Dieser Artikel wurde bereits im November 2009 veröffentlicht.
"Diese hirnverbrannten Betonköpfe!" Rudi Gutendorf wird ernsthaft zornig, sobald die Rede auf das tägliche Blutvergießen im Nahen Osten kommt. Denn noch immer träumt der mittlerweile 83-Jährige von einer letzten Mission: Fußball im Gazastreifen. Mit Palästinensern und Israelis friedlich vereint. Und noch immer ärgern ihn die Widerstände, gegen die er dabei ständig ankämpfen muss.
Schon vor Jahren ließ Gutendorf seine politischen und diplomatischen Beziehungen spielen, um Jassir Arafat persönlich von seiner Idee zu überzeugen. Tatsächlich wurden die ersten Schritte auch bereits geplant. Doch nach dem Tod des PLO-Führers ist das Projekt nach und nach eingeschlafen.
"Leider", seufzt Gutendorf, "nun wird die Sache vermutlich doch an der Sturheit der Politik scheitern. Außer Bomben und Raketen fällt denen ja nichts mehr ein."Es klingt, als hätte der sonst so optimistische Weltenbummler tatsächlich nur noch wenig Hoffnung für diesen Winkel der Erde.
"Buchstäblich zerhackt"
Und das Scheitern seines Plans ärgert ihn umso mehr, als er selbst so leidenschaftlich an die "versöhnende Kraft" des Fußballs glaubt. Immerhin hat er sie erst vor wenigen Jahren am eigenen Leib erfahren.
1999 führte ihn seine rastlose Reise nach Ruanda, wo er auf Einladung des Botschafters die Nationalmannschaft trainieren sollte. Die Erinnerungen an die Gräuel von 1994 waren damals noch deutlich spürbar, das Land war gezeichnet von Bürgerkrieg und dem Völkermord der Hutu an den Tutsi.
Der ganze Wahnsinn dieses Blutbads war noch lange nicht vergessen. Gutendorf beschreibt eine Atmosphäre voll Misstrauen und latenter Aggression: "Man muss wissen, Ruanda ist selbst für afrikanische Verhältnisse noch bitter arm. Die hatten ja noch nicht einmal Schusswaffen und haben sich stattdessen mit Macheten buchstäblich zerhackt. Das waren unfassbare Massaker, die man nicht einfach aus dem Gedächtnis löscht."
Lederbälle waren Mangelware
Und auf diesem Boden sollte eine gemeinsame National-Elf wachsen. Das war Gutendorfs Aufgabe. Seine einzige Ausrüstung: 73 Jahre Lebenserfahrung und das gesammelte Weltwissen aus fünf Kontinenten. Lederbälle waren dagegen Mangelware - von Stollenschuhen ganz zu schweigen.
Und trotzdem: Am 8. April 2000 feierte Ruanda den größten Erfolg seiner Sportgeschichte. Mit der legendären Defensivtaktik, die dem deutschen Trainer schon zu Bundesliga-Zeiten den Spitznamen "Riegel-Rudi" bescherte, erkämpfte sich sein Team ein Unentschieden gegen die mit Stars gespickte Auswahl der Elfenbeinküste.
Hutu und Tutsi lagen sich in den Armen
"Ich wäre fast verrückt geworden vor Freude", strahlt Gutendorf noch heute: "Hutu und Tutsi herzten und küssten sich. Die Väter hatten sich noch gegenseitig die Hälse abgeschnitten und nun lagen sich die Söhne in den Armen - auf dem Feld und auf der Tribüne. Das war vielleicht der schönste Moment meiner Karriere."
Das sagt einer, von dem man annehmen darf, er hätte damals schon alles gesehen. 53 Trainerstationen, verteilt rund um den Globus, hatte Gutendorf zu diesem Zeitpunkt schon auf dem Buckel. "Das ist Weltrekord! Steht sogar im Guiness-Buch", wie er selbst stolz betont.
Einen wahren Anekdoten-Schatz hat der sehr beredte und scharfsinnige Erzähler dabei gesammelt. Viele "wunderbare Augenblicke" waren dabei, aber auch etliche brenzlige Situationen. Vor allem - und das ärgert den Grenzgänger am meisten - ist er dabei immer wieder an die Schranken der Politik gestoßen.
Flucht aus Chile
Im Iran wurde er von den Mullahs aus heiterem Himmel als Ungläubiger verjagt, in China von einem Parteifunktionär abgelöst.
In Chile entging er nur knapp einem Mordanschlag; nach Pinochets Militär-Putsch musste er schließlich fliehen: "Weil ich ein persönlicher Freund von Präsident Allende war, hätten die Milizen nicht lange gefackelt." Zusammen mit dem deutschen Botschafter verließ er mit der letzten Lufthansa-Maschine das Land.Doch immer wieder suchte Gutendorf das Risiko, begab sich aufs Neue freiwillig in Lebensgefahr - und wurde dafür auch noch schlecht bezahlt. Lediglich auf gute Hotels hat er immer bestanden.
"Denn dort, wo ich gearbeitet habe, musst du dich zumindest auf sauberes Trinkwasser verlassen können. Sonst verreckst du als Europäer nämlich ganz einfach." Seine Gagen aber stammten größtenteils aus Entwicklungshilfe-Fonds. Nicht selten bezahlte er Flüge aus der eigenen Tasche.
"Warum ich das gemacht habe?" Gutendorf lacht verschmitzt. "Das ist eine gute Frage! Meine Frau hat mich das auch immer gefragt. Aber ich denke, es war für mich einfache eine Art Mission. In erster Linie wohl eine moralische."
Beileibe kein Moralapostel
Tatsächlich sieht sich der bekennende Katholik in der Nachfolge der christlichen Missionare. Allerdings ohne jede imperiale Attitüde. "Kolonialdenken ist obsolet. Wer den Einheimischen in der Dritten Welt mit Arroganz begegnet, ist hier fehl am Platz und bald entlarvt."
Und auch den frömmelnden Zeigefinger des Moralapostels sucht man bei Gutendorf vergebens. Und ein Klosterschüler ist er schon gar nicht. Im Gegenteil. Vor allem in seinen jungen Jahren war er der Prototyp des Abenteurers, ein Glücksritter und Hasardeur.
"In mir strömen Übermut und Lebensfreude bis zum Wahnwitz; und ich spiele dann mit meinem Leben als hätte ich ein zweites auf der Ersatzbank", schrieb er einst in seine Memoiren, die neben heroischen Taten auf dem Platz auch jede Menge erotische Erfolge aufzählen.
"Glückliche Mädchenaugen"
Gutendorf war nie geziert bescheiden. Er genoss die Heldenverehrung in Nepal, Samoa oder Fidschi, er zeigte sich gerne im Kreise von Staatsmännern und schönen Frauen, er liebte das Leben.
Und das tut er heute noch: "Darauf können Sie Gift nehmen! Ich bin eben eine rheinische Frohnatur. Wenn die schwarze Kiste einmal zuklappt, soll es sich gelohnt haben. Und glückliche Mädchenaugen waren für mich das Schönste, dafür bin ich selbst die größten Risiken gerne eingegangen."
Mittlerweile aber ist Gutendorf fast sesshaft geworden. Nach Ruanda folgten noch zwei kürzere Engagements im Südpazifik. Den Rest der Zeit aber verbrachte er mit seiner australischen Frau und seinem inzwischen 19-jährigen Sohn in Deutschland oder im Winterdomizil in Sydney.
Gutendorfs letzte Trainerstation
Von Rente aber will er auch im Alter von 83 nichts wissen. "Ich würde mir auch ohne Weiteres noch einen Bundesliga-Klub zutrauen", sagt Gutendorf aufgebracht."Ich bin fit. Und bei all der aufgeblasenen Show und dem leeren Geschwätz? Ganz ehrlich: In Sachen Defensive könnten einige von mir noch was lernen. Aber das glaubt einem in meinem Alter ja keiner mehr." Und dann lacht er wieder vergnügt.
Denn stattdessen sitzt er nun bei einer Prominenten-Auswahl regelmäßig auf der Trainerbank. Zusammen mit Wolfgang Overath, Stefan Kuntz, Horst Eckel und Lars Riedel sammelt er dabei Geld für karitative Zwecke.
"Inzwischen haben wir fast 900.000 Euro zu Gunsten krebskranker Kinder zusammen", sagt Gutendorf - nun wieder ganz Missionar: "Und das ist wohl mehr wert als die deutsche Meisterschaft."