbach und FC Bayern)80,0 %
9. Manuel Neuer (FC Bayern)79,5 %
14. Bernd Leno (FC Fulham)78,5 %
21. Gregor Kobel (BVB)76,8 %
30. Alexander Nübel (AS Monaco)75,2 %
41. Alisson (FC Liverpool)73,5 %
79. Emiliano Martínez (Aston Villa)67,0 %
99. Ederson (Manchester City)62,1 %
101. Kevin Trapp (Eintracht Frankfurt)61,8 %

Zu viel Wert sollte diesen Quoten also nicht beigemessen werden. Ein Weltklassetorwart kann dreimal überragend parieren und anschließend dennoch drei Gegentore kassieren, bei denen er chancenlos ist. Sein Wert steht dann bei 50 Prozent. In der Champions League kommt ter Stegen nur auf 54,5 Prozent, obwohl er nicht einmal patzte. Auch Trapp ist auf der Linie also keinesfalls so schlecht, wie es seine Quote in der Bundesliga suggeriert. Aber er ist eben auch nicht so gut wie ter Stegen, der Barça in allen Wettbewerben mehrfach mit überragenden Paraden und gutem Stellungsspiel rettete, ohne dabei Unsicherheiten zu zeigen.

Zumal sich der 30-Jährige vor allem in anderen Bereichen des Torwartspiels noch mal mehr von seiner Konkurrenz abhebt. Ter Stegen war schon immer der einzige Torwart in Deutschland, der zumindest ansatzweise mit dem fußballerischen Niveau von Neuer mithalten konnte. Nur 20,3 % seiner Pässe schlägt er lang, mit 84,3 Prozent hat er eine überragende Passquote. Gerade wenn man bedenkt, wie viel Risiko er mitunter eingeht.

Seine Passrange ist bemerkenswert. Neben den präzisen Kurzpässen weiß er eben auch mit gut gewählten Chip- und Diagonalbällen zu überzeugen. Darüber hinaus kommen starke 62,6 Prozent seiner langen Bälle an. Ter Stegen spielt sogar 0,3 erfolgreiche Pässe pro Partie ins Angriffsdrittel des FC Barcelona.

Marc-Andre ter Stegen, Kevin Trapp, Manuel Neuer, DFB, Primera Division, FC Barcelona, Real Madrid, Hansi Flick
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Marc-André ter Stegen: Der ewig Wartende hat gute Karten auf das Neuer-Erbe

Allein diese Qualität macht ihn zum indiskutablen Neuer-Ersatz. Doch wie geht es dann weiter, wenn Neuer zurückkehrt? Schaut man nur auf die Zahlen, könnte es tatsächlich ein enges Rennen werden. Der mehrfache Welttorhüter liefert immer noch starke Werte im Passspiel, hat eine bessere Passquote (89,1 %) als sein Konkurrent und geht dabei ähnlich viel Risiko.

Der größte Vorteil Neuers dürfte aber sein, dass er wie kaum ein anderer als Libero agieren kann. Bei den Bayern hatte er in seinen Einsätzen vor der WM 1,92 Defensivaktionen pro 90 Minuten außerhalb des Strafraums. Die durchschnittliche Distanz seiner Defensivaktionen liegt bei 17,8 Metern vor dem eigenen Tor.

Marc-André ter Stegen im Vergleich mit Manuel Neuer und Kevin Trapp

Statistik (pro 90 Minuten)Marc-André ter Stegen (22/23)Kevin Trapp (22/23)Manuel Neuer (22/23)Manuel Neuer (19/20)
Abgewehrte Schüsse88,7 %61,8 %79,5 %74,5 %
Gegentore0,351,430,920,94
Passquote84,3 %67,1 %89,1 %88,0 %
Anteil von langen Bällen20,3 %40,0 %16,6 %19,6 %
Erfolgreiche Pässe ins Angriffsdrittel0,300,190,080,15
Defensivaktionen außerhalb der Box0,910,621,923,73
Durchschn. Distanz von Defensivaktionen zum Tor14,4 Meter11,5 Meter17,8 Meter21,7 Meter

Ter Stegen kommt an diese Werte nicht heran, muss aber auch seltener in dieser Form eingreifen. Barcelona spielt in der Liga zwar so wie die Bayern meist mit hohen Ballbesitzwerten, agiert defensiv dabei aber nicht ganz so offen. Die Münchner haben sich vor allem mit Neuer häufig darauf verlassen, dass er entsprechende Situationen notfalls klären kann.

Was die Zahlen zudem nur teilweise zeigen: Neuer ist fehleranfälliger geworden. Mit dem Ball wackelte er in der Vergangenheit häufiger, gegen den Ball hält er seltener die "Unhaltbaren", wie sie in der Fußballwelt gern genannt werden. Hier hat ter Stegen einen sehr klaren Vorsprung. So konstant wie er war zuletzt kein deutscher Torwart - und vermutlich auch keiner auf der Welt. Auch der Vergleich zu Neuers Werten aus der Triple-Saison 2019/20 zeigt, dass der gebürtige Gladbacher sich nicht vor seinem Hauptkonkurrenten verstecken muss. Bleibt die Frage, was ter Stegen noch machen soll, um in Deutschland unumstritten zu sein.

Als der FC Barcelona am vergangenen Wochenende gegen Almeria patzte, bewahrte er sein Team in der Nachspielzeit vor einem weiteren Gegentor. Im Eins-gegen-eins verkürzte er den Winkel erst sehr spät und gab dem Stürmer somit keine Möglichkeit, den Ball auf den mitlaufenden Teamkollegen querzulegen. Erst spät kam ter Stegen explosionsartig aus seinem Tor und parierte. Eine schöne Analogie zu seiner Karriere beim DFB, wo er der ewig Wartende ist.

Gegen Real Madrid muss er im Clásico eigentlich niemandem mehr etwas beweisen. Und doch wird das Spiel abermals eine gute Bühne für ihn sein, um seinem großen Ziel beim DFB näher zu kommen. 2023 könnte sein Jahr werden.

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