SPOX: Herr Viehauser, welche Rolle spielt für Sie als langjähriger Fan der Gesang in der Kurve?
Stefan Viehauser: Das Singen ist das, was mich in die Kurve gezogen hat. Du kannst deine Schals und Trikots haben, aber ein Gemeinschaftsgefühl entsteht erst durchs Singen. Als ich das erste Mal bei Bayern war, saß ich beim Derby gegen 1860 auf der Gegengerade und habe vom Spiel nichts mitbekommen, weil ich nur auf die Kurve geschaut und versucht habe, die Lieder zu verstehen. Ein paar Wochen später war ich das erste Mal in der Kurve und so gefesselt, dass ich die Lieder in der folgenden Nacht im Schlaf weitergesungen habe.
SPOX: Welches Lied hat Sie besonders gepackt?
Viehauser: "Heißer Sand", das war damals der absolute Gassenhauer in der Kurve.
SPOX: Und heute?
Viehauser: "Ich geb' mein Herz für dich", weil es bei mir immer Erinnerungen an das UEFA-Supercup-Finale 2013 in Prag hervorruft. Das war der beste Support, den ich in meiner Zeit als Bayern-Fan erlebt habe und das Paradebeispiel dafür, wie Gesang Einfluss auf ein Spiel nehmen kann. Man geht ja deshalb in die Kurve und fährt hunderte Kilometer, weil man sich als Fan einbildet, dass man Einfluss aufs Spiel hat. In 99,9 Prozent der Fälle ist es aber völlig egal, ob du da bist und singst oder nicht. Aber dieses Spiel hat Bayern auch wegen uns gewonnen. Wir haben 90 Minuten lang durchgängig gebrüllt und das hat Chelsea fertig gemacht.
SPOX: Inwiefern hat sich die gesangliche Unterstützung in Ihrer Zeit als Bayern-Fan gewandelt?
Viehauser: Durch das Aufkommen der Ultras hat sie sich völlig verändert. Als ich vor 21 Jahren erstmals in der Kurve stand gab es keinen organisierten Support. Es gab einige Leute, die vom Typ her so waren, dass sie angefangen haben zu schreien und der Rest hat halt mitgemacht. Jetzt gibt es Capos, die als Vorsänger vorgeben, was gesungen wird.
SPOX: Vermissen Sie das Spontane?
Viehauser: Nein. Den klassischen Support habe ich, wenn ich zu den Amateuren gehe, wo es größtenteils noch so ist wie früher - auch weil die Gruppe kleiner ist. Da gibt es keinen Capo, da kann jeder losschreien und die anderen stimmen mit ein.
SPOX: Würde dieser spontane Support bei Spielen der Profis überhaupt noch funktionieren?
Viehauser: Ohne Capo geht in der Kurve kaum noch etwas, weil die Jüngeren dieses spontane Anfeuern gar nicht kennen. Meine Generation und ich mussten uns einst auch erst daran gewöhnen, dass da jetzt plötzlich einer dasteht, der alles vorgibt und auf den alle hören sollen. Die Ultra-Bewegung kam um die Jahrtausendwende wie eine Welle auf und hat allen anderen Support weggeschwemmt. Aber das ist in Ordnung und muss so sein. Jede Generation hat ihren eigenen Stil.
SPOX: Gab es anfangs Konflikte zwischen den Alteingesessenen und den Neuankömmlingen?
Viehauser: Anfangs war es wie ein Kleinkrieg, wir haben uns gegenseitig versucht zu überstimmen. Es gab bestimmte Lieder, an denen sich der Disput immer entzündet hat. "Auf gehts FCB lalalalalalalalala" auf die Lambada-Melodie war für uns Älteren das absolute Hass-Lied, weil es der erste klassische Dauergesang war. Damit konnten wir nichts anfangen. Umgekehrt war es unsere Umdichtung von einem Lied der Sportfreunde Stiller. Das haben die Ultras gehasst, weil es von einer Kommerz-Fußball-Band stammt. Wenn eines dieser beiden Lieder angestimmt wurde, war der gemeinsame Support für den Rest des Spiels gestorben. Es gab zwei konträre Ansichten, wie Support zu laufen hat.
SPOX: Wann hat sich das eingependelt?
Viehauser: Der persönliche Kontakt war ja immer da, nur beim Stil war man sich nicht einig. Bei einem UEFA-Cup-Spiel in der Saison 2007/08 haben wir Älteren in der Halbzeitpause als eine Art spontane Satire auf die Ultras "Alle meine Entchen" mit Trommeln auf die Melodie von "We will rock you" durchgesungen. Das fanden sie kurioserweise ganz witzig und wir hatten überraschenderweise auch Spaß daran. Und so haben sich beide Seiten angenähert. Über die Jahre hinweg ist bei uns eine Mischung aus diesen beiden Support-Arten entstanden, was in Deutschland recht einmalig ist.
SPOX: Wird schon vor Spielen beschlossen, wann was gesungen wird?
Viehauser: Es gibt keine Setlist wie bei einer Band, dafür aber Lieder, die in bestimmten Situationen angestimmt werden. Bei einem Tor singen wir immer das gleiche Lied, wobei wir zuletzt beschlossen haben, das künftig nur mehr nach den ersten beiden Toren eines Spiels zu machen. Wir gewinnen unsere Spiele momentan ja meistens höher und dann wird das langweilig.
SPOX: Wer entscheidet, was gesungen wird?
Viehauser: Das besprechen die Capos mit den Trommlern und dem Führungszirkel der Kurve. Um sich zu verständigen gibt es auch Handzeichen für bestimmte Lieder. Ein Klopfen auf die Brust bedeutet zum Beispiel "Ich geb' mein Herz für dich". Mit der Kurve kommunizieren unsere Capos anders als in fast allen großen Kurven nicht über eine eigene Anlage, sondern lediglich per Megaphon - früher war aber nicht einmal das erlaubt.
SPOX: Warum?
Viehauser: Die bayerische Polizei hatte Bedenken, dass wir über das Megaphon zu Gewalt aufrufen könnten.
SPOX: Wie entstehen eigentlich neue Lieder?
Viehauser: Wir schreiben gezielt keine Lieder, die meisten entstehen spontan bei Auswärtsfahrten im Bus oder Zug. Da läuft immer irgendeine CD und dann fabuliert jemand im Suff einen neuen Text darauf. Wenn es den anderen gefällt, wird der Text danach perfektioniert.
SPOX: Wie wird er dann in der Kurve etabliert?
Viehauser: Ein neues Lied wird erstmal auf Fahrten getestet und wenn sich alle einig sind, dass es ein Lied für die Massen ist, meistens bei einem Auswärtsspiel erstmals angestimmt - und dann wird geschaut, ob es funktioniert. Es muss die Leute im Stadion von der ersten Sekunde an mitreißen, ansonsten hat es keine Chance.
SPOX: Gibt es Lieder, die spontan im Stadion entstanden sind?
Viehauser: Da fällt mir von den neueren nur eines ein, das war bei einem Spiel gegen Werder Bremen. Die hatten sich damals gerade aus dem Abstiegsstrudel befreit und ein Spruchband mit "Wieder alles im Griff auf dem sinkenden Schiff" hochgehalten. Das ist eine Textzeile aus einem Schlager von Jürgen Drews, was wir lächerlich fanden. Um die Bremer zu verarschen, haben wir dieses Lied gesungen und das hat allen so gut gefallen, dass wir bei der nächsten Auswärtsfahrt unseren eigenen Text auf diese Melodie gedichtet haben: "Ob wir gewinnen oder verlieren".
SPOX: Kommen bestimmte Lieder nach einer Zeit auch aus der Mode?
Viehauser: Es haben viele Lieder an sich, dass sie erst völlig gehypt werden, dann oft jahrelang verschwinden und leicht verändert irgendwann wieder auftauchen. Bestes Beispiel dafür ist: "Ein Schuss, ein Tor, die Bayern, DIE BAYERN!" Das Lied ist ursprünglich aus den 1970ern und irgendwann Ende der 90er verschwunden. Vor ein paar Jahren haben wir es bei den Amateuren wieder einmal angestimmt und irgendjemand hat nach dem Text dieses markante "DIE BAYERN!" gerufen, was es vorher nicht gab. Alle dachten sich: Geil! Und dann ist es auch zu den Profis geschwappt.
SPOX: Interessant ist, dass es in der Kurve des FC Bayern kaum Lieder im Dialekt gibt.
Viehauser: Das Lied "In Schwabing früh am Morgen" hat sich nie richtig in der Masse durchgesetzt, weil es schon bei der Liedzeile "fall' ich aus der Boazn raus" schwierig wird. Bei uns in der Kurve reisen ja viele von sonstwoher an, können kein Bayrisch und wissen nicht, was eine "Boazn" ist. Im Olympiastadion wurde früher ab und an vor den Spielen die bayerische Hymne eingespielt, aber da hat keiner mitgemacht - dafür haben die Leute in der Halbzeitpause die Werbung mitgegrölt.
SPOX: Die Werbung?
Viehauser: Ja, weil das in ihrer Einfachheit unfassbar geile Lieder waren. Eines werde ich niemals vergessen: "Medizinisches Fachhaus von Schlieben - München, Sonnenstraße 7!" Das war genial, wenn da die Leute in der Kurve mitgesungen haben.