Es war ein kurzer Ausflug Richtung Freude - bis die Realität dann doch schneller allgegenwärtig war, als es einem in der Türkei lieb war. Mit 3:1 gewann die türkische Nationalmannschaft letzten Samstag in Lissabon gegen Portugal. Für die Gastgeber war es der letzte Test vor der EURO, für die Türken der erste Gradmesser in der neuen Zeitrechnung "Umbruch".
Ronaldo, Nani, Meireles, Pepe - sie alle standen bei Portugal auf dem Platz und mussten sich dennoch einer türkischen Mannschaft geschlagen haben, die in ihrer Besetzung erstmals so zusammenspielte - und überzeugen konnte.
"Für das Selbstvertrauen war es genau das, was wir benötigt haben", sagte Nationaltrainer Abdullah Avci. Im Grunde war es das erste, große Erfolgserlebnis seit einer gefühlten Ewigkeit für ein Fußball-Land, das überdimensionale Ansprüche hat, aber in Wirklichkeit längst nur noch Mittelmaß ist. Der einstige Top-10-Dauergast der Weltrangliste krebst inzwischen auf Platz 33 herum - umgeben von Serbien, Slowakei und Ungarn.
Wieder kein großes Turnier
Der WM-Dritte 2002 bzw. der EM-Halbfinalist 2008 hat erneut ein großes Turnier verpasst. Dass die Türken jetzt die große Chance haben, in Ruhe den Neuaufbau zu gestalten, sieht Tayfun Korkut im Gespräch mit SPOX aber nicht.
Der gebürtige Stuttgarter ist seit Anfang des Jahres Co-Trainer von Abdullah Avci und soll mit seinem Know-How den Umbruch mitgestalten. "Ein Segen ist es nie, bei einem großen Turnier zu fehlen. In der Türkei gab es in den letzten 10, 15 Jahren erhebliche Schwankungen: Qualifikationen, erfolgreiche Turniere, aber dann auch wieder große Rückschläge. Ziel wird sein, eine Mannschaft aufzubauen, die jung ist, die es aber auch schafft, sich für Turniere zu qualifizieren."
Die ersten Maßnahmen haben gegriffen. Die Mannschaft wurde deutlich verjüngt, spielt wie in Portugal phasenweise ansehnlich und offensiv. Sercan Sararer von Greuther Fürth, Semih Kaya von Galatasaray und der ehemaliger Mainzer Hasan Ali Kaldirim feierten ihr Debüt unter Avci. Ömer Toprak von Bayer Leverkusen avancierte zum neuen Abwehrchef, Hamburgs Gökhan Töre ist auf dem Sprung zum Stammspieler. Weitere junge Spieler sollen folgen.
"Der Trainer will keine Mannschaft ausschließlich für die anstehende WM-Qualifikation aufbauen. Es geht darum, einen jungen Kader aufzubauen, der langfristig Erfolg hat", verrät Korkut.
Nachhaltigkeit heißt das neue Zauberwort in der Türkei. In den letzten Jahren wurden viele neue Ären gestartet, beim ersten Misserfolg aber schnell wieder ad acta gelegt. Guus Hiddink scheiterte in der Türkei kläglich.
"Er wollte einiges antreiben, aber wenn man die Ergebnisse nicht liefert, fallen alle Projekte ins Wasser. Wenn man eine neue Mannschaft aufbauen will, muss man auch Ergebnisse liefern. Dann geht es einfacher", sagt Korkut. Selbiges gilt freilich auch für die neue sportliche Führung.
Lernen von Deutschland
Ihr Vorhaben ist jedenfalls revolutionär. Für Avcis Truppe geht es nicht nur um die Qualifikation für die Turniere, sondern um den Aufbau einer völlig neuen Organisation und Struktur im türkischen Fußball. Helfen soll dabei ein Fußball-Land, das in den letzten Jahren wohl die deutlichste Entwicklung genommen hat und der Türkei als Vorbild dient: Deutschland.
"Deutschland ist nicht nur für die Türkei ein Beispiel", sagt Korkut und erzählt: "Wir müssen die Augen offen halten und sehen, was die Länder machen, die in den letzten Jahren Erfolg hatten. Deutschland gehört dazu, genauso Spanien. Da müssen wir reinschauen und analysieren. Dabei geht es nicht darum, zu kopieren, sondern zu schauen, was wir bei uns umsetzen und optimieren können."
Abgesehen haben es die Türken dabei vor allem auf das deutsche Nachwuchsförderungskonzept. Als eine der ersten Amtshandlungen besuchte das neue Trainerteam samt Tolunay Kafkas, der als Direktor für Entwicklung geholt wurde und nebenbei die U 21 betreut, die Nachwuchszentren von Borussia Dortmund, Bayer Leverkusen und des VfB Stuttgart.
Was passt zur Türkei?
"Es ging darum, sich die Strukturierung anzusehen. Deutschland ist da sehr gut aufgestellt. Es ist nicht zufällig, dass Erfolge da sind. Es geht alles über den Vereinsfußball. Wenn dieser funktioniert, wird auch die Nationalmannschaft davon profitieren", sagt Korkut, der weiß, wovon er spricht. Korkut war selbst U-17-Trainer in Hoffenheim, bis zu seinem Job in der Türkei zudem Chef der U 19 des VfB Stuttgart.
"Die Spieler werden von den Klubs täglich entwickelt. Der DFB profitiert davon und hoffentlich bald auch wir. Der DFB gibt einiges vor und zeigt den Vereinen die Richtung. Es wird versucht, einen Spieler in allen Bereichen auszubilden. Davon sind wir noch ein Stück weit entfernt", gibt Korkut zu.
In der Türkei würden die Dinge mentalitätsbedingt anders funktionieren, sagt Korkut. "Dass wir nicht so wie der DFB arbeiten können, ist klar. Nicht weil wir schlechter sind, sondern weil wir anders funktionieren. Innerhalb unserer Kultur müssen wir einen Weg finden, unseren Fußball nach vorne zu bringen."
Die Voraussetzungen dafür sieht er vorhanden: "Talent und Qualität gibt es in der Türkei. Aber wir müssen Strukturen schaffen, die den Spielern eine gesunde Ausbildung und Entwicklung in ihren Vereinen ermöglicht." Hierbei soll vor allem das Nachwuchsleistungskonzept eine große Rolle spielen.
Treffen mit Löw
Während der Aufbau und die Budgetierung eines Nachwuchsleistungszentrums in Deutschland eine zwingende Vorgabe in der Lizenzierung ist, könnte genau dies in der Türkei, wo die mächtigen Klubs die Politik des Verbands entscheidend beeinflussen, aber zum Problem werden.
Viele Klub-Bosse geben heute noch lieber viel Geld für namhafte und betagte Stars aus, als lieber in den Nachwuchs zu investieren, um bei der verwöhnten Fan-Gefolgschaft Pluspunkte zu sammeln. Noch kann der Verband keine Vorschriften machen, dass die Klubs ein Budget für den Nachwuchs bereitstellen müssen, weil es schlicht noch kein striktes Lizenzierungsverfahren gibt.
Den Versuch wollen die Türken dennoch machen. Korkut: "Zwingen können wir niemanden, aber Überzeugungsarbeit leisten. Man wird sehen, wie es der Verband den Klubs verständlich macht, dass sie letztendlich davon profitieren werden. Einerseits sportlich für ihre Mannschaft, aber auch finanziell."
Ein Beispiel aus der Bundesliga könnte in der Tat zum Umdenken anstiften: "Der VfB Stuttgart hat in den letzten Jahren über 100 Millionen Euro über den Verkauf von in Stuttgart ausgebildeten Spielern eingenommen. Das ist eine unglaubliche Summe. Khedira, Gomez. Leno, Beck, Rudy etc. Wir machen keinen Druck, aber es muss verständlich werden, dass sich die Arbeit lohnt."
Es ist nicht nur das Nachwuchskonzept des deutschen Fußballs, das der Türkei langfristig auf die Beine helfen soll. Auch Joachim Löw, ein erklärter Freund des türkischen Fußballs, steht als Ratgeber parat. Ein Treffen der Nationaltrainer hat es bereits gegeben, bei der Expedition der türkischen Delegation in Deutschland.
"Erst einmal ging es um das gegenseitige Kennenlernen. Die gute Beziehung zwischen beiden Ländern hat ja Tradition. Für uns ist der deutsche Fussball und dessen Entwicklung in den letzten Jahren sehr interessant. Der Kontakt wird immer bestehen", so Korkut, der seit der gemeinsamen Zeit bei Fenerbahce ein sehr gutes Verhältnis zu Joachim Löw pflegt.
Dies gilt auch für DFB-Trainerausbilder Frank Wormuth, der einst mit Löw in der Türkei arbeitete und zu dessen Absolventen beim DFB-Trainer-Lehrgang auch Korkut gehört.
Trainerausbildung a la Wormuth
"Franks Ausbildung in Köln ist weltweit sehr, sehr hoch angesehen. Da ich sie auch selbst miterlebt habe, weiß ich, dass bei der Ausbildung sehr auf Details geachtet wird", sagt Korkut.
Auch von Wormuth holten sich die Türken in Person von Entwicklungschef Kafkas Informationen ein. Inzwischen segnete die UEFA einen Fußball-Lehrer-Lehrgang ab, den die Türkei ins Leben rufen wird.
"Wenn wir eine gute Trainerausbildung haben, werden wir eine gute Spielerausbildung haben. Ich sage nicht, dass die Trainer in der Türkei schlecht ausgebildet werden. Ich glaube aber wir können noch einiges optimieren. Ich bin mir sicher, dass es viele Trainer gibt, die den nächsten Schritt machen wollen. Fußballverrückt sind sie alle", sagt Korkut.
Langfristig könnte damit auch ein jahrelanger Wettkampf zwischen Deutschland und der Türkei um deutsch-türkische Talente eine neue Wendung bekommen, wenn die Türkei mehr auf die eigene Ausbildung setzt und nicht mehr ganz so aggressiv auf die Talente in Deutschland geht. Dies wird aber noch erhebliche Zeit in Anspruch nehmen, zumal man das Poolbecken Deutschland nicht außer Acht lassen will.
25 Scouts beschäftigt der türkische Verband alleine in Deutschland. Sie sollen potenzielle Nationalspieler aller Alterklassen sichten und diese bei Bedarf für die Türkei gewinnen. "Es wäre fahrlässig von uns zu sagen, dass die Jungs hier uns nicht interessieren", gibt Korkut zu. "Es leben in Deutschland mehr als drei Millionen Türken. Und jeder Spieler, der in Frage kommt, kann sich frei entscheiden, für welches Land er auflaufen will."
Knapp 2000 Spieler haben die Türken in einer Datenbank bereits erfasst. "Es gibt keinen Spieler in den höheren Ligen im Jugendbereich, der nicht bei uns registriert ist", sagt Korkut überzeugt. Ist einer dabei, der für die Türkei in Frage kommt, schaltet Europa-Chef Erdal Keser ein und startet den Überzeugungsversuch. "Das ist legitim und läuft ja im Vereinsfussball nicht anders".
Diese soll irgendwann die Türkei zu einem Dauergast bei großen Turnieren werden lassen und Siege in Portugal nicht zum Einzelfall verkommen lassen.
Tayfun Korkut im Steckbrief